„Ich habe mich für meine Familie geschämt“

Wie eine neue Generation junger Deutscher Verantwortung für den Holocaust und die Zukunft der deutsch-israelischen Beziehungen übernimmt

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Gedenkzeremonie ADI Negev-Nahalat Eran. Foto zVg
Gedenkzeremonie ADI Negev-Nahalat Eran. Foto zVg
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Was für eine Beziehung haben Sie zum „Internationalen Holocaustgedenktag“? Und zum israelischen Pendant, dem „Jom HaSchoa“? Wenn Sie sich jetzt denken „gar keine“, dann sind Sie nicht alleine. Der Holocaust ist ja auch schon 80 Jahre her! Wenn man einen Bezug haben will, dann muss man da schon aktiv werden, rumfragen und recherchieren. Und das, was rauskommt, ist eventuell nicht so schön. Die vier Jugendlichen, die zurzeit im Behindertennetzwerk ADI Negev-Nahalat Eran in Israel ihr freiwilliges soziales Jahr absolvieren, haben genau diese Erfahrung gemacht: Zusammen mit ihren Eltern haben sie nachgeforscht, und alle Urgroväter von Anna-Suzette „Setti“ Pfeiffer, Shauna Wither und Leo Ebe waren aktive Nazis.

So etwas zu verdauen ist nicht einfach; aber es geht ja auch nicht darum, sich selbst fertigzumachen. Shauna zum Beispiel hat sich so für ihre Familienvergangenheit geschämt, dass sie nie sagen wollte, sie wäre deutsch, sondern schottisch, wie ihr Papa. Mit der Zeit hat sie aber gelernt damit umzugehen, und das nicht ganz ohne den Ansto vom „Marsch des Lebens“: Das ist die Organisation, über welche die Freiwilligen zu ADI kamen, und ihre Prinzipien sind die Aufarbeitung des Holocausts auf einer ganz persönlichen Ebene, die Bekämpfung von Anti-Semitismus und die Unterstützung des jüdischen Volkes und des Staates Israel. Ein FSJ in einer Behinderteneinrichtung in Israel ist da natürlich eine willkommene Gelegenheit, diese Prinzipien zu leben, gerade weil es Menschen mit Behinderungen waren, an denen das berühmt-berüchtigte Zyklon-B-Gas zur systematischen Tötung von „unerwünschtem Leben“ ausprobiert wurde.

Kleines Intermezzo zwischendurch: Kommt Ihnen der Name Negev-Nahalat Eran bekannt vor? Das liegt eventuell daran, dass Sie bereits in 2019 über die „Oase der Akzeptanz in Israel“ gelesen hatten. Seitdem hat sich die Organisation aufgeteilt, und das Rehabilitationsdorf in der nördlichen Negev heit jetzt ADI. Die Teilung erfolgte aus organisatorischen Gründen, damit sich ALEH und ADI mehr Projekten widmen können. Der Fokus von ADI Negev sind nach wie vor Menschen mit schweren multiplen Behinderungen, und Zusatzprojekte werden in den Bereichen Rehabilitation und Inklusion von Menschen mit Behinderungen initiiert.

Was haben also die Freiwilligen vom Marsch des Lebens in Israel bisher gemacht? Auer ihrer direkten Arbeit mit den Kindern von ADI wollten sie noch mehr tun, deswegen waren sie der Fokus einer Gedenkveranstaltung der ganz besonderen Art: Am Vorabend von Yom Hashoa, dem israelischen Gedenktag an den Mord von 6 Mio. Juden im Holocaust in ADI Negev-Nahalat Eran sprachen Setti, Shauna und Leo über ihre Motivation, bei ADI zu arbeiten und über ihre Urgroväter, die allesamt überzeugte Nazis waren. Ob in der Wehrmacht oder als einer der Ingenieure von Auschwitz, sie waren definitiv keine Mitläufer; der Urgrovater von Leo hat Umsiedlungen von Deutschen in den Osten ausgeführt, und auf seinem Weg jüdische Dörfer abgebrannt, geplündert und getötet; Shaunas Urgrovater entschied an der Grenzkontrolle über Leben und Tod – wer durfte ausreisen und wer zum ultimativen Tod verurteilt.

Gedenkzeremonie ADI Negev-Nahalat Eran. Foto zVg

Obwohl sie im Alltag offen über ihre Vorfahren sprechen, waren auch die Freiwilligen selbst bei dieser Zeremonie zutiefst gerührt, als sie in die Augen der anwesenden Holocaustüberlebenden sahen und mit der Vergangenheit ihrer Familien auf so eine direkte Weise konfrontiert wurden. Unter Tränen baten sie um Vergebung für die Schandtaten ihrer Vorfahren und versprachen Verantwortung für eine bessere Zukunft zu übernehmen. Wie der anwesende stellvertretende Botschafter von Deutschland in Israel, Dr. Jörg Walendy, bemerkte, ist es an uns, die Lehren aus der Vergangenheit zu ziehen und diese den nachkommenden Generationen näher zu bringen. Diese unglaublichen jungen Menschen laufen nicht vor ihrer Familienvergangenheit weg; trotz der Scham ignorieren sie sie nicht, auch wenn sie die Gräueltaten ihrer Vorfahren nicht wiedergutmachen können. „In dem sie nach Israel kommen, um in Einrichtungen wie ADI zu arbeiten und den Schwächsten unter uns zu dienen, dienen sie unserer Gesellschaft und der Menschheit als Ganzes“, so Dr. Walendy. Mithilfe solch wundervoller junger Menschen ist das Ziel einer besseren Gesellschaft hoffentlich nicht allzu weit!

ADI Israel ist eine wohltätige Organisation, die sich für das Wohl von Kindern und Erwachsenen mit schweren multiplen Behinderungen einsetzt. Ob für Bewohner oder ambulante Patienten, das Pflegenetzwerk investiert in jeden einzelnen, um ihnen ein würdiges und freudiges Leben zu ermöglichen.

Wenn Sie an einem Freiwilligendienst interessiert sind oder einfach mehr über ADI erfahren möchten, besuchen Sie doch die Webseite von ADI: adi-israel.de.  Für Spenden: Freunde von ALEH Israel e.V. [bis die offiziell Umbenennung von ALEH zu ADI abgeschlossen ist], IBAN: DE10 1005 0000 0190 9612 52, Berliner Sparkasse