Wir gehen dann mal zum Impfen – Wie der israelische Rechtsstaat in der Praxis funktioniert

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Das grösste COVID-19-Impfzentrum in Israel, wurde am Rabin-Platz in Tel Aviv errichtet. Foto Eitan Elhadez-Barak/TPS
Das grösste COVID-19-Impfzentrum in Israel, wurde am Rabin-Platz in Tel Aviv errichtet. Foto Eitan Elhadez-Barak/TPS
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Beim Versuch zu erläutern, warum ausgerechnet Israel der „Weltmeister“ beim Impfen gegen Corona ist, während es in Deutschland überhaupt nicht klappt, kam Reiner Erich Haseloff, der honorige Ministerpräsident des Landes Sachsen-Anhalt, gewaltig ins Stottern. Deutschland sei halt ein „ausgefeilter Rechtsstaat“, meinte er am Ende. Man könnte jetzt kontern, wie in Israel Gesetze zustande kommen, wie Gerichte und Polizei arbeiten usw. Aber dann wäre ja immer noch nicht geklärt, wie das nun funktioniert mit dem Rechtsstaat Israel und dem Impfen.

Zwei Deutsche wollen einen Impftermin in Jerusalem – geht das?

Wir beschlossen deshalb, uns hier in Jerusalem gegen Covid-19 impfen zu lassen. Nebenbei wäre das momentan auch unsere einzige Chance. Für einen Impftermin in Haseloffs ausgefeiltem rechtsstaatlichen Musterland wäre selbst ich mit meinen 70 Jahren entschieden zu jung. „Halles Oberbürgermeister Bernd Wiegand sagte“, so lese ich hier „300 von rund 800 Impfinteressierten über 90 Jahre habe bisher ein Termin gegeben werden können. Für die weiteren Senioren gebe es bisher keinen Impfstoff.“ In Israel sind derweil jetzt schon 45-jährige dran. Allerdings sind wir natürlich keine Israelis.

Impfungen werden in Israel von den gesetzlichen Krankenkassen durchgeführt. Mitglied in einer Krankenkasse kann man in Israel nur werden, wenn man eine israelische Identitätsnummer besitzt. Ich bin privatversichert in Deutschland und meine Partnerin hat hier bloss eine Reiseversicherung des ADAC. Um dennoch eine Covid-Impfung zu erhalten, wandten wir uns an den für Auslandskorrespondenten zuständigen Beamten beim Presseamt. Der hat sich schon in früheren Jahren als äussert effizient und hilfreich erwiesen. Kurz darauf antwortete er per E-Mail und Telefon: Ausländische Korrespondenten könnten sich wohl beim Impfzentrum im Teddy Kollek Fussballstadion im Süden Jerusalems impfen lassen. Er empfahl den Pass mitzubringen. Ansonsten würde da nicht gefragt und auch keine Zahlung verlangt. Allerdings sei das nicht offiziell. Also los!

Teddy Kollek Fussballstadion jetzt auch Impfzentrum. Foto Elisabeth Lahusen

In dem riesigen Stadion waren in der Tat die gesamten Eingangshallen in Impfstationen umfunktioniert worden. Im ersten Saal wurden wir allerdings gleich abgewiesen, weil wir nicht Mitglied bei einer der israelischen  Krankenkassen sind. im zweiten Saal waren die Mitarbeiter beim Eingang etwas umgänglicher. Doch auch dort war die Abweisung eindeutig. Uns fehlte einfach die Krankenkassenkarte für das Lesegerät und es gab keine Formulare. Eine Ärztin kam extra zu uns und erklärte, am Tag zuvor sei die Anweisung vom Gesundheitsministerium gekommen, keine Ausländer mehr und auch keine Nicht-Mitglieder der Krankenkasse zu impfen. Wie es im Deutschen heisst, „ausser Spesen (für die Taxifahrt zum Stadion), nichts gewesen.“ Per E-Mail bestätigte der Beamte im Presseamt abends, dass es da wohl eine Änderung der Politik gegeben hätte. Doch schon einen Tag später kam die nächste Mail von ihm:

Dear Ulrich,

We are finally able to make this official: you are now eligible to be vaccinated against COVID-19, regardless of your insurance and for no cost, at Hadassah Hospital in Ein Kerem, Jerusalem, Panama Hall – Tomorrow, Tuesday, 19 January, between 10:30am to 15:30pm. No need to make an appointment, just come on time with your passport. An appointment for the second dose, 21 days later, will be made for you on the spot.

The GPO wishes you all good health and spirit.

Cheers Ron

Innerhalb von 24 Stunden hatte sich also alles geklärt.

„Du kannst jetzt unabhängig von Deiner Versicherung und kostenlos im Hadassah-Krankenhaus gegen COVID-19 geimpft werden. Du musst keinen Termin vereinbaren, komm einfach pünktlich mit Deinem Reisepass.“

Es schien zu schön, um wahr zu sein. Wir waren skeptisch. Die wollten im Hadassah wirklich nur den Reisepass sehen. Die kleine repräsentative Veranstaltungshalle im Eingangsbereich war für die Impfaktion pragmatisch unterteilt worden. Ein junger Student tippte am Eingang unsere Daten in einen Computer. Ein weiterer gab uns je einen Fragebogen auf Hebräisch zu Vorerkrankungen und Allergien und fragte nach einer Telefonnummer, um uns später an den 2. Termin erinnern zu können. Drorit, eine nette und fröhliche Krankenschwester, führte uns dann zu einer der acht offenen provisorischen Kabinen. Während ich meine Schulter freilegte, machte sie schon die 1. Impfspritze fertig. Danach kam meine Begleiterin dran. Nach der Impfung sollten wir uns im Saal noch 20 Minuten in einem Sessel ausruhen. Anschliessend schaute eine Ärztin vorbei, und weil wir uns prima fühlten, waren wir entlassen. Beim Ausgang wartete eine gutgelaunte Schlange von Menschen, die per SMS schon zum 2. Impftermin eingeladen waren. Die zeigten jeweils eine Prüfnummer auf ihrem Smartphone vor und durften dann ohne Weiteres in den Impfkabinen Platz nehmen. Tatsächlich hatte ich am Tag darauf per SMS vom Hadassah-Hospital die Bestätigung, dass ich um 10:45Uhr mit dem Impfstoff Covid19-BNT.162b2 geimpft worden sei. Ebenso kam eine Einladung für den 9. Februar, um die vorgeschriebene zweite Impfung zu erhalten und die Bitte, sich direkt am Wohnort im Gesundheitszentrum zu melden, falls es im Nachhinein noch irgendwelche Komplikationen gäbe.

Ulrich Sahm bekommt seine Impfung. Foto Elisabeth Lahusen.

Selbst die Stadtverwaltung ist pragmatisch

Auf nichts ist Deutschland bekanntlich so stolz wie auf die Mülltrennung. Es gibt da genaue Vorschriften, welche Mülltonnenfarbe zu welcher Art Abfall gehört. Öffentliche Container für Glasflaschen, Textilien und kleine Elektrogeräte vervollständigen das System. Jeder Haushalt hat seine eigenen Tonnen. Jede Tonne wird nach einer eigenen Regel befüllt und geleert. Das System ist bis ins Letzte ausgefeilt und geregelt. Nach 50 Jahren in Jerusalem stelle ich bei meinen kurzen Besuchen in der „Heimat“ immer wieder fest, dass ich wohl zu blöd dazu bin, um zu verstehen, warum der norddeutsche Nachbar darüber hinaus seine Mülltonnen sogar noch mit einem Vorhängeschloss sichert.

In Jerusalem ist alles viel „einfacher“. Früher standen metallene Container bereit, in die jeder alles reinwerfen konnte. Sie konnten von speziellen Lastwagen in jede freie Parklücke geschoben werden. Weil sie offen waren, dienten sie allerdings als paradiesisches Fresslokal für die zahllosen streunenden Katzen. Inzwischen wurden alle paar hundert Meter tiefe Löcher in den Untergrund geschlagen. In sie werden mehrere Meter lange Metallbehälter eingelassen, auf die „Müllcontainer“ mit hermetisch geschlossenen Deckeln geschweisst sind. Die sind so konstruiert, dass weder Kinder noch Katzen in den Müll fallen können. Leider sind sie in unserer Gegend aber Mangelware. Schuld ist die Geografie.

Unterirdische Abfallsammelsysteme der Firma Alon Group Ltd in Israel. Foto Alon Group Ltd

Ich wohne an einem steilen Hügel, wo die einzelnen Häuser terrassenförmig übereinander auf und in den Felsen gebaut wurden. Viele Stufen rauf zum Müllcontainer auf dem Berg zu laufen ist echte Arbeit. Zumal der Winterregen die Treppe innerhalb von Minuten in einen Sturzbach verwandelt. Warum diesen Aufwand betreiben, wenn jeden Morgen sowieso das Auto der Stadtverwaltung kommt, das den Müll drei Meter unter dem Haus bei der Bushaltestelle entsorgt? Wir stellten unsere Tüte also einfach mal runter und am nächsten Morgen gegen 5 Uhr wurde sie abgeholt. Allerdings war das natürlich ungesetzlich. Wenige Stunden später erschienen dann auch an der Haustür zwei uniformierte und bewaffnete Herren im Auftrag der Stadtverwaltung und erklärten streng, dass das nächtliche Ablegen des Hausmülls auf dem Bürgersteig verboten sei. Netterweise gaben sie uns aber auch die Nummer ihres Vorgesetzten, der sie geschickt hatte. Ich rief daraufhin bei der Stadtverwaltung an, um zu erfahren, wie ich in meiner Gegend als alter herzkranker Mensch ohne Auto legal meinen Müll entsorgen könnte. Die offiziellen Mülltonnen seien viel zu weit entfernt aufgestellt, um den Müll bis dorthin schleppen zu können. Meine Müllgebühr hätte ich ja brav bezahlt. Der Mitarbeiter hörte sich meine Bedenken an. Er hatte volles Verständnis und gleich auch eine Idee, wie sie wohl nur im unbürokratischen Israel denkbar ist. Sowie sich ein paar Müllsäcke angesammelt hätten, sollte ich ihn über seine private Handynummer anrufen. Er werde dann einen Kleinlaster vorbeischicken. Tatsächlich kommen die Vertreter der Stadtverwaltung seitdem jeweils innerhalb einer halben Stunde nach Anruf vorbei und parken unterhalb der Mauer zu meinem Vorgarten. Ein junger starker Mann springt auf die Ladefläche, macht einen Klimmzug über die Mauer und wirft dann von oben Mülltüten, gebündelte Gartenabfälle und Kleinschrott auf die Ladefläche des Pickups. Ein kurzer Gruss, ein schneller Sprung und weg sind sie. Das Problem ist gelöst und alle sind zufrieden.

Israelisches Impf Maskottchen: “Wir werfen Covid weg”. Foto Elisabeth Lahusen.

Das ist typisch israelisch: Es gibt durchaus Vorschriften und Gesetze, aber immer wieder gibt es auch Lücken, die im Gesetz nicht vorgesehen oder beachtet worden sind. Kriegserprobt sind die Israelis in jeder Lebenslage fähig, für alle kleinen und grossen Probleme originelle Auswege zu finden. Notfalls auch mit einem eleganten Sprung über eine Gartenmauer. Und deshalb sind die Israelis auch schon Impfweltmeister, während Deutschland immer noch an den Vorschriften feilt.

Über Ulrich W. Sahm

Ulrich W. Sahm, Sohn eines deutschen Diplomaten, belegte nach erfolgtem Hochschulabschluss in ev. Theologie, Judaistik und Linguistik in Deutschland noch ein Studium der Hebräischen Literatur an der Hebräischen Universität in Jerusalem. Seit 1975 ist Ulrich Sahm Nahost-Korrespondent für verschiedene deutschsprachige Medien und berichtet direkt aus Jerusalem.

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