Alltag im Süden von Israel: «Wenn eine Rakete in Sderot einschlägt, hören und fühlen wir es»

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Direkteinschlag in der Stadt Aschkelon im Süden Israels während eines massiven Raketenangriffs aus dem Gaza-Streifen. Aschkelon, 16. Mai 2021. Foto Daniel Tzur Gilo/TPS
Direkteinschlag in der Stadt Aschkelon im Süden Israels während eines massiven Raketenangriffs aus dem Gaza-Streifen. Aschkelon, 16. Mai 2021. Foto Daniel Tzur Gilo/TPS
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Viel wurde in den letzten Tagen geschrieben und gesendet über das Elend der Palästinenser in Gaza, die eigentlich primär unter dem Terrorregime der Hamas leiden. In jedem Internetportal wurde darüber gestritten, welche Seite der beiden Konfliktparteien angefangen hat und was eine “verhältnismässige” Antwort auf die Raketen der Hamas wäre. Stars wie Gigi Hadid und Trevor Noah, sowie Politiker wie die amerikanische Kongressabgeordnete Alexandria Ocasio-Cortez, beschuldigten Israel der schlimmsten Verbrechen. Wie es aber den Menschen in Israel, die mit dem Konflikt und den tagtäglichen Raketenalarmen und dem Beschuss leben müssen, wirklich geht, interessierte nicht arg viele. Wir konnten darüber mit einigen Menschen aus Israel sprechen. Die Gespräche wurden am 20. Mai 2021, also noch vor der Waffenruhe, per Telefon geführt.

Audiatur-Online: Wie viel haben Sie von den Aufständen und den Raketen der Hamas in Ihrem Wohnort mitbekommen und wie geht es Ihnen und Ihrer Familie?

Meshi Fendel aus Sderot:

Wir befinden uns seit über 20 Jahren im Visier der verschiedenen Terrororganisationen. Zu Beginn gab es noch kein Frühwarnsystem, aber die israelische Technologie hat es möglich gemacht, uns 15 Sekunden zu geben, um einen Schutzraum aufzusuchen. Bis vor ungefähr 6 Jahren gab es nicht in jedem Haus einen geschützten Raum und auch in der Stadt Sderot gab es nicht viele Luftschutzbunker. Anstatt Mittel für Parks, Bildung und andere zivile Zwecke zu kanalisieren, sah sich die Regierung dazu gezwungen, Luftschutzbunker in der gesamten Stadt, sowie in Häusern und Wohnungen zu errichten.

Jedes Mal, wenn eine Rakete in Sderot einschlägt, hören und fühlen wir es, auch wenn sie vom Raketenabwehrsystem Iron Dome abgefangen wird.

Die Explosionen sind sehr stark und die Granat-Splitter, die vom Himmel fallen, sind oft immer noch recht gross und darum gefährlich. Bevor wir in unser jetziges Haus gezogen sind, schlug eine Rakete auf das Gerüst eines neu errichteten Gebäudes ein. Erst gestern fiel eine Rakete auf die andere Seite der Strasse, was unser Haus zum Beben brachte. Wir vertrauen auf Gott und wissen, dass er uns beschützten wird, aber dennoch ist diese Art zu leben alles andere als normal und nicht akzeptabel – derartiges kann nicht toleriert werden.

Adele Raemer aus Nirim:

Die Ortschaft, in der ich lebe, liegt direkt an der Grenze zu Gaza. Demzufolge haben wir, abgesehen von dem was in den Zeitungen und im Fernsehen berichtet wird, nichts von den Aufständen mitbekommen, aber sehr wohl von dem konstanten Raketenbeschuss, der aus Gaza kommt. Jeden Tag renne ich von meinem Haus zum Schutzraum.

Angela Garcia-Zimmermann aus Nitzan:

Ich wohne in einem kleinen Dorf zwischen Ashkelon und Ashdod. Die Bevölkerung ist 100% jüdisch, deshalb bin ich persönlich von den Aufständen nicht betroffen. Die Raketen der Hamas habe ich mit zweimaligem Alarm letzte Woche miterlebt. Seitdem ist kein Tag und keine Nacht ohne mehrere Raketenalarme vergangen. Bedingt durch die Lage meines Wohnortes und meiner Wohnung höre ich auch den Raketenalarm und die Explosionen aus der Umgebung, wie Ashkelon oder Ashdod.

