Israels vielseitige Macht und seine Schwächen

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Die israelische Flagge weht im Wind an der Luftwaffen-Übung Blue Wings 2020. Foto IMAGO / Manngold
Die israelische Flagge weht im Wind an der Luftwaffen-Übung Blue Wings 2020. Foto IMAGO / Manngold
Lesezeit: 6 Minuten

Dies ist der letzte Artikel für das BESA Center von Dr. Manfred Gerstenfeld vor seinem Tod am 25. Februar 2021. Möge sein Andenken zum Segen sein.

Bezüglich seiner Stärken und Schwächen ist Israel sehr schwierig zu beurteilen. Dies wird deutlich, wenn man es mit einem westeuropäischen Land mit einer ähnlich grossen Bevölkerung vergleicht, sagen wir mit Belgien. Letzteres ist Mitglied des NATO-Militärbündnisses: Seine militärische Macht ist in die NATO integriert und die Ressourcen des Landes in diesem Bereich hängt von der NATO ab. Die politische Macht Belgiens ergibt sich weitgehend aus der Mitgliedschaft in der EU. Das Gleiche gilt in hohem Masse für seine «Soft Power».

Eine ähnlich prägnante Analyse ist für Israel nicht möglich. Die militärische Macht des Landes drückt sich nur selten in vollwertigen Kriegen aus. Die bewaffneten Auseinandersetzungen mit palästinensischen und arabischen Terrororganisationen im Libanon und im Gazastreifen lassen sich am besten als Militär-Kampagnen beschreiben. Israel unternimmt von Zeit zu Zeit militärische Aktionen in Syrien, die sich teilweise gegen die dort stationierten iranischen Streitkräfte richten. Es reagiert auch auf Raketenbeschuss und anderen Angriffen aus dem Gazastreifen. In diesen Konflikten wird nur ein kleiner Teil der militärischen Fähigkeiten Israels eingesetzt.

Israel wird aber von der iranischen Regierung regelmässig mit Völkermord und Vernichtung bedroht. Das ist eine gewaltige Bedrohung. Israel muss voll und ganz darauf vorbereitet sein, einen solchen Angriff zu verhindern, falls er unternommen werden sollte.

Die Cybertechnologie, die sowohl zum Angriff als auch zur Verteidigung eingesetzt wird, ist eine neue Form dessen, was man als halbmilitärische Macht bezeichnen könnte. Der Angriff des Computerwurms Stuxnet auf mehrere iranische Atomanlagen in den Jahren 2009-2010 ist ein Beispiel dafür. Viele glauben, dass diese Aktion von den USA und Israel durchgeführt wurde. Ein weiterer Cyberangriff, von dem Experten glauben, dass er von Israel durchgeführt wurde, war der Angriff auf den Iran, der das Hafenterminal Shahid Rajaee am 9. Mai 2020 ausser Kraft setzte.

Ein weiterer Aspekt der Macht, der einen militärischen Aspekt beinhaltet, ist die innere Sicherheit. In Israels Kampf gegen palästinensische Terroristen spielt diese eine wichtige Rolle. Experten aus vielen Ländern kommen nach Israel, um etwas über Sicherheit zu lernen und die israelische Regierung veröffentlicht Informationen über ihr breites Angebot an Schulungen zur inneren Sicherheit, doch in den internationalen Mainstream-Medien wird dies nur selten diskutiert.

Im Bereich der Cybersicherheit bieten israelische Technologieanbieter Telekommunikations- und Netzwerksicherheit, Finanzabwicklung, Datensicherheit und hochmoderne biometrische Identifikationssysteme wie E-Pässe an, die inzwischen von mehreren europäischen und asiatischen Ländern benutzt werden.

Auch Israels machtpolitische Situation ist komplex. Ob sie sich am 20. Januar 2020, als die Biden-Administration die pro-israelische Trump-Regierung in den USA ablöste, radikal zum Schlechteren verändert hat, bleibt abzuwarten.

Israels jüngste Friedensabkommen mit vier arabischen Staaten sollten nicht als primär amerikanische Errungenschaften betrachtet werden, obwohl die USA eine grosse Rolle dabei spielten. Sie spiegeln das Ansehen der politischen Stärke Israels in einem Teil der arabischen Welt wider. Mit der Normalisierung der Beziehungen zu Israel revidierten diese Staaten ihre vermeintlich unbegrenzte Unterstützung für die Palästinenser.

In den späten 1980er Jahren prägte der Harvard-Politologe Joseph Nye den Ausdruck «Soft Power». Er beschrieb sie als «Fähigkeit eines Akteurs, andere für sich einzunehmen oder zu einer im eigenen Interesse stehenden Entscheidung zu bewegen, ohne dabei Zwangsmassnahmen anzuwenden». Israels Friedensabkommen mit den vier arabischen Ländern können als «Soft Power» betrachtet werden.

Der Begriff der Soft Power als allgemeiner Begriff ist jedoch nicht sehr hilfreich, um Israels besondere Situation zu verstehen. Das Konzept muss in seine Bestandteile zerlegt werden. Sagt uns zum Beispiel der massive frühe Kauf von Impfstoffen zum Schutz vor der Coronavirus-Infektion Covid-19 durch Israel viel über seine «wirtschaftliche Macht»? Reichere Länder mit einer einigermassen ähnlich grossen Bevölkerung, wie die Schweiz, hätten mehr bezahlen können, taten es aber nicht. Bedeutet das, dass Israel mehr Wirtschaftskraft hat als die Schweiz? Vermutlich nicht.

Ein Teil von Israels «Soft Power» im wirtschaftlichen Bereich stammt aus seinen High-Tech-Forschungsaktivitäten. Wir könnten dies als eine Unterkategorie namens «Forschungsmacht» bezeichnen. In Anbetracht der Grösse seiner Bevölkerung sind Israels Ressourcen im High-Tech-Bereich beachtlich. Es gibt etwa 75 Unternehmen in israelischem Besitz, die an der NASDAQ gelistet sind, die zweitgrösste Anzahl ausländischer Firmen an der US-Börse (nach Kanada). Zwischen 2010 und 2019 betrug der gesamte Marktwert israelischer High-Tech-Firmen etwa 111 Milliarden Dollar. Viele führende ausländische Unternehmen wollen sich Israels intellektuelles Potenzial zunutze machen und mit seinen Hightech-Unternehmen zusammenarbeiten.

Israel ist auch ein attraktiver Forschungspartner für andere Nationen. Ein Zeichen dafür war seine Teilnahme an Horizon 2020, dem grössten EU-Forschungs- und Innovationsprogramm in der Geschichte. Das Programm stellte über einen Zeitraum von sieben Jahren (2014 bis 2020) fast 80 Milliarden Euro zur Verfügung, um die globale Wettbewerbsfähigkeit Europas zu sichern.

Es gibt auch ein Phänomen in Bezug auf Israel, das sich am besten als mythische Macht beschreiben lässt. Diese Macht wird nicht durch den Staat selbst gefördert, sondern existiert in der Phantasie einiger Menschen im Ausland. Israelische Diplomaten haben mir erzählt, dass manche dieser Leute glaubten, die Protokolle der Weisen von Zion seien eine akkurate Beschreibung der Macht Israels. Mehrere dieser Botschafter sagten mir, dass sie nicht versuchten, ihre Gesprächspartner über das Thema aufzuklären, da es praktischer war, sie an diese mythische Macht glauben zu lassen.

Eine weitere Manifestation dieser mythischen Macht ist der Glaube, dass Israel oder die «jüdische Lobby» die US-Regierung kontrolliert. Dass dies falsch ist, wurde während der Präsidentschaft von Barack Obama überdeutlich, der Israel sehr viel Schaden zugefügt hat, zum Beispiel durch das JCPOA-Abkommen mit dem Iran, das Israel ablehnte. Der Mossad hat auch für viele mythische Kräfte und Ausmasse. Dieser Glaube wurde verstärkt, als der Mossad im Frühjahr 2018 einen riesigen Fundus an geheimen Dokumenten über das iranische Atomprogramm aus Teheran herausschmuggelte.

Israel leidet aber auch unter dem Mythos der Schwäche. Juden waren fast zwei Jahrtausende lang machtlos. Das hat eine unverhältnismässig grosse Zahl von israelischen und jüdischen Masochisten – und in geringerem Ausmass sogar Selbsthassern – hervorgebracht, die viel tun, um Israels Macht zu untergraben. Je extremer die Behauptungen dieser Verfälscher der Moral sind, desto hilfreicher sind sie für Israels Feinde. Diese Juden haben nichts aus dem Holocaust gelernt.

Ein weiterer Faktor, der nicht vernachlässigt werden sollte, ist die religiöse Macht. Israel ist ein kleines Land, und das Judentum hat im Vergleich zu den beiden anderen monotheistischen Religionen, dem Christentum und dem Islam, eine äusserst begrenzte Zahl von Anhängern. Dennoch spielte das Judentum eine bedeutende Rolle in der Entwicklung der westlichen Zivilisation – zum Teil aufgrund seiner einzigartigen Beziehung zum Christentum, der dominierenden religiösen Kraft im Westen.

Ein weiterer Aspekt der «Soft Power» ist die kulturelle Macht. In unserer Zeit bedeutet dies vor allem Erfolg auf dem Gebiet der Populärkultur. Eine Reihe von israelischen Fernsehserien wurden vom amerikanischen Fernsehen gekauft. Mehrere wurden auf Netflix gezeigt und waren bei amerikanischen und anderen westlichen Zuschauern sehr beliebt.

Es gibt jedoch ein grosses Feld der Macht, in dem Israel stark unterdurchschnittlich abschneidet. Das ist der Bereich der diplomatischen Macht und die Bekämpfung der anti-israelischen Propaganda. Es gibt eine langjährige kontinuierliche Attacke auf Israel bei der UNO und ihren angeschlossenen Gremien. Andere Quellen der Feindseligkeit gegenüber Israel sind sogenannte «Menschenrechts»-NGOs, Akademiker, Gewerkschaften und die Medien. Viele dieser Personen und Organisationen sind links, und viele bezeichnen sich selbst als progressiv – eine Perversion der Bedeutung des Begriffs.

Israel hat zahlreiche Versuche unternommen, das Image des jüdischen Staates zu verbessern. Keiner war jedoch sonderlich erfolgreich, da es keine nationale Gegenpropaganda-Agentur gibt. Die Stadt Tel Aviv hat versucht, sich als besonders und anders als Israel zu etablieren. Das Fehlen einer Agentur für Gegenpropaganda ist ein ernsthafter Mangel, der Israel für Verleumdungen anfällig macht.

Dr. Manfred Gerstenfeld war Senior Research Associate am BESA Center, ehemaliger Vorsitzender des Steering Committee des Jerusalem Center for Public Affairs und Autor des Buches The War of a Million Cuts. Er wurde u.a. mit dem International Lion of Judah Award 2019 des Canadian Institute for Jewish Research geehrt, der ihn als führender internationaler Experte für zeitgenössischen Antisemitismus würdigt. Übersetzung Audiatur-Online.