Antisemitismus und Antizionismus: Tritt Amerika in die Fussstapfen Europas?

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Die Kongressabgeordnete Rashida Tlaib an einer Kundgebung in Dearborn USA am 16. Mai 2021. Foto IMAGO / ZUMA Wire
Die Kongressabgeordnete Rashida Tlaib an einer Kundgebung in Dearborn USA am 16. Mai 2021. Foto IMAGO / ZUMA Wire
Lesezeit: 5 Minuten

Ich habe ein Déjà vu! Während der jüngsten Israel-Hamas- Auseinandersetzung wurden meine Twitter- und Instagram-Feeds mit Botschaften von Hollywood-Stars, amerikanischen Supermodels, Influencern und linksgerichteten demokratischen US- Abgeordneten geflutet, die Israel auf das Schärfste verurteilten und dabei oft Begriffe wie «Rassismus», «Polizeigewalt» oder «Apartheid» verwendeten.

von Simone Rodan Benzaquen

Hier in Europa habe ich diese Formulierungen schon einmal gesehen. Sie hinderten die Menschen nicht nur daran, die Komplexität eines jahrhundertealten Konflikts zu begreifen, sondern lieferten den Europäern ein scheinbar perfektes Mittel zur kollektiven Gruppentherapie. Im Handumdrehen konnte Europa – mit seinem Vermächtnis des Holocausts und des Kolonialismus – die Sünden seiner Vergangenheit abbüssen, indem es sich endlich auf die Seite der «Opfer» und der «Kolonisierten» stellte. Wie Josef Joffe vor Jahren sarkastisch schrieb: «Wenn Israelis unschuldige palästinensische Kinder umbringen, sind wir dann nicht alle kollektiv weniger schuldig?»

Dieses Narrativ des israelisch-palästinensischen Konflikts wurde während der Durban I Konferenz im September 2001 sichtbar. Anstatt sich auf das hehre Ziel zu konzentrieren, den Rassismus zu bekämpfen, nahm die Versammlung Israel als rassistischen Apartheidstaat ins Visier. Wie Vladimir Jankélévitch einmal schrieb: «Der Antizionismus ist zu dem wundersamen Fund geworden, dem günstigen Glücksfall, der es heterogenen Gruppen erlaubt, die Juden mit gutem Gewissen zu hassen.» Nach Durban wurden die Juden nicht mehr im Namen des Rassismus, sondern im Namen des Antirassismus gehasst.

In Europa hat diese diffuse Ideologie konkrete, katastrophale Folgen für Juden gehabt. Schon in den frühen 2000er Jahren wies meine Organisation, das American Jewish Committee, darauf hin, dass die Gefahr im Gegensatz zu früher nicht allein von den Rechtsextremen ausging. Es war ein vielschichtiger Antisemitismus. Vor allem die Linke, mit einer Geschichte des Antisemitismus, die bis zu Bruno Bauer und später den Stalinisten zurückreicht, die den Zionismus mit Kapitalismus und Imperialismus gleichgesetzt hatten, fiel dem zum Opfer, was der britische Akademiker David Hirsh eine «Lagermentalität» nennt, in der die Menschen eher eine Politik der Haltung als eine Politik der Vernunft betreiben.

Der Zionismus wurde zum Bösen, das es zu bekämpfen galt, und die Palästinenser zum Aussenseiter, den es zu schützen galt, selbst wenn das bedeutete, die Hamas oder die Hisbollah zu unterstützen. Die Linke gab Islamisten und jungen europäischen Muslimen, die ihre Identitätskrise, die mit der europäischen Kolonialgeschichte und ihrem oft tief verwurzelten Antisemitismus zusammenhängt, auf die palästinensische Sache projizierten, einen Freifahrtschein, um Juden und Synagogen zu attackieren. Als ein Terrorist mit den Worten «Ich räche palästinensische Kinder» drei jüdische Schulkinder und einen Vater in Toulouse, Frankreich, tötete, waren viele von uns nicht überrascht.

Viele Jahre lang schienen die USA für die meisten europäischen Juden ein sicherer Hafen zu sein. Keines der oben beschriebenen Phänomene schien die amerikanische Gesellschaft zu betreffen. Aber in den letzten Jahren hat sich das dramatisch geändert. Es gibt nicht nur eine ernsthafte Bedrohung, die von der identitären extremen Rechten ausgeht, wie die Morde in Pittsburgh und Poway zeigen, sondern es gab auch einzelne Angriffe von Afroamerikanern, wie in Monsey und Jersey City. Und wie in Europa hat sich die extreme Linke dem Angriff auf jüdisches Leben und Israel angeschlossen.

