Im Jahr 2020 wurden in der Deutschschweiz, laut einem Bericht des Schweizerischen Israelitischen Gemeindebundes (SIG) und der Stiftung gegen Rassismus und Antisemitismus (GRA), ohne Onlinebereich 47 antisemitische Vorfälle registriert. Darunter waren 11 Beschimpfungen,15 Schmierereien und eine Sachbeschädigung. Tätlichkeiten wurden keine gemeldet. Damit bewegt sich die Anzahl der Vorfälle laut den beiden Organisationen wie im Vorjahr auf tiefem Niveau, allerdings mit Ausnahme einer Steigerung bei den Schmierereien. Da die Erhebungen auf freiwilligen Meldungen basieren, wird auch von einer Dunkelziffer ausgegangen. Dasselbe gilt für den Onlinebereich, in dem zusätzlich aufgrund des immensen Umfangs eine vollständige Abdeckung nicht möglich sei. Mit 485 Fällen wurden 2020 exakt gleich viele Onlinefälle wie 2019 registriert, was einem Verharren auf hohem Niveau entspricht.
Die Coronapandemie als Antisemitismus-Trigger
Im Jahr 2020 spielte laut dem Bericht die Coronapandemie als «Trigger» eine grosse Rolle. Das zeigt sich bei antisemitischen Verschwörungstheorien, die wieder zugenommen haben und in knapp der Hälfte der Fälle einen Zusammenhang mit der Coronapandemie aufweisen. Weiter habe aber eine massive Verschiebung innerhalb der Onlinekanäle hin zu Gruppenchats des Messengerdienstes Telegram stattgefunden, der während der Coronakrise stark an Bedeutung gewann. Allein 143 Vorfälle wurden, gemäss einer gemeinsamen Mitteilung von SIG und GRA, in sieben dieser Gruppenchats registriert. Das macht knapp ein Drittel der gesamten Onlinevorfälle aus. Darunter fallen Verschwörungstheorien sowie Aussagen und Bilder mit antisemitischen Inhalten. Aufgrund der vielfach beobachteten ablehnenden Reaktionen auf antisemitische Posts könne allerdings kein mehrheitsfähiges, antisemitisches Gedankengut bei den Corona-Rebellen erkannt werden. Im Vergleich zu anderen Ländern scheinen die verbreiteten Verschwörungstheorien rund um die Pandemie weniger antisemitische Anschlusspunkte aufzuweisen. Dennoch zeigen die Zahl der Vorfälle mit Coronabezug und die Anziehungskraft der Corona-Rebellen für antisemitisch eingestellte Personen, dass die Coronapandemie Potential für ein Anwachsen und die Verbreitung von Antisemitismus bietet. Der SIG und die GRA fordern einerseits die Behörden dazu auf, entsprechende Massnahmen in Prävention und Strafverfolgung in diesem Bereich zu verstärken. Andererseits müssen sich die Social Media-Plattformen ihrer Verantwortung stellen und griffige Massnahmen gegen die Verbreitung solcher Inhalte treffen. Ganz generell sind jede und jeder Einzelne, die Politik und die Bildungsinstitutionen gefordert, sich klar und aktiv gegen die Verbreitung und die Inhalte von Verschwörungstheorien zu stellen.
Instrumentalisierung der Schoah unter Corona-Rebellen
Hochproblematisch sind gemäss SIG und GRA wiederum die in der Szene der Corona-Rebellen mehrfach beobachteten, unangebrachten Vergleiche zum nationalsozialistischen Regime und zur Verfolgung und Ermordung der Juden während der Schoah. So wurden beispielsweise mehrfach «Judensterne» mit der Aufschrift «ungeimpft» oder «Maskenattest» sowohl bei Telegram als auch auf Demonstrationen gesichtet. Die Vergleiche können nach der Antisemitismusdefinition der International Holocaust Remembrance Alliance IHRA nicht als antisemitisch klassiert und damit auch nicht der Kategorie «Schoahbanalisierung» zugeteilt werden. Die Vergleiche in diesem Kontext führen aber schliesslich in der Menge, Häufigkeit und Verbreitung zu einer Abschwächung der Wahrnehmung der damaligen Ereignisse und somit doch zu einer Verharmlosung. Der SIG und die GRA rufen eindringlich dazu auf, die Instrumentalisierung der Schoah als alltägliches Mittel der Debatte zu unterlassen und ihr, auch in allen anderen gesellschaftspolitischen Debatten, vehement zu widersprechen.
Gesamtschweizerische Situation
Die Situation in der Westschweiz wird von der Coordination Intercommunitaire contre l’Antisémitisme et la Diffamation CICAD mit einem eigenen Bericht erhoben. Die Entwicklungen sind laut SIG und GRA grundsätzlich in beiden Landesteilen vergleichbar, es gebe jedoch auch Unterschiede. Bei den Vorfällen ohne Onlinebereich wurde in der Westschweiz eine Abnahme bei körperlichen und verbalen Übergriffen und kein Vandalismus gegenüber Synagogen verzeichnet. Im Onlinebereich sei hingegen eine deutliche Zunahme von Vorfällen erfasst worden.