Die Erdoğan-Revolution in türkischen Schulbüchern: Verherrlichung von Dschihad und das “Zionismus-Problem”

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Präsident Recep Tayyip Erdogan in Istanbul am 26. Februar 2021. Foto IMAGO / Xinhua
Präsident Recep Tayyip Erdogan in Istanbul am 26. Februar 2021. Foto IMAGO / Xinhua
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Die türkischen Schulbücher und Schullehrpläne haben sich in den letzten fünf Jahren radikalisiert; Züge von Toleranz wurden zurückgedrängt, verstärkt wurde die Verherrlichung von Dschihad, türkischem Nationalismus und Grossmachtstreben; zudem werden nationale Minderheiten, „Zionisten“ und die USA dämonisiert. Zu diesem Ergebnis kommt eine wissenschaftliche Untersuchung der in Tel Aviv ansässigen Forschungs- und Politikberatungsorganisation IMPACT-se.

IMPACT-se – das Kürzel steht für Institute for Monitoring Peace and Cultural Tolerance in School Education (Institut zur Beobachtung von Frieden und kultureller Toleranz in der Schulbildung ) – ist eine gemeinnützige Organisation, die den Inhalt von Schulbüchern und Lehrplänen in vielen Ländern der Welt prüft, um zu sehen, ob diese im Hinblick auf Religion, Gesellschaft und Kultur zu demokratischen und pluralistischen Positionen anregen. „Wir analysieren Bildung, um zu Standards des Friedens und der Toleranz gemäss internationalen Deklarationen und Resolutionen zu ermuntern“, sagt Marcus Sheff, der Vorsitzende der Organisation, gegenüber Audiatur-online. „IMPACT-se wurde an der Hebräischen Universität von Jerusalem gegründet und ist ein international anerkannter Führer auf dem Gebiet der Schulbuchanalyse. Es widmet sich der Friedensstiftung zwischen Völkern und Nationen, indem es sich für die Akzeptanz des anderen und gewaltsame Konflikte einsetzt.“

Forschungsergebnisse seiner Organisation hätten die politische Debatte im Weissen Haus, im US-Kongress, im Europäischen Parlament und der EU-Kommission und in den Parlamenten und Regierungen zahlreicher Staaten beeinflusst, sagt Sheff.

Die neue Studie zu türkischen Schulbüchern ist ein Update zu einer, die das Institut im November 2016 durchführte. Die „grosse Mehrheit“ der Schulbücher sei ausgewertet worden, sagt Sheff. Vor allem prägten natürlich die Schulbücher für Geschichte und Gesellschaftswissenschaften die Weltsicht der Schüler – Mathematik und Naturwissenschaften hingegen weniger.

„Dschihad ist neue Normalität“

2016 lobten die Forscher von IMPACT-se noch die „Dimension der Toleranz“, die sich in ihren Augen etwa in der Einführung des Fachs Kurdisch als Wahlfach zeigte, in der Aufnahme der Evolutionstheorie in den Lehrplan, in kultureller Offenheit und in Toleranz gegenüber Minderheiten. Doch in den letzten Jahren sei diese Toleranz „dahin geschmolzen“, heisst es in dem neuen Bericht.

Der Dschihad-Krieg sei in Schulbücher aufgenommen und zur „neuen Normalität“ geworden, „wobei das Martyrium im Kampf verherrlicht“ werde. Auch ethnonationalistische religiöse Ziele, die sich im Neo-Osmanismus und Pan-Turkismus manifestierten, würden gelehrt. Der Islam werde als eine politische Angelegenheit dargestellt, dessen Zielen Wissenschaft und Technologie zu dienen hätten. Vorbehalte gegenüber dem darin enthaltenen Radikalismus würden in den Büchern nicht zur Sprache gebracht, so die Forscher.

Geschichtsbücher propagierten Konzepte der „türkischen Weltherrschaft und des türkischen oder osmanischen Ideals der Weltordnung”. „Laut Lehrplan erstreckt sich das ‚türkische Becken’ von der Adria bis nach Zentralasien“, heisst es in dem Bericht.

USA schuld an Al-Qaeda und dem IS

Die Inhalte der Schulbücher seien von einer antiamerikanischen Haltung geprägt und zeigten Sympathie für die Motivationen von ISIS und Al-Qaida. So werden etwa die Vereinigten Staaten als Strippenzieher der Militärputsche in der Türkei von 1960, 1971 und 1980 dargestellt und auch für den Putschversuch einiger türkischer Offiziere im Jahr 2016 verantwortlich gemacht. Das Buch Zeitgenössische Geschichte der Türkei und der Welt gebe den USA zudem die Schuld an der Inflation und der Verschlechterung der Wirtschaftslage in der Türkei in den letzten Jahren: Beides habe Amerika herbeigeführt, um die Türkei für die Inhaftierung des amerikanischen Pastors Andrew Brunson zu bestrafen. „Neben der Andeutung einer fortgesetzten amerikanischen Mitschuld an den Problemen der Türkei weist der Text auf zahlreiche Ähnlichkeiten zwischen dem Putsch von 1960 und dem gescheiterten Versuch im Jahr 2016 hin“, so die Autoren von IMPACT-se. Am interessantesten sei jedoch, dass der Kemalismus – so nennt man die eher säkulare nationalistische Ideologie in der Nachfolge des türkischen Staatsgründers Kemal Atatürk (1881-1938), der die Türkei nach europäischem Vorbild modernisierte und den Islam dem türkischen Nationalismus unterordnete – als „wichtiger Katalysator“ für beide Ereignisse dargestellt werde.

Neue Agenda der Erdogan-Regierung

Die Autoren der Studie stellen die von ihnen beobachtete Radikalisierung der türkischen Schulbücher in den Zusammenhang der politischen Machtkämpfe in der Türkei. Nach dem gescheiterten Staatsstreich im Jahr 2016 und nachdem die Erdogan-Regierung „alle ihre Gegner beseitigt“ habe, habe sie sich daran gemacht, „eine Bildungsagenda zu schaffen, die den Dschihad als eines der wichtigsten Prinzipien des Lehrplans enthält“. Dieser werde nun als Akt der „Selbstverbesserung” gelehrt, gleichzeitig aber „paradoxerweise“ als zentrales Element des Kriegs.

In vielen Schulbüchern werde auf Zeiten in der Geschichte verwiesen, wo der Dschihad wichtiger zu sein schien als das islamische Ritual der Hadsch und osmanische Sultane es vorzogen, sich mit dem Dschihad zu beschäftigen, statt Mekka und Medina zu besuchen, heisst es. Die Autoren warnen davor, dass eine solche Haltung im Hinblick auf den Dschihad es einfacher mache, „die Grundlage für Religionskriege vorzubereiten“. Besorgniserregend sei vor allem, dass es keinerlei kritische Einschätzungen zu „negativen Auswirkungen des Dschihad“ gebe. Alarmiert zeigen sich die Forscher auch von in türkischen Schulbüchern unternommenen Versuchen, die Motive hinter Terroranschlägen von Al-Qaida und dem Islamischen Staat (IS) zu rationalisieren und zu verstehen. So heisst es etwa in dem oben genannten Geschichtsbuch über die Anschläge des Elften September:

„Nach dem Ende des Kalten Krieges hatten die USA Selbstvertrauen. Sie sahen sich als ‚Erster unter Gleichen’ und begannen, die internationalen Beziehungen zu dominieren und sich weniger an internationale Abkommen zu halten. Die USA bestimmten selbst, welche Staaten zu bestrafen oder welche Systeme zu beseitigen waren. Diese Praktiken der USA stellten einen der Gründe für den Angriff der Terrororganisation Al-Qaeda am 11. September dar.“

Ebenso verfahre das Schulbuch mit dem IS. Auch dieser werde als „Terrororganisation“ bezeichnet, doch „US-Praktiken im Irak“ werde die Schuld für seine Existenz gegeben. Aus Sicht der Autoren wenig überraschend: Bei der PKK mache das türkische Geschichtsbuch keine Anstalten, irgendwelche nachvollziehbaren Gründe für deren Entstehen zu finden.

„Zionismus-Problem“

Der Zionismus – also die Idee, dass die Juden ein Volk sind, das einen Staat haben sollte – wird dämonisiert. In Zeitgenössische Geschichte der Türkei und der Welt wird er als „imperialistische Bestrebung“ bezeichnet, alle Juden in „Palästina“ zu versammeln. Die palästinensischen Araber werden als „muslimische Opfer“ bezeichnet. Zwar wird betont, dass „Israel und Palästina in Frieden koexistieren“ müssten; doch dafür, dass das bislang nicht der Fall ist, wird allein Israel verantwortlich gemacht. Gaza wird, um Emotionen gegen Israel zu schüren, als „größtes Freiluftgefängnis der Welt“ bezeichnet. Von den Opfern israelischer Militäroperationen ist die Rede – nicht aber von den israelischen Opfern der Hamas-Raketen. Den „Zionisten“ wird zudem der Plan unterstellt, Salomons Tempel wiederaufzubauen. Insgesamt werde das Thema Israel in diesem Schulbuch „relativ kurz“ behandelt, schreiben die Autoren.

Ganz anders sei das in dem Buch Geschichte der Revolution und des Atatürkismus der Republik Türkei. Dort sei vom „Zionismus-Problem“ die Rede, die Juden würden für sämtliche Katastrophen des Nahen Ostens, etwa in Syrien und dem Jemen, verantwortlich gemacht. Auf einer fiktiven Landkarte sei ein „Grossisrael“ eingezeichnet, das vom Nil bis zum Euphrat reicht, und die Schüler würden gewarnt, dass Israel es auch auf türkisches Territorium abgesehen habe.

Als bemerkenswert heben die Autoren von IMPACT-se hervor, dass das Schulbuch Zeitgenössische Geschichte der Türkei und der Welt seit der Auflage von 2019 erstmals ein kurzes Kapitel über den Holocaust enthalte, in dem von sechs Millionen „Opfern (unter ihnen Juden)“ die Rede ist. Es gebe einige Sätze über die Reichspogromnacht vom 9. November 1938, dazu ein Foto einer brennenden Synagoge und ein Foto des Konzentrationslagers Auschwitz. In der Ausgabe von 2017 sei dies noch nicht der Fall gewesen.

Weitere Befunde der Studie

  • Es gebe in vielen Büchern eine antiarmenische und pro-aserbaidschanische Haltung. Die Bedürfnisse der kurdischen Minderheit würden ignoriert. Die Pogrome von Istanbul und Ankara im September 1955 – die sich vor allem gegen Christen richteten – würden nirgendwo erwähnt.
  • „Subtile antidemokratische Botschaften“ würden eingeflochten. In dem Schulbuch Demokratie und Menschenrechte würden etwa die Gezi-Park-Proteste von 2013 als „Rebellion gegen die Demokratisierungs- und Wirtschaftspolitik“ der Regierung bezeichnet. Das Umweltanliegen der Demonstranten werde als ein Vorwand dargestellt.
  • Christen und Juden werden in den Schulbüchern nicht mehr als „Völker des Buches“ bezeichnet, sondern mit dem noch stärker abwertenden Begriff „Ungläubige“ belegt. Es sei „schwer vorstellbar, dass solche Erzählungen keinen Einfluss haben werden gewöhnliche türkische Bürger in ihren Beziehungen zu anderen Nicht-Muslimen und ihren Nationen“, so die Autoren.

„Die Schulbildung ist das bei weitem wichtigste Instrument, um gegen extremistische Einflüsse vorzugehen“, sagt Marcus Sheff gegenüber Audiatur-Online. Seit Jahrzehnten hätten Schulbücher „Generationen in arabischen und muslimischen Ländern“ dazu veranlasst, Israel und Juden zu hassen. „Der palästinensische Lehrplan etwa fördert einen kontinuierlichen Krieg gegen Israel, indem er eine Kultur des Dschihad, des Martyriums, der Ablehnung von Verhandlungen und der Errichtung eines einzigen palästinensischen Staates vom Jordan bis zum Mittelmeer durch gewaltsame Konflikte propagiert.“ Auch der iranische Lehrplan fordere direkt die Zerstörung Israels. Saudische Lehrbücher bezeichneten Juden als Affen. Lehrpläne für Islamwissenschaft an islamischen Schulen in den USA delegitimierten Israel und verbreiteten Hass; ein französisches Schulbuch nenne Israel „aktuelles Palästina“, so Sheff. „Lehrpläne sind der Schlüssel zum Erreichen einer toleranten und aufgeschlossenen Gesellschaft der Zukunft“, sagt er. „Aber sie sind auch der Ort, an dem negative Einflüsse auftreten: verzerrte historische Erzählungen, Hass auf den Anderen, Ungleichheiten zwischen den Geschlechtern und politische Gewalt.“

Über Stefan Frank

Stefan Frank ist freischaffender Publizist und lebt an der deutschen Nordseeküste. Er schreibt regelmässig über Antisemitismus und andere gesellschaftspolitische Themen, u.a. für die „Achse des Guten“, „Factum“, das Gatestone Institute, die „Jüdische Rundschau“ und „Lizas Welt“. Zwischen 2007 und 2012 veröffentlichte er drei Bücher über die Finanz- und Schuldenkrise, zuletzt "Kreditinferno. Ewige Schuldenkrise und monetäres Chaos."

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