Zionismus als Chiffre. Der Berliner Al Quds-Marsch als Artikulationsort für Antisemitismus

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Al-Quds-Marsch 2019. Foto IMAGO / Metodi Popow
Al-Quds-Marsch 2019. Foto IMAGO / Metodi Popow
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Nach einem Jahr Pause soll es am 8. Mai erneut soweit sein: Hunderte wollen anlässlich des Al Quds-Tags in Berlin gegen Israel wieder auf die Strasse gehen. Seit Jahren wird von verschiedenen (jüdischen) Organisationen, Aktivistinnen und Aktivisten ein Verbot des ihrer Meinung nach antisemitischen Aufmarschs gefordert. Dieser Einschätzung wurde in der von mir an der TU Berlin eingereichten und von der Antisemitismusforscherin Prof. Monika Schwarz-Friesel betreuten Abschlussarbeit genauer nachgegangen. [1. Die Abschlussarbeit „Zionismus als Chiffre. Israelbezogener Verbal-Antisemitismus am Beispiel des Berliner Al Quds-Marschs (2016–2018)“ kann unter https://www.linguistik.tu-berlin.de/fileadmin/fg72/PDF/BA_Markus-Weiss.pdf abgerufen werden] Der Arbeit liegt dabei die These zugrunde, dass während des Al Quds-Marsch antisemitische Stereotype auf Zionismus/Zionisten bzw. Israel übertragen und entsprechend artikuliert werden. Diese Form der Umwegkommunikation wurde mittels einer Korpusstudie näher betrachtet.

von Markus Weiß

In der Abschlussarbeit wurden 127 Kurztexte bzw. Aufschriften, die auf Schildern, Bannern und T-Shirts während des Al Quds-Marschs in den Jahren 2016–2018 gezeigt wurden, untersucht. Zur besseren Kontextualisierung wurde zudem ein zweites Korpus, bestehend aus Videos der Veranstalter bzw. deren Umfeld, hinzugezogen [1. Eine detaillierte Zusammensetzung der beiden Korpora kann dem Anhang der Arbeit entnommen werden]. Die Analyse erfolgte unter Berücksichtigung der Textsorteneigenschaften von „Protestplakaten“ und des spezifischen Kontexts. Dieser ist bei der Bewertung von Verbal-Antisemitismus immer mit zu berücksichtigen. Ebenso wurde die Rolle der Textproduzenten und deren Selbstverortung betrachtet sowie deren konkreter Blick auf ‚Israel‘ und ‚Zionisten (inkl. Zionismus)‘ untersucht. Dabei spielt die positive Bezugnahme und Verehrung des politischen und geistigen Oberhaupts des Iran, dem Ayatollah Chomeini, eine wichtige Rolle. Er hatte 1979 den Quds-Tag als Feier- und Kampftag gegen Israel ins Leben gerufen.

Das Ergebnis wird aufmerksame Beobachter des jährlichen Aufmarschs nicht überraschen. Von 127 Kurztexten wurden nach den Kriterien der IHRA-Working Definition 103 als antisemitisch eingeordnet. Davon enthalten 49 Texte de-realisierende und dämonisierende Verbalismen wie Apartheids-Analogien, NS-Vergleiche und die Verwendung von Negativwörtern (Pejorativlexik) wie Terror(isten) und Unrechtsregime, wie etwa in diesem Beispiel: „Widerstand gegen das Apartheidsregime!!“

Bei de-realiserenden Konzeptualisierungen als Kriegstreiber wie z.B. in „Terrorstaat Israel. Boykott Israel. Der wahre Terrorist“ spielen zudem bildliche Darstellungen zur optischen Unterstützung eine wichtige Rolle. Viele Bilder bzw. Karikaturen sind geprägt von Blut(flecken und -spritzern) und der Abbildung von tötenden Soldaten. Gerade diese Form der Visualisierung weist ein hohes Emotionspotenzial auf und trägt zu einer starken Affektmobilisierung bei. Eine ebenso starke Emotionalisierung kann die Konzeptualisierung als Kindermörder hervorrufen. Dieses uralte, klassische Stereotyp findet sich nicht nur in der gerufenen Parole „Kindermörder Israel“ wieder, sondern auch auf Schildern wie „Jeden 2. Tag tötet Israel ein Kind in Palästina“, auf denen ein vorsätzliches und kontinuierliches Töten unterstellt wird.

Al-Quds-Marsch in Berlin 2019. Video Jüdisches Forum

In 22 Kurztexte wird wiederum der Staat Israel delegitimiert. Hierbei ist auffällig, dass sich die Textaussagen weniger gegen ein reales Israel richten, sondern vielmehr gegen ein Israel als abstraktes Gebilde. Deutlich wird dies durch de-realisierende Sprachmuster, die vielfach mit starken Übertreibungen und Superlativen verbunden sind, wie z.B. „Israel ist die grösste Bedrohung für den Weltfrieden“. Durch die Beispiele „Google Israel. Did you mean: Palestine” oder „Israel raus aus Palästina“ wird nicht nur Israel das Existenzrecht abgesprochen, es bedient zudem das Narrativ einer indigenen, arabisch-muslimischen Bevölkerung und verneint jeden jüdischen Bezug zur Region.

Festgestellt werden konnten ausserdem klassische antisemitische Stereotype, wie die des Menschenfeindes: „Terrorist Israel – Menschenfeind – der wahre Menschenfeind“. Das Motiv des „Menschenfeindes“ oder das einer grossen Bedrohung geht implizit einher mit einem Vernichtungs- und Erlösungswunsch, der sich in diesem Fall gegen den Staat Israel richtet. Auch hinsichtlich von Verschwörungsphantasien konnte beobachtet werden, dass klassische Stereotype, wie das der jüdischen Weltverschwörung, konzeptuell und semantisch auf Zionisten übertragen werden. Das zeigt sich u.a. deutlich in einer Mobilisierungsansprache 2018, in der der Sprecher der Quds AG, Jürgen Grasmann behauptet, „die Damen und Herren der Zionistischen Weltbewegung [würden] die Geschichte damals wie heute missbrauchen, um einen Sonderstatus mit Sonderrechten zu erreichen.“ Weiter sagte er in dieser Ansprache: „Wer Zionismus-ungläubig ist, dem werden gewisse Bürgerrechte abgesprochen. Die zionistische Weltbewegung braucht keine eigene Partei zu gründen, da sie in allen Parteien ihren Einfluss hat. Sie überleben alle Wahlen und bleiben ewig an der Macht.“ Gerade hier wird deutlich, wie klassisches antisemitisches Verschwörungsdenken chiffriert wird. Lexeme wie Zionisten und Zionismus dienen nur als Substitution für Juden und Judentum. Die Wörter werden ausgetauscht, die antisemitischen Stereotype die damit verbunden sind bleiben aber gleich. Dieses Verschwörungsdenken findet sich auch auf Schildern u.Ä. während des Quds-Marschs wieder. Dies zeigt sich an diesem Beispiel: „Zionisten sollen eigene Partei gründen!
Transparenz der Zionisten!!“, welches sich auf das Stereotyp von zu viel Macht und Einfluss bezieht und verschwörerisches Handeln unterstellt.

Bei der Analyse wurden nicht nur klassische und auf Israel bezogene Antisemitismen aufgedeckt, sondern auch im Bereich des Post-Holocaust-Antisemitismus ausgemacht. Auf Schildern der #niewieder-Kampagne von 2018 manifestiert sich etwa ein Schuld-Abwehr-Antisemitismus auf der Basis von NS-Relativierung und Täter-Opfer-Umkehr. Die Grundformel des erinnerungspolitischen Selbstverständnisses der BRD, „Nie wieder!“ bezieht sich durch diese Umdeutung nicht mehr auf die NS-Verbrechen sondern wird gegen Israel angewandt. Dadurch wird die Nazi-Barbarei relativiert und Israel gleichzeitig dämonisiert. Neben der Täter-Opfer-Umkehr wird auch eine Schlussstrichforderungen wie u.a. in diesem Beispiel geäussert: „Keine ewige Schuld der Deutschen!“. Implizit findet sich in diesem Zusammenhang auch das Stereotyp des Holocaustausbeuters: „Keine Steuergelder mehr an Israel! Keine Waffengeschenke an Israel!“.

In dieser Arbeit konnte gezeigt werden, dass während des Al Quds-Marschs vielfach Antisemitismen geäussert wurden, meist in chiffrierter Form auf Zionismus/Zionisten bezogen oder auf den Staat Israel projiziert. Die Zugrunde liegenden antisemitischen Stereotype bleiben jedoch gleich. Der Al Quds-Marsch als öffentliche politische Veranstaltung mit meist über tausend (und weltweit gar mehreren zehntausend) Teilnehmer und medialer Verbreitung ist somit ein nicht zu unterschätzender Produktions- und Artikulationsort von Juden- und Israelhass. Deshalb sind hier die Verantwortlichen in Politik und staatlichen Behörden konkret (auf-)gefordert, der öffentlichen Verbreitung von Antisemitismus Einhalt zu gebieten und alle rechtlichen Mittel auszuschöpfen, um den Al Quds-Marsch zukünftig zu unterbinden.