Diejenigen, die als «Woke» bekannt geworden sind, die Theorien vertreten, die einst als Randgruppen bezeichnet wurden – wie Postmodernismus, Postkolonialismus, Identitätspolitik, Neomarxismus, kritische Gerechtigkeits- und Rassentheorie und Intersektionalität – haben begonnen, Israel, den Zionismus und Juden ins Visier zu nehmen.

Schon vor dem jüngsten Konflikt hatten Journalisten wie Bari Weiss die Alarmglocken geläutet – nicht nur wegen der kritischen Rassentheorie selbst und dem Schaden, den sie dem amerikanischen Liberalismus zufügt, sondern auch wegen der besonders verheerenden Folgen, die sie für Juden hat.

In der Tat untergraben in dieser vereinfachten Sichtweise mit einem extremen Fokus auf Identität – wo die Welt in Schwarz und Weiss, Unterdrücker und Unterdrückte aufgeteilt ist – die Juden, die im Grunde eine fliessende Identität haben, diese puristische Vision. Juden sind bequemerweise als «weiss» abgestempelt worden, und wie wir in den letzten Wochen gesehen haben, wurden Israel und der Zionismus als «Kolonialismus» und «Rassismus» abqualifiziert, während die Palästinenser zu «braun», «schwarz» und «unterdrückt» wurden. Die Hamas – eine islamistische, antisemitische, homophobe, frauenfeindliche Terrororganisation, die auf unschuldige Zivilisten zielt – wird dabei einfach ignoriert.

Im aktuellen amerikanischen kulturellen und sozialen Kontext, wo die Woke-Ideologie Teile der progressiven Jugend und einen Grossteil der Mainstream-Medien verführt hat, geht diese Weltsicht viral. Wenn das Supermodel Bella Hadid mit ihren 42 Millionen Followern in ihrer Instagram-Story stolz verkündet: «Palästina wird frei sein, vom Fluss bis zum Meer», geht diese radikale und gefährliche Ansicht innerhalb weniger Minuten viral und «Mainstream». Wen kümmert es, ob das, was sie sagt, ein expliziter Aufruf zur Vernichtung des Staates Israel ist? Es sieht cool und hip aus, und es bietet die perfekte «Camp» Mentalität für ihr Publikum, das glaubt, es tue etwas moralisch Überlegenes, indem es «liked» und «teilt».

All dies hat Konsequenzen. Es ist an der Zeit, sich an Alexis de Tocquevilles Warnung vor der Tyrannei der Mehrheit zu erinnern, da die Reichweite der sozialen Medien die «Wahrheit» nun auf die Seite mit den scheinbar höheren Klickzahlen stellt. Es hat Konsequenzen für die gemässigten liberalen Stimmen, die so viel Angst davor haben, «gecancelt» zu werden, dass sie oft ihre Pro-Israel-Haltung verbergen. Und vor allem hat es, wie in Europa geschehen, ernste Konsequenzen für Juden. Juden werden nicht nur in London, Berlin und Brüssel angegriffen, sondern jetzt auch in Los Angeles und New York von sogenannten pro-palästinensischen Aktivisten.

Von Europa aus betrachtet kommt mir das alles schmerzlich bekannt vor. Wie ich schon vor mehr als einem Jahr schrieb, kann Europa ein abschreckendes Beispiel für die Vereinigten Staaten sein. Hoffen wir nur, dass genug mutige Menschen bereit sind, zuzuhören und ihre Stimme zu erheben.

Simone Rodan Benzaquen ist die Geschäftsführerin des American Jewish Committee (AJC) Europe. Auf Englisch zuerst erschienen bei Jewish News Syndicate. Übersetzung Audiatur-Online.

1 Kommentar

  1. Nicht nur gemäßigte Liberale werden gecancelt auch Pro israelische Sozialistinnen wie ich. Der Hass der mir entgegengebracht wird, ist massiv. Auch wenn ich den likud nicht mag und es für völlig inakzeptabel halte, mit FPÖ oder der AFD im Gespräch zu sein. So halte ich die Hamas und den islamischen Staat für noch schlimmer. Ich möchte daher werben, die Lager hinter sich zu lassen und sowohl AFD, FPÖ wie Hamas und Dschihadisten gleichermaßen zu verurteilen. Denn mir ist es egal, wer mich erschießt- ein säkularer oder religiöser faschist.

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