Ich lebe allein. Meine Söhne wohnen zurzeit in Deutschland. Mir geht es den Umständen entsprechend gut.

Wie schätzen Sie die derzeitige Situation ein? Wird sie, Ihrer Meinung nach, ein baldiges Ende finden?

Meshi Fendel:

Ich hoffe, dass die Situation erst ein Ende findet, wenn die Hamas erkennt, dass sie (technisch und ideologisch) keine Raketen auf israelische Bürger mehr abfeuern kann. Es gibt keine Entschuldigung für eine benachbarte Stadt, tödliche Waffen auf unschuldige Menschen abzufeuern.

Adele Raemer:

Die Situation wird, wie eigentlich immer, irgendwann mit einem Waffenstillstand beendet werden. Es sollte jedoch endlich eine andere und vor allem langfristigere Lösung gefunden werden, um die israelischen Bürger zu schützen und auch den Menschen in Gaza ein Leben in Frieden und Wohlstand zu ermöglichen. Dies ist allerdings nahezu unmöglich, wenn man unter einer Terrororganisation, wie der Hamas, leben muss.

In Bezug auf die Aufstände im Land bin ich sehr beunruhigt, da dies eine andere politische Dimension betrifft und anders gelöst werden muss, als der Konflikt mit Gaza. Da wir gerade keine stabile Regierung haben, ist es schwierig die Dinge anzupacken. Es bleibt zu hoffen, dass die Regierungsbildung nicht mehr all zu viel Zeit benötigt und dass anschliessend eine Lösungsstrategie entwickelt wird, um das Land wieder zu befrieden.

Angela Garcia-Zimmermann:

Es wird wohl in den nächsten Tagen zu einem Waffenstillstand kommen – bis zum nächsten Mal. Ich wohne seit über 20 Jahren im Süden von Israel und habe alle Auseinandersetzungen mit der Hamas von Beginn an miterlebt. Hoffnung auf eine friedliche Lösung habe ich nicht.

Wie involviert sind Sie in den Konflikt? Sind von Ihnen Familienmitglieder bei den israelischen Verteidigungsstreitkräften (IDF)?

Meshi Fendel:

Ich habe drei Söhne und einen Schwiegersohn, die alle IDF-Soldaten sind. Sie sind derzeit Reservisten. Einer meiner Söhne wurde gerade in den Norden Israels berufen, wo er derzeit seinen Dienst ableistet.

Mein Mann leitet eine Einrichtung, in der jedes Jahr Hunderte von Soldaten im aktiven Kampfdienst sind. Diese Soldaten lernen Torah und Talmud und dienen gleichzeitig in der Armee.

Adele Raemer:

Zurzeit dient keines meiner Familienmitglieder in der IDF. In solch einer Situation fühle ich mich jedoch in der Verantwortung und möchte etwas tun. Deswegen habe ich mich nicht den 70% angeschlossen, die aus unserer Stadt evakuiert wurden. Ich bin geblieben um über die derzeitige Situation zu berichten und z.B. TikTok Videos zu erstellen, um den Menschen u.a. zu zeigen, wie 15 Sekunden, die man hat um zu einem Schutzraum zu eilen, wirklich aussehen. Zusätzlich habe ich eine Facebook Seite mit dem Namen “Life on the border with Gaza – things people may not know (but should)” ins Leben gerufen. Dort reden wir über die derzeitige Situation und beantworten Fragen.

Angela Garcia-Zimmermann:

Ich bin nicht involviert. Meine Söhne haben Ihren Armeedienst hinter sich gebracht. Ich habe aber natürlich Freunde und Bekannte, deren Kinder zurzeit in der Armee sind.

Wie hat sich ihr Alltag durch das derzeitige Geschehen verändert?

Meshi Fendel:

Es herrscht grosse Anspannung. Die Kinder sind von der Schule befreit und alle meine Aktivitäten am Nachmittag wurden abgesagt. Auf der Arbeit sind nur wenige Angestellte erschienen, daher können wir nicht effizient arbeiten.

Ich kann natürlich nachts nicht schlafen wegen den vielen Raketenwarnungen und wir spüren jedes Mal, wenn die IDF Gaza unter Beschuss nimmt, da unser Haus durch die hörbar lauten Explosionen erzittert.

