Israel wird attackiert – Wo ist eigentlich Joe Biden?

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Paula Slier in Jerusalem. Foto @Audiatur-Online
Paula Slier in Jerusalem. Foto @Audiatur-Online
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Tel Aviv ist gespenstisch leer. Alle diskutieren nur noch darüber, ob es in den nächsten Stunden einen regelrechten Krieg geben wird. Wer kann, flüchtet in den Norden des Landes, um sich in Sicherheit zu bringen. In der Nacht zum Dienstag haben sich die Einwohner in Luftschutzbunkern verschanzt, nachdem ein Raketenhagel auf die Stadt niederging. Zu den neueren Wohnungen gehört auch ein Raum, der als Luftschutzraum dient. Aber selbst durch die Eisentür meines Bunkers waren die Sirenen, die um drei Uhr morgens kreischten, ohrenbetäubend. Es folgte eine Pause und dann massive Explosionen, als Israels Raketenabwehrsystem, die Eiserne Kuppel, die eintreffenden Raketen abfing.

Zwischen 80 und 90 Prozent der Raketen der Hamas wurden erfolgreich abgefangen. Die wenigen, die bisher durchkamen, hinterliessen deutliche Spuren und töteten unter anderem eine Rentnerin, die zu alt war, um in einen Schutzraum zu flüchten, und ihre indische Helferin (Stand vom 11. Mai 2021, Anm. d.Red). Sie starben in ihrem Haus.

Eine halbe Stunde, nachdem eine Rakete einen leeren Bus in Holon, ausserhalb von Tel Aviv, getroffen hatte, traf ich auf einen chaotischen Tatort. Eine Hauptdurchgangsstrasse war von Polizisten und Feuerwehrleuten abgesperrt worden, die in ihre Handys schrien und sich gegenseitig anbrüllten. Überall lagen Trümmer herum und die Glasscheiben der nahe gelegenen Geschäfte waren völlig zersplittert. Vier Menschen werden im Krankenhaus behandelt, darunter ein fünfjähriges Mädchen.

Dies ist die schlimmste Gewalt, die Israel seit vier Jahren gesehen hat, und Premierminister Benjamin Netanjahu beharrt darauf, dass er den Demonstranten nicht nachgeben wird und dass die Hamas einen «hohen Preis» zahlen wird.

Die Machthaber im Gazastreifen haben die Palästinenser dazu gedrängt, auf die Strasse zu gehen und Israel zu Unrecht beschuldigt, den Status quo der Al-Aqsa-Moschee verändern zu wollen. Die Tatsache, dass dies während des muslimischen Fastenmonats Ramadan geschieht, einer Zeit erhöhter religiöser Empfindlichkeiten, hat die Spannungen noch verschärft. Die jüngste Ankündigung des palästinensischen Präsidenten Mahmoud Abbas, die palästinensischen Wahlen – die ersten seit 15 Jahren – auf unbestimmte Zeit zu verschieben, hat ebenfalls nicht geholfen.

Abbas beschuldigte Israel, den Arabern in Ost-Jerusalem die Teilnahme an den Wahlen zu verweigern. Eine für Montag vorgesehene Entscheidung des Obersten Gerichtshofs über die Zwangsräumung von etwa 70 Palästinensern aus dem umstrittenen Ost-Jerusalemer Stadtteil Sheikh Jarrah, von dem Juden behaupten, er habe ihnen vor 1967 gehört, wurde verschoben, um die Situation zu entschärfen. Aber das hat die Frustration nicht gemindert.

Bus in Flammen in Holon nach Hamas-Raketenangriffen.

Seit letztem Freitag ist die Lage chaotisch. In mehreren Nächten hintereinander sind Kämpfe vor dem Gelände der Al-Aqsa-Moschee in Jerusalem ausgebrochen. Das Muster war immer das gleiche. Muslimische Gläubige dringen durch das Damaskustor in die Altstadt ein, während draussen israelische Polizei und Armee in Stellung gehen. Es gibt sogar einen Bereich, in dem Journalisten sich aufhalten. Nach den Gebeten fängt eine Gruppe Jugendlicher unweigerlich an, Wasserflaschen, Steine und Glas auf die Polizisten zu werfen, die nach einer Weile darauf reagieren, indem sie in die Menge stürmen, einige der Demonstranten festnehmen und Blendgranaten abfeuern. Es ist vorhersehbar. Die israelischen Soldaten bestehen darauf, dass sie nur reagieren, nachdem sie unter Beschuss geraten sind. Sie beschuldigen palästinensische Jugendliche, Steine, Felsen und selbstgemachte Munition im Inneren des Al Aqsa-Geländes zu lagern und sie damit zu attackieren.

Doch die Weltgemeinschaft ist eindeutig auf der Seite der Palästinenser. Amnesty International hat Israel exzessive Gewalt vorgeworfen, was ich als Journalist, der über die Proteste berichtet, nicht bestätigen kann. Es gibt sicherlich einige Fälle, in denen die israelischen Sicherheitskräfte Demonstranten gegenüber handgreiflich wurden und sie tätlich angriffen. Aber im Grossen und Ganzen, sicherlich ausserhalb des Damaskustors, ist es für die Truppen gefährlich, da sie provoziert und mit Gegenständen geschlagen werden, die sie ernsthaft verletzen könnten, wenn sie keine Helme tragen würden.

Während der rasant eskalierende Konflikt Erinnerungen an den Israel-Hamas-Krieg von 2014 wachruft, gibt es diesmal ein neues Phänomen – einen Ausbruch von Wut seitens israelischer Araber zur Unterstützung derer, die in den Autonomiegebieten leben und gegen Israels jüngste Reaktion auf die Unruhen in Jerusalem und seine aktuellen Einsätze in Gaza.

Die Zusammenstösse in Jerusalem breiteten sich schnell auf israelische arabische Ortschaften aus. Eine andere Stadt nicht weit von Tel Aviv, Lod, ist derzeit abgeriegelt. Drei jüdische Männer wurden aufgrund tödlicher Schüsse auf einen arabischen Mann während der Zusammenstösse am Montag verhaftet. Die Umstände sind nach wie vor ungeklärt, mehrere jüdische Augenzeugen behaupten, der Schütze habe in Notwehr gehandelt.

Die israelische Armee verhängte daraufhin den Ausnahmezustand, nachdem Truppen einige jüdische Bewohner während der Ausschreitungen evakuieren mussten, bei denen drei Synagogen geschändet, sowie zahlreiche Geschäfte und Dutzende von Autos in Brand gesteckt wurden.

«Wenn Trump noch im Amt wäre»

Viele Israelis, die ich interviewte, geben dem amerikanischen Präsidenten Joe Biden eine Mitschuld. Nach seinem Amtsantritt im Januar bekundete er wenig Interesse, sich für ein israelisch-palästinensisches Friedensabkommen einzusetzen. Er war bisher auch nicht bereit, sich in den aktuellen Konflikt einzumischen, wird aber dazu gedrängt. Die zunehmende Gewalt hat seine Administration in die Defensive gedrängt. Im Vergleich dazu zeigte die Trump-Administration rückhaltlose Unterstützung für Netanjahu und eine Ablehnung gegenüber dem Ansinnen von Palästinensern rund um Hamas und Co.

«Wenn Trump noch im Amt wäre», sagen mir Israelis, «würden es die Palästinenser nicht wagen, sich so aufzuführen. Aber sie wissen, dass Biden nichts unternimmt.»

Derzeit gibt es keine Anzeichen dafür, dass eine der beiden Seiten bereit ist, einzulenken. Netanyahu hat geschworen, seine Offensive auszuweiten und sagte: «Das wird Zeit brauchen.» Die Hamas hat zu einer gross angelegten Intifada, einem gewaltsamen Aufstand, aufgerufen. Heute Abend – und wahrscheinlich den Rest der Woche – werde ich in meinem Luftschutzkeller übernachten, wie Millionen von Israelis auch.

Über Paula Slier

Paula Slier ist eine südafrikanische Journalistin und Kriegsberichterstatterin die im Nahen Osten lebt. Sie ist als Chief Executive des Middle East Bureau für RT sowie als Gründerin und CEO von Newshound Media International tätig.

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