Volkswirtschaften im Nahen Osten: Gedämpftes Licht am Ende des Tunnels

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Eine Strasse in in Jordanien. Foto Craig Boudreaux / Unsplash.com
Eine Strasse in in Jordanien. Foto Craig Boudreaux / Unsplash.com
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Aktualisierte Schätzungen von Ökonomen der Weltbank und des Internationalen Währungsfonds (IWF) weisen auf die schwerwiegenden Folgen der Coronavirus-Pandemie für die Volkswirtschaften des Nahen Ostens hin, die noch schwerwiegender sind, als von den Institutionen im April 2020 vorhergesagt wurde. Die Aussichten für 2021 und die Schätzungen bezüglich der Länge der Erholungsphase nach der Krise geben Anlass zur Sorge über eine Verschärfung der bereits bestehenden regionalen Probleme sowie über eine ernsthafte Gefahr für die sozioökonomische Stabilität der Region.

von Oded Eran

Im vergangenen Monat revidierten die Ökonomen der Weltbank ihre frühere Schätzung, die bereits kein vielversprechendes Bild ergab. Sie gehen nun davon aus, dass die regionale Wirtschaft im Jahr 2020 um 5,2 Prozent schrumpfen wird, und schätzen, dass die Erholung im Jahr 2021, die von der Suche nach medizinischen Lösungen für die Coronavirus-Pandemie abhängt, nur partiell voranschreiten wird. Die Ökonomen des Internationalen Währungsfonds haben ihre Schätzungen ebenfalls revidiert und erwarten einen Rückgang des regionalen BIP um 4,1 Prozent im Jahr 2020 (gegenüber der Prognose vom April von 2,8 Prozent).

Der beschleunigte Anstieg der Gesundheitsausgaben und die Schaffung von Sicherheitsnetzen für gefährdete Bevölkerungsgruppen haben die Defizite der Regionalstaaten und damit auch ihren Finanzbedarf erhöht. Ökonomen der Weltbank schätzen, dass die regionale Staatsverschuldung im Verhältnis zum BIP von 45 Prozent im Jahr 2019 auf 58 Prozent im Jahr 2022 ansteigen wird. (Diese Rate ist im Vergleich zu anderen Ländern und Regionen auf der ganzen Welt relativ niedrig, da sie ölproduzierende Länder einschliesst, von denen die meisten im Verhältnis zum BIP keine hohe Staatsverschuldung haben). Die meisten Länder in der Region haben auf ein grundlegendes Massnahmenpaket zurückgegriffen, bestehend aus der Befreiung bestimmter Zahlungen, der Stundung von Steuerzahlungen und Gebühren, der Senkung der Zinssätze, der Ausgabe von Staatsanleihen, Übertragungen an Bevölkerungsgruppen mit niedrigem Einkommen, der Erhöhung der Liquidität der Banken, der Verringerung der Bankreserven und der Stundung von Darlehen. Die Ökonomen des IWF halten jedoch fest, dass die Rate der Nothilfe für die Volkswirtschaften der Region nur 2 Prozent des BIP betrug, während sie in der übrigen Welt 3 Prozent erreichte.

In der aktualisierten Schätzung weisen die Ökonomen, wie schon in der vorherigen, auf die Anfälligkeit der Volkswirtschaften der Öl- und Gasförderländer für einen drastischen Preisverfall hin, der gemäss den OPEC-Vereinbarungen über Förderbeschränkungen um 40 Prozent niedriger blieb als vor dem Ausbruch der Pandemie. Aufgrund ihrer hohen Abhängigkeit vom Ölpreis und der Tatsache, dass die Ölindustrie stärker betroffen ist als andere Industriezweige, erlitten die Förderländer im Vergleich zur gesamten Region einen stärkeren wirtschaftlichen Rückgang, der bis 2020 6,6 Prozent erreichen wird.

Lahmgelegte Tourismusindustrie

Bahrain ist der Hauptleidtragende unter den Ölproduzenten, sowohl wegen des Ölpreisverfalls als auch wegen der lahmgelegten Tourismusindustrie – ein Sektor, in den der Staat stark investiert hat. Während das BIP in diesem Jahr um 5 Prozent schrumpfen wird, kommt Bahrains enormer Anstieg der Staatsverschuldung überraschend; diese wird von Ökonomen der Weltbank auf 130 Prozent des BIP geschätzt – eine Zahl, die eher an den Libanon erinnert als an ein ölproduzierendes Land. In Saudi-Arabien, Bahrains unmittelbarem Nachbarland, wird das BIP im Jahr 2020 um 5,4 Prozent sinken, in der begründeten Annahme, dass Saudi-Arabien die Ölexportbeschränkungen aufrechterhält. Das Wachstum in anderen Industriezweigen wird zum Teil durch die Entscheidung belastet werden, den Mehrwertsteuersatz von 5 auf 15 Prozent zu erhöhen, um die Folgen des Anstiegs der Gesundheits- und Sozialausgaben einzudämmen.

In den Vereinigten Arabischen Emiraten wird sich die Verlangsamung der Wirtschaft wie in anderen gas- und ölproduzierenden Ländern fortsetzen, vor allem wegen der Verschiebung der Expo 2020, welche die lokale Wirtschaft hätte ankurbeln sollen. Es wird im Jahr 2020 ein Wachstumsrückgang von 6,3 Prozent erwartet, und wenn man davon ausgeht, dass die Expo im nächsten Jahr in Dubai stattfinden kann, darf mit einem Wirtschaftswachstum von 2.5 Prozent gerechnet werden. Die Ökonomen der Weltbank gehen davon aus, dass die Abraham-Abkommen aufgrund zunehmender kommerzieller und technologischer Zusammenarbeit zwischen Israel und den Vereinigten Arabischen Emiraten auch die wirtschaftlichen Möglichkeiten verbessern werden.

Die Länder der Region, die kein Gas und Öl fördern, haben ähnliche Aussichten, aber die Ursachen sind etwas anders. Ägypten, das immer noch in die Kategorie der Verbraucher fällt, obwohl es ein Gas- und Ölproduzent ist, verlor durch die Coronavirus-Krise 2,7 Millionen Arbeitsplätze, und die Arbeitslosigkeit stieg auf 9,6 Prozent (gemäss offiziellen Angaben, welche vermutlich viel niedriger liegen als die tatsächlichen Zahlen). Die Staatsverschuldung wird von 90,2 Prozent des BIP im Jahr 2019 auf 93,8 Prozent Ende 2020 steigen. Ägypten unternahm einen ungewöhnlichen Schritt, als es die Staatsverschuldung zugunsten von Versicherungsfonds senkte und damit die Staatsschuldenquote im Verhältnis zum BIP verringerte. Ägypten weicht auch vom regionalen Bild ab, da es ein positives Wachstum von 3,5 Prozent im Jahr 2020 (obwohl dies ein Rückgang im Vergleich zum geschätzten Wachstum im Jahr 2019 ist) und 2,2 Prozent im Jahr 2021 erwartet. Angesichts der fast vollständigen Schliessung der Tourismusindustrie in der gesamten Region und des starken Rückgangs der Überweisungen ägyptischer Arbeitnehmer ins Ausland ist dies ein weniger negatives Bild, als man hätte erwarten können.

Der Libanon hat weltweit in den Medien Aufmerksamkeit erregt, durch den zweifelhaften Titel, das erste Land in der Geschichte zu sein das Insolvenz angemeldet hat und nach der Explosion im Hafen von Beirut, bei der Hunderte von Menschen starben und das Hafengebiet weiträumig zerstört wurde. Das libanesische BIP dürfte 2020 um 19,2 Prozent und im kommenden Jahr um weitere 13,2 Prozent sinken.

Die zweite Welle des Coronavirus hat auch die palästinensische Bevölkerung und Wirtschaft getroffen und die Situation hat sich durch die anhaltende Verzögerung beim Transfer von Steuergeldern aus Israel an die Palästinensische Autonomiebehörde noch verschärft. Nach drei Jahren geringen Wirtschaftswachstums von jährlich 2 Prozent wird die Pandemie die wirtschaftliche Verlangsamung verschlimmern und das palästinensische BIP wird 2021 um 8 Prozent schrumpfen. Fast ein Drittel der palästinensischen Bevölkerung lebt bereits heute unterhalb der Armutsgrenze.

Die Prognosen der Ökonomen für den Erholungsprozess sind sowohl vorsichtig als auch zurückhaltend. Ihre Analysen weisen auf die Folgen der Arbeitsplatzverluste in der Tourismusindustrie in Jordanien, Libanon, Marokko und Ägypten hin, die sich auch mit der Rückkehr zur normalen Wirtschaftstätigkeit nicht vollständig erholen werden.

Verschlechterung des Bankensystems

Wirtschaftswissenschaftler argumentieren, dass das Risiko einer Unternehmensinsolvenz doppelt so hoch ist wie vor der Krise geschätzt, was es für Unternehmen in bestimmten Branchen schwierig machen wird, Kredite aufzunehmen. Dem Finanzsektor der Länder in der Region gebührt besondere Aufmerksamkeit, da er für die Fähigkeit der Regierungen, ein gewisses Mass an sozioökonomischer Stabilität aufrechtzuerhalten, von grundlegender Bedeutung ist. Ökonomen des IWF weisen auf die Verschlechterung des Bankensystems in Bahrain, Oman und den Vereinigten Arabischen Emiraten hin, die auf den Rückgang der Rentabilität und Stabilität infolge niedrigerer Zinssätze, Veränderungen der Liquiditätsquoten und einen Wertverlust der von den Banken gehaltenen Staatsanleihen zurückzuführen ist. Die Ökonomen der Weltbank, die eine Reihe von Annahmen untersuchten, schätzten den möglichen kumulativen Schaden auf 190 Milliarden Dollar im Verhältnis zum gesamten regionalen Finanzvermögen. Ihre Schlussfolgerung lautet, dass die Regierungen gezwungen sein werden, ein Gleichgewicht zu finden zwischen der Notwendigkeit, ein sozioökonomisches Sicherheitsnetz zu schaffen und die finanzielle Stabilität zu erhalten. Der sich möglicherweise daraus ergebende Aktionspunkt liegt in der Zurückhaltung im Zusammenhang mit Subventionen, Zuschüssen und anderen Hilfsmassnahmen für Bedürftige. Dies bedeutet aber eine Verlangsamung des Prozesses zur Überwindung der Krise sowie eine zunehmende Zahl von Menschen, die unterhalb der Armutsgrenze leben.

IWF und Weltbank empfehlen, die Bemühungen zur Erhaltung von Arbeitsplätzen, zur Sicherung der Liquidität von kleinen und mittleren Unternehmen und Haushalten und zum Schutz anfälligerer Bevölkerungsgruppen fortzusetzen. Nach Ansicht der Ökonomen verursacht die in Wellen wiederkehrende «Lockdown» Politik einen Rückgang der Produktivität, einen Anstieg der Arbeitslosigkeit und zunehmende Schwierigkeiten für kleine und mittlere Unternehmen, ihre weitere Tätigkeit zu finanzieren. Um dem fiskalischen Druck zu begegnen, wird empfohlen, die Steuereinziehung zu verbessern und zu rationalisieren, die Besteuerung so progressiv wie möglich zu gestalten, Brennstoffsubventionen schrittweise abzubauen und kurzfristig die Ausgaben für unnötige Haushaltsposten zu reduzieren.

Israel hat ein klares Interesse an den Konsequenzen der wirtschaftlichen Situation für die Stabilität der Länder der Region und insbesondere seiner unmittelbaren Nachbarn. Die Berichte der internationalen Wirtschaftsinstitutionen zeigen, dass die Regierungen Ägyptens und Jordaniens die Situation unter Kontrolle haben und mit dem gesundheitlichen und wirtschaftlichen Druck einigermassen gut umgehen. Der Wahlkampf und der Regierungswechsel in Jordanien haben in der Tat keine politischen Unruhen hervorgerufen.

Andererseits weist die wirtschaftliche Lage im Libanon und in der Palästinensischen Autonomiebehörde im Gegensatz zu den laufenden politischen Entwicklungen auf eine hohe Volatilität hin, sowohl intern als auch in den Beziehungen zu Israel. An diesen beiden Fronten ist Israel in der Lage, die politisch-ökonomische Stabilität unmittelbar und mittelfristig zu beeinflussen, und muss den Einsatz und den Zeitpunkt von Einflusshebeln in Betracht ziehen. Die Regelung des Transfers von Steuergeldern an die Palästinensische Autonomiebehörde ist für die Stärkung ihrer Stabilität unerlässlich und sollte Teil der Vorbereitungen sein, um aus der gegenwärtigen Krise der israelischen und palästinensischen Wirtschaft in allen Bereichen, die mit Arbeit und Handel zu tun haben, herauszukommen. Die Krise im Libanon erhöht einerseits das Potenzial für eine – wenn auch ungeplante – Konfrontation im Sicherheitsbereich, andererseits bietet sie aber auch eine Chance für eine politisch-wirtschaftliche Regelung, die dazu beitragen kann, das Risiko gefährlicher und unnötiger Spannungen zu verringern.

Oded Eran ist ein leitender wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institute for National Security Studies (INSS) und war von Juli 2008 bis November 2011 als Direktor des INSS tätig, nachdem er eine lange Karriere im israelischen Aussenministerium und in anderen Regierungsämtern hinter sich hatte. Übersetzung Audiatur-Online.