Adele Raemer:

Ich habe den letzten zwei Tagen nicht einmal mein Haus verlassen. Normalerweise gehe ich morgens immer spazieren oder mache Yoga. Das eine ist derzeit zu gefährlich und für das Yoga fehlt mir die Konzentration, da ich ständig angespannt bin durch die Sirenen oder den Beschuss.

Einige Strassen sind gesperrt und erst heute Morgen erreichte uns die Nachricht, dass wir zu Hause bleiben müssen, da eine Rakete gelandet, aber nicht detoniert ist, weswegen die Armee die Rakete nun entschärfen muss. Die Gefahr ist überall.

Angela Garcia-Zimmermann:

Mein Alltag hat sich komplett geändert. Die Raketen der Hamas bestimmen mein Leben. Das klingt vielleicht trivial, aber sogar duschen, oder zur Toilette gehen ist davon beeinflusst. Ich habe in meiner Wohnung in der 1. Etage keinen Sicherheitsraum. Bei jedem Raketenalarm begebe ich mich in den Raum, der laut Home Front Command, der sicherste ist und warte darauf, dass es knallt (ich hoffe natürlich immer auf die Zerstörung der Raketen durch den Iron Dome) und der Angriff vorüber ist.

Ich bin Anwältin und arbeite von Zuhause aus. In der jetzigen Situation ist das sehr gut, denn die Wohnung verlasse ich nur, wenn es unbedingt nötig ist. Allerdings fällt es mir schwer mich zu konzentrieren und auszublenden, dass es jeden Augenblick wieder einen Raketenalarm geben kann. Termine mit Mandanten habe ich bis auf Weiteres abgesagt.

Ich treibe normalerweise jeden Tag Sport (Fahrradfahren/ Walking). Das mache ich derzeit jedoch nicht mehr. Das Risiko, dass gerade ein Raktetenalarm losgeht, wenn ich unterwegs bin, ist mir zu gross. Wenn man draussen zu Fuss oder mit dem Auto unterwegs ist, ist ein Raketenangriff wirklich sehr beängstigend, insbesondere dann, wenn man keinen geschützten Bereich findet und sich flach auf den Boden legen muss, während es über einem knallt. Diese Situation habe ich leider schon einige Male miterlebt. Man kann ja nicht komplett zu Hause bleiben. Ausserdem gab und gibt es immer wieder Situationen, in denen man einfach von einem Raketenangriff überrascht wird.

Fühlen Sie sich sicher und durch die IDF geschützt?

Meshi Fendel:

Wenn die IDF handelt, fühle ich mich durchaus geschützt. Es gab zu viele Jahre, in denen Sderot ins Visier genommen wurde und wir wurden ignoriert. Wir sind sehr stolz und unterstützen die IDF in ihrer aktuellen Mission voll und ganz. Wir hoffen, dass sie diesmal die Arbeit beenden und der Hamas verständlich machen wird, dass es niemals in Ordnung ist, Raketen abzufeuern oder andere terroristische Aktivitäten gegen Israel zu planen.

Israels Unabhängigkeitskrieg ist noch nicht vorüber. Er begann im Jahr 1948 und wurde in den Jahren 1956, 1967, 1973, 1982, bis heute weitergeführt.

Keiner der Nachbarn Israels hat das Gefühl, dass der Jüdische Staat ein Existenzrecht hat und da der Iran all diesen Terror finanziert, sind wir immer noch in einen Existenzkrieg verwickelt.

Adele Raemer:

Die IDF macht einen sehr guten Job, ich fühle mich durch ihren Einsatz, soweit es möglich ist, gut geschützt.

Angela Garcia-Zimmermann:

Die Frage, ob ich mich sicher fühle, ist relativ. Während eines Raketenangriffs bin ich natürlich davon abhängig, dass der Iron Dome funktioniert. Ich verlasse mich darauf, dass die IDF alles unternimmt, um uns zu schützen. Allerdings kann das System Ausfälle haben. Deshalb ist es erforderlich, dass wir uns als Zivilisten an die Anordnungen der Armee halten.

Frau Fendel, Frau Raemer und Frau Garcia-Zimmermann, vielen Dank für das Gespräch und alles Gute!