Naher Osten: Die Gespenster der vergangenen Herrscher

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Siegreiche israelische Soldaten sitzen auf einem Lkw und präsentieren ein Bild von Gamal Abdel Nasser, ägyptischer Staatspräsident, der mit der Sperrung der Strasse von Tiran den Sechs-Tage-Krieg ausgelöst hatte. ca. 14.06.1967. Foto IMAGO / Sven Simon
Siegreiche israelische Soldaten sitzen auf einem Lkw und präsentieren ein Bild von Gamal Abdel Nasser, ägyptischer Staatspräsident, der mit der Sperrung der Strasse von Tiran den Sechs-Tage-Krieg ausgelöst hatte. ca. 14.06.1967. Foto IMAGO / Sven Simon
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Jetzt, wo die Debatte um die Ausweitung der israelischen Souveränität auf die jüdischen Gemeinden in Judäa und Samaria im Rahmen der Abraham-Verträge etwas abgeflaut ist, lohnt es sich, einen genaueren Blick auf den rechtlichen Status dieser Territorien zu werfen. Das Bild, das sich dabei ergibt, mag überraschend sein. Mehr als ein Jahrhundert nach der Auflösung des Osmanischen Reiches regiert der Geist dieses Reiches weiter.

von Naomi Linder Kahn

Mehr als 50 Jahre nach Israels Sieg im Sechs-Tage-Krieg, mehr als 30 Jahre nachdem König Hussein von Jordanien öffentlich alle rechtlichen und administrativen Bindungen zu diesem Gebiet aufgegeben hat, und mehr als 25 Jahre nachdem Jordanien einen Friedensvertrag mit Israel unterzeichnete, in dem es offiziell alle territorialen Ansprüche aufgab, setzt der Staat Israel weiterhin jordanisches Recht durch – trotz dessen eindeutig rassistischen und rückständigen Grundlagen.

Nach dem Sechs-Tage-Krieg von 1967 entschied sich Israel, trotz der eindeutigen moralischen und juristischen Rechtfertigung für eine vollständige und unmissverständliche Annexion des Gebiets, von den selbstverständlichen, üblichen und erwarteten Schritten abzusehen, die jede andere Regierung nach einem unbestrittenen Ergebnis in einem Selbstverteidigungskrieg unternommen hätte.

Die israelische Regierung entschied sich stattdessen für «temporäre Vereinbarungen», die das Gebiet bis heute in der Schwebe halten. Derzeit setzt der Staat Israel weiterhin eine Kombination aus jordanischem und osmanischem Recht durch, statt israelisches Recht anzuwenden. Aus Angst, in internationalen Gremien, insbesondere im Sicherheitsrat der Vereinten Nationen, wegen «hoheitlichen Eingriffen» angeklagt zu werden.

In einer höchst unglücklichen politischen Entscheidung – die weiterhin das Leben der Araber und Juden, die in diesen Gebieten leben, beeinträchtigt – hält Israel weiterhin an der jordanischen Gesetzgebung fest, die es Frauen – sowohl Araberinnen als auch Jüdinnen – verbietet, Land zu erben oder zu kaufen. Israelische Gerichte halten weiterhin an der antisemitischen jordanischen Gesetzgebung fest, die es jüdischen Personen verbietet, Land in Judäa und Samaria zu kaufen. Israel hält weiterhin an veralteten osmanischen Gesetzen fest – die überall sonst auf der Welt vor mehr als 100 Jahren abgeschafft wurden und die massiven Eigentumsdiebstahl durch landwirtschaftliche Nutzung ermöglichen.

Aufgrund dieser Absurdität werden jedem Mann und jeder Frau in den umstrittenen Gebieten, die als Judäa und Samaria bekannt sind – oder als «Westbank» (westlich des Jordans) – die grundlegendsten Rechte verweigert, die das Fundament moderner westlicher Demokratien bilden. Egal wie man es politisch betrachtet, hat eine legislative und rechtliche Zeitschleife die Bewohner dieser Gebiete – Araber und Juden, Palästinenser und Israelis – für mehr als fünf Jahrzehnte gefangen gehalten. Das Ergebnis: rechtliches Chaos, Ungerechtigkeit und ständiger Konflikt.

Ironischerweise heizt Israels juristische Zurückhaltung weiterhin den endlosen Konflikt um das Land selbst an und hat eine massive Verschwendung von Ressourcen zur Folge – eintönige Kreisläufe von Bau, Klage, Abriss, Wiederaufbau -, die vermieden werden könnten, wenn man den Prozess der Landvermessung und -registrierung abschliessen würde, der vom Osmanischen Reich initiiert und von der britischen Mandatsregierung sowie von jordanischen Regierungen fortgesetzt wurde.

Die Vermessung und Registrierung von Landbesitz durch die britische Mandatsmacht wurde nicht als ein Akt der Souveränität wahrgenommen; es gibt keinen Grund, warum dies jetzt als solcher betrachtet werden sollte.

Das rechtliche und gesetzgeberische Vakuum, das aus Israels gut gemeinter Entscheidung resultiert, osmanisches und jordanisches Recht in den Gebieten aufrecht zu erhalten, die vor über 50 Jahren unter seine Rechtshoheit kamen, beraubt weiterhin sowohl die Araber als auch die Juden, die dort leben, ihrer Grundrechte. Das gleiche Vakuum hat es unmöglich gemacht, eine vorausschauende Politik für die Landnutzung, den Umweltschutz, die Siedlungspolitik und – was vielleicht am wichtigsten ist – eine Verhandlungslösung für den Status des Gebietes zu formulieren. Ohne zu klären, wem was gehört, ist es unmöglich, zu einer gerechten Aufteilung der Ressourcen oder einer friedlichen Lösung des Konflikts zu gelangen.

Israel hat so viele Jahrzehnte damit verbracht, jegliches Handeln zu vermeiden, um nicht in einem schlechten Licht gesehen zu werden, dass es ein unverzeihliches Vakuum an Menschenrechten und Führung und ein schwarzes Loch in Bezug auf Recht und Verantwortlichkeit geschaffen hat. Dadurch ist das normale Leben für alle, die dort leben, zu einem bürokratischen Albtraum geworden.

Es ist höchste Zeit, die antiquierten Gespenster der osmanischen, jordanischen und britischen Mandatsherrschaft zu vertreiben und das Rechtsvakuum in Judäa und Samaria mit einem modernen, humanistischen, demokratischen Rechtssystem für alle zu füllen.

Naomi Linder Kahn ist Direktorin der internationalen Abteilung von Regavim, einer israelischen Non-Profit-Organisation, die sich für eine legale und verantwortungsvolle Nutzung der Landressourcen Israels einsetzt. Übersetzung Audiatur-Online