Israelischer Präsident: Rosch Haschana 5781 – Ich bitte Sie um Verzeihung

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Der israelische Präsident Reuven Rivlin. Foto Yonatan Sindel/Flash90.
Der israelische Präsident Reuven Rivlin. Foto Yonatan Sindel/Flash90.
Lesezeit: 5 Minuten

Die Rede des israelischen Staatspräsidenten Reuven Rivlin am Mittwoch, den 16. September / 27. Elul vor dem landesweiten Lockdown, der am Freitag, am Vorabend von Rosch Haschana, in Kraft treten wird:

Meine lieben israelischen Mitbürger, heute Abend spreche ich zu Ihnen am Vorabend des zweiten Lockdown des Staates Israel, und ich bitte Sie, mir und dem, was ich zu sagen habe, Ihr Herz zu öffnen. Ich weiss, dass wir als Führung nicht genug getan haben, um Ihrer Aufmerksamkeit würdig zu sein. Sie haben uns vertraut, und wir haben Sie im Stich gelassen.

Heute Abend möchte ich sagen, dass ich die Gefühle der Ratlosigkeit und Unsicherheit, die Angst, die viele Menschen empfinden, verstehe. Ich verstehe und möchte mich vor allem dafür entschuldigen. Auf persönlicher Ebene bitte ich Sie um Verzeihung für mein Verhalten hier in (der Residenz des Präsidenten) während des Lockdown während des Pessachfestes.

Ich habe mich in der Vergangenheit dafür entschuldigt, und ich tue es heute wieder. Meine Einsamkeit ist nicht schmerzhafter als die Einsamkeit, die viele von euch – die ihr so sorgfältig auf das Wort und den Sinn der Anordnungen geachtet habt – erfahren haben.

Auch auf nationaler Ebene bitte ich Sie heute um Verzeihung. Wir stehen kurz vor dem Beginn des neuen Jahres und tun uns schwer, Raum für die Feierlichkeiten zu schaffen, die uns jedes Jahr um diese Zeit begleiten.

Wir haben uns daran gewöhnt, in einem Land zu leben, das in allen Lebensbereichen führend ist, in einer freien und offenen Gesellschaft, und jetzt finden wir unsere Bewegungsfreiheit stark eingeschränkt und kämpfen um die Aufrechterhaltung der Routinen, die wir für selbstverständlich hielten. Als das Coronavirus in unser Leben eintrat, dachten wir, es würde ein harter Kampf werden, aber wir hofften auf einen raschen Sieg, und so akzeptierten wir die Einschränkungen der sozialen Distanzierung mit Verständnis, trotz der damit verbundenen Belastungen.

Sie haben einen hohen Preis bezahlt, ein Preis, der uns seit langem begleitet – unsere Synagogen waren am Pessachfest geschlossen, die Moscheen waren während des Ramadans geschlossen, und bis heute trauere ich, wenn ich an die Hinterbliebenen denke, die nicht in der Lage waren, die Gräber ihrer Lieben am Gedenktag zu besuchen.

Wir haben mit unseren Familien unter grossen Einschränkungen gefeiert, wir haben unsere Toten auf eine ihnen unwürdige Weise betrauert, wir haben unser Leben in einem schmerzhaften Kompromiss gelebt