Kaddish-Initiative: Gedenken an den Exodus von Juden aus dem Nahen Osten und Nordafrika

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Irakische Juden, die den Flughafen Lod in Israel verlassen, auf dem Weg zum Transitlager Ma'abara, 1951. Foto GPO Israel.
Irakische Juden, die den Flughafen Lod in Israel verlassen, auf dem Weg zum Transitlager Ma'abara, 1951. Foto GPO Israel.
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Der jüdische Kalender ist voll von religiösen und weltlichen Daten, die von bedeutenden Anlässen und Ereignissen in der jüdischen Geschichte zeugen. Obwohl das Exil der Juden im entfernten Babylon vor 2500 Jahren, ausserhalb des Landes Israel, das längste war, wird es kaum untersucht. Und es ist sicherlich das Ereignis, das den Menschen am wenigsten präsent ist.

von David Dangoor

Im Jahr 2014 verabschiedete Israel ein Gesetz, dass den 30. November offiziell zum Tag des Gedenkens an die Ausreise und Vertreibung von Juden aus arabischen Ländern und dem Iran machte – ein Datum, welches heute in jüdischen Gemeinden auf der ganzen Welt gewürdigt wird. Nichtsdestotrotz gibt es nach wie vor viele Aspekte im Zusammenhang mit den Juden aus arabischen Ländern, mit denen nur wenige andere jüdische Gemeinden konfrontiert sind.

Im Jahr 2017 begab sich Sass Peress, ein Kanadier irakisch-jüdischer Herkunft, auf eine Entdeckungsreise, um das Grab seines eigenen Grossvaters in Sadr City, Bagdad, zu finden. Mit Hilfe einheimischer Muslime begann er, die Gräber seiner Familie auszugraben, erkannte aber auch die erbärmliche Verwahrlosung auf jüdischen Friedhöfen im Irak, von denen einige zerstört worden waren. Andere sahen, dass jüdische Friedhöfe rund um den Nahen Osten und Nordafrika entweder abgerissen wurden, wie in Tripolis für ein Hotel, oder sich in einem schrecklichen Zustand befanden. Abgesehen von Marokko waren fast alle Friedhöfe für Juden unzugänglich.

Im Jahr 2018 lancierte Sass den Beginn eines Prozesses, der zu einem globalen Moment der Einheit und des Gedenkens führte, in dessen Rahmen jedes Jahr in Synagogen auf der ganzen Welt gemeinsam Kaddish (das Gebet der Trauernden) und Azkara (ein Gedenkgebet) rezitiert wurden, als Zeugnis und Erinnerung für Juden, deren Familienmitglieder auf nicht mehr zugänglichen Friedhöfen in arabischen Ländern begraben sind.

Im ersten Jahr nahmen 12 Gemeinden teil; im letzten Jahr wurde die Teilnahme auf mehr als 50 Gemeinden auf vier Kontinenten ausgeweitet.

In diesem Jahr rufen wir Synagogen und andere jüdische Einrichtungen aller Richtungen auf, diese Gebete am nächstgelegenen Schabbat zum Gedenktag am 28. November zu sprechen. Dies im Gedenken und solidarisch mit den Juden aus dem Nahen Osten und Nordafrika, die diese Gebete nicht im Beisein ihrer verstorbenen Familienmitglieder sprechen können, weil viele der Friedhöfe unzugänglich sind.

Organisationen, die Millionen von Juden repräsentieren – aus Gemeinschaften aus dem gesamten religiösen Spektrum und aus der ganzen Welt – haben sich bereits angemeldet. Tausende haben bereits das von Rabbiner Joseph Dweck, dem Oberrabbiner der S&P-Sephardi-Gemeinschaft Grossbritanniens, verfasste Gebet heruntergeladen, das in Synagogen, in Zoom-Gottesdiensten oder einzeln rezitiert werden soll, da öffentliche Gebete aufgrund der Coronavirus-Pandemie nur eingeschränkt möglich sind.

Im Judentum sind wir dazu bestimmt, durch Rituale zu verstehen und zu lernen. Das Sprechen der Kaddish- und Askara-Gebete ist zwar weitgehend ein religiöses Unterfangen, aber es ist weit mehr als das. Es geht darum, ein Bewusstsein für die Geschichte und die Notlage unseres Volkes zu schaffen, das noch immer unter den Folgen des Exodus von Juden aus arabischen Ländern im 20. Jahrhundert leidet.

Ganze Gemeinschaften von fast 1 Million Juden, die seit Jahrtausenden in diesen Gebieten gelebt hatten, wurden innerhalb weniger Jahrzehnte vertrieben, so dass nur noch sehr wenig von ihrer Präsenz oder Existenz übrig blieb.

Dank Organisationen wie Diarna, The Geo-Museum of North African and Middle Eastern Jewish Life, können viele von uns ihre früheren Wohnorte und Gemeinden sehen, wenn auch nur virtuell.

Die wenigen, denen es gelingt, sie persönlich zu besuchen, wie zum Beispiel der libysch-jüdische David Gerbi, riskieren Leib und Leben. Gerbi kehrte 44 Jahre nach der Flucht seiner Familie in die Synagoge in Tripolis zurück und bezahlte fast mit seinem Leben. Während er kurz dort war, um die Gebetshalle aufzuräumen und ein paar Gebete zu sprechen, formierte sich ein wütende Menschenmengen um ihn herum.

“Sie sagten mir, wenn ich jetzt nicht gehe, würden sie mich töten, weil sie hier keine Juden haben wollen”, sagte Gerbi, der dann von angeheuerten Sicherheitskräften weggeführt wurde.

Das ist die traurige Realität für viele von uns, obwohl wir die Hoffnung haben, dass das Abraham-Abkommen eine neue Ära der Annäherung zwischen Juden und Arabern in der Region einläuten könnte. Bevor wir jedoch in der Lage sind, diese Fragen bei unseren Nachbarn voranzutreiben, müssen wir in der jüdischen Welt mehr Verständnis, Bewusstsein und Solidarität schaffen.

Viele Jahre lang wurden die Geschichte und der Exodus der Juden aus dem Nahen Osten und Nordafrika von jüdischen Institutionen, Synagogen, Schulen und Organisationen in Israel und auf der ganzen Welt kaum anerkannt oder erinnert. Obwohl die Mehrheit der Juden in Israel und rund 1 Million Juden in der Diaspora aus dem Nahen Osten und Nordafrika stammen, muss ein grösseres Bewusstsein für die Geschichte, Kultur und Tradition dieser Gemeinschaften geschaffen werden.

Anders als bei anderen jüdischen Tragödien gibt es keine gemeinschaftliche religiöse Solidarität für den Exodus und die Vertreibung von Juden aus arabischen Ländern.

Es ist daher von entscheidender Bedeutung, dass diese Initiative weitläufig Anerkennung findet, damit diese Gebete jährlich in Synagogen und jüdischen Institutionen in Israel und auf der ganzen Welt gesprochen werden. Selbst in Gemeinden, in denen es nur wenige Juden aus dem Nahen Osten und Nordafrika gibt, sind diese Gebete und ein Zeichen religiöser Solidarität unerlässlich, um die Barrieren zwischen unseren verschiedenen Gemeinschaften niederzureissen.

Um sich anzumelden und das Gebet herunterzuladen, gehen Sie bitte auf www.KaddishInitiative.com

David Dangoor ist Geschäftsmann und Philanthrop, Mitglied des Vorstands der Weltorganisation der Juden aus dem Irak (WOJI) und Ehrenpräsident der Vereinigung jüdischer Akademiker aus dem Irak. Auf Englisch zuerst erschienen bei Jewish News Syndicate. Übersetzung Audiatur-Online.