“Judenvirus, Zoom-Bombing und Darknet-Extremismus”: Israelische Antisemitismus-Studie zeigt düsteres Bild von 2020

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Davidstern /
Davidstern / "Judenstern" mit dem Schriftzug «Ich habe ein Attest»-auf der Brust eines Demonstranten am 21. November 2020 an einer Anti-Corona-Massnahmen Kundgebung in Lachen SZ. Foto zVg
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Die globale COVID-19-Pandemie führte zwar zu einem Rückgang der physischen antisemitischen Angriffe im Jahr 2020, jedoch erlebte die virtuelle Welt einen massiven Anstieg antisemitischer Vorfälle, so das Kantor Center for the Study of Contemporary European Jewry in seinem Antisemitismus-Report für 2020, der am Vorabend des israelischen Holocaust-Gedenktages veröffentlicht wurde.

Der Antisemitismus-Report 2020 dokumentiert «widersprüchliche Trends». Auf der einen Seite sah das Monitoring-Team einen Rückgang der physischen Gewalt aufgrund der der durch die Lockdowns reduzierten Begegnungen zwischen Juden und gewalttätigen Antisemiten. Andererseits manifestierten sich Verleumdungen gegen Juden, die für die Pandemie verantwortlich gemacht wurden, in einem Anstieg eklatant antisemitischer Verschwörungstheorien im Internet im Allgemeinen und in sozialen Netzwerken im Besonderen.

Zudem entwickelten sich im Internet neue Phänomene wie das Zoom-Bombing und und eine Verlagerung des Extremismus ins Darknet, die schwer zu beziffern sind.

Professor Dina Porat, Leiterin des Kantor Centers, erklärte, die Pandemie und «die daraus resultierende Realität diktierten sowohl die Art als auch das Ausmass des Antisemitismus im Jahr 2020, das weltweit ein ungewöhnlich spannungsgeladenes und turbulentes Jahr war. Vorurteile, Aberglaube, Urängste und bizarre Theorien tauchten auf und die Erscheinungsformen des Antisemitismus, sowohl verbal als auch visuell, waren bösartig und schockierend.»

Zu diesen Vorfällen gehörte, den Juden und Israelis die Schuld an der Entwicklung und Verbreitung des Virus, auch «Judenvirus» genannt, zuzuschieben.

«Diese Auffassung basiert auf einer tiefsitzenden Angst vor Juden oder Israelis als Verbreiter von Krankheiten in der Vergangenheit und Gegenwart», stellte Porat fest.

Die Verleumdung Juden seien am Coronavirus schuld, sei «eine schwerwiegendere Verleumdung als jede andere» die im Laufe der Geschichte gegen Juden erhoben wurde, heisst es im Bericht.

Als sich die Pandemie über den Globus auszubreiten begann, folgten unmittelbar die Unterstellungen, das Virus sei von Juden und Israelis entwickelt und verbreitet worden. Die Verschwörungstheoretiker behaupteten, die Juden würden ein Heilmittel und einen Impfstoff für die Krankheit finden, um ihn an die internationale Gemeinschaft zu verkaufen und einen enormen Profit zu machen. In den folgenden Monaten verbreitete sich diese Verleumdung explosionsartig. Das Monitoring-Team erhielt entsprechende Meldungen aus Dutzenden von Ländern, in Form von bösartigen Postings und unzähligen hasserfüllten Karikaturen.

Ausserdem kamen die Anschuldigungen nicht nur aus extremistischen Kreisen, wie weissen Rassisten, ultrakonservativen Christen oder den üblichen Antisemiten aus der Türkei und der Palästinensischen Autonomiebehörde sowie aus dem Iran, der sich um die Verbreitung der Anschuldigungen bemühte. Der Vorwurf verbreitete sich auch in Bevölkerungsgruppen ohne klar definierte politische oder ideologische Ausprägung.

Die Lockdowns in den verschiedenen Ländern verringerten die Begegnungen zwischen Juden und Antisemiten, sodass die Zahl der gewalttätigen Vorfälle von 456 im Jahr 2019 auf 371 im Jahr 2020 zurückging, so wie es in den Jahren 2016-18 der Fall war.

2020 wurde laut dem Bericht des Kantor Centers niemand ermordet, weil er Jude ist, obwohl körperliche Angriffe tödlich hätten enden können und die Zahl der Körperverletzungen sank von 170 im Jahr 2019 auf 107 im Jahr 2020.

Auch die Beschädigung von Privateigentum verringerte sich von 130 auf 84 Vorfälle, meist weil die Bevölkerung zu Hause blieb.

In den meisten Ländern wurde ein Rückgang der gewalttätigen Vorfälle, der Angriffe auf Menschen und ihr Eigentum, der Bedrohungen und der Brandstiftung registriert. Vandalismus gegen jüdisches Gemeindeeigentum und Einrichtungen blieb jedoch gleich häufig, in einigen Fällen nahm er sogar zu.

Die Zahl der Schändungen von Friedhöfen, Holocaust-Denkmälern und anderen jüdischen Denkmälern stieg weltweit von 77 im Jahr 2019 auf 96 Vorfälle im Jahr 2020, und auch die Zahl der geschändeten Synagogen, die geschlossen und leichte Ziele waren, stieg von 53 im Jahr 2019 auf 63 im Jahr 2020.

In den USA wird seit mehreren Jahren ein kontinuierlicher Anstieg der Gewalttaten beobachtet, der im Jahr 2020 auf 119 im Vergleich zu 99 im Jahr 2017 anstieg. Auch in Deutschland kam es zu einem deutlichen Anstieg der Vorfälle, von insgesamt 2’032 im Jahr 2019 auf 2’275 im Jahr 2020, darunter 59 Körperverletzungen. In beiden Ländern war Vandalismus für die meisten Vorfälle verantwortlich.

Ein deutlicher Rückgang wurde in Australien, Grossbritannien und Frankreich verzeichnet, wo sowohl das Innenministerium als auch die Jüdische Gemeinde einen Rückgang aller Arten von antisemitischen Vorfällen um 50 Prozent meldeten, was auf die strenge Ausgangssperre zurückzuführen ist, sowie in Kanada, wo die Zahl der gewalttätigen Fälle um mehr als die Hälfte zurückging.

Die meisten Vorfälle ereigneten sich in Ländern mit grossen jüdischen Gemeinden: in den USA, Kanada, Grossbritannien, Australien, Frankreich und Deutschland. In allen anderen Ländern, mit Ausnahme der Ukraine, wurden im Jahr 2020 weniger als 10 Vorfälle pro Land gemeldet.

Da der öffentliche Raum während der Pandemie weitgehend stillgelegt wurde und die Menschen zu Hause blieben, nahmen die Aktivitäten in den sozialen Medien, einschliesslich antisemitischer Agitation, die sich durch Aggressivität und Beschimpfungen auszeichnet, deutlich zu. Solche Phänomene sind von Natur aus schwer zu quantifizieren.

Allein in den USA wurden 200 Fälle von Zoom-Bombings registriert.

Viele extremistische Gruppen, vor allem aus dem rechtsextremen Spektrum, wie White Supremacists und Neonazis, verliessen die offenen sozialen Netzwerke und wichen in das Darknet aus, das im vergangenen Jahr deutlich Zuwachs verzeichnen konnte. Dort sind sie frei von jeglicher Überwachung oder Restriktionen und können ungestört ihre eigenen Websites betreiben.

In der Folge ging die Zahl der antisemitischen Äusserungen in den offenen Netzwerken zurück, während die Aktivitäten im Darknet zunahmen.

Ein bekanntes Phänomen war, dass Impfgegner die Restriktionen und Lockdowns zur Eindämmung der Pandemie mit der Politik des Naziregimes gleichsetzten und den Regierungen in diversen Ländern vorwarfen, Zwangsmassnahmen einzusetzen.

Ein Schild mit der Aufschrift «Impfen macht Frei», fotografiert in St. Gallen am Samstag, 14. November. Foto zVg
Ein Schild mit der Aufschrift «Impfen macht Frei», fotografiert in St. Gallen am Samstag, 14. November. Foto zVg

Lockdowns wurden mit der Internierung in Ghettos und Konzentrationslager verglichen, Impfstoffe wurden als medizinische Experimente der Nazis bezeichnet, Bescheinigungen, die nach der Impfung Privilegien gewähren, wurden als das berüchtigte Selektionsverfahren in den Todeslagern der Nazis gewertet, und Impfgegner behaupteten, sie seien genauso unerwünscht und verfolgt wie die Juden.

In Deutschland, wo die Opposition gegen die Impfungen besonders stark ist, trugen Demonstranten einen gelben Stern auf ihrer Kleidung mit dem Wort «ungeimpft» anstelle des Wortes «Jude» und nannten Bundeskanzlerin Merkel eine Nazi.

Die Entwicklung der Impfstoffe, gekoppelt mit Israels umfangreicher Impfkampagne, die von Israelis und Juden vorangetrieben wurde, die führende Positionen in den Unternehmen innehaben, die diese Impfstoffe produzieren, darunter Tal Zaks, Chief Medical Officer bei Moderna, und Pfizer-CEO Albert Bourla, wurde missbraucht, um solche antisemitischen Verleumdungen zu untermauern.

Verschwörungstheoretiker behaupteten, Israelis und Juden hätten sich zusammengetan, damit Israel sich als erstes von der Pandemie erholt, während der Rest der Welt die Juden um Hilfe anfleht.

Der Bericht des Kantor Center for the Study of Contemporary European Jewry, basiert auf Tausenden von Zeugnissen aus verschiedenen Regionen, die im Laufe des Jahres 2020 aus einem internationalen Netzwerk des Kantor Center eingegangen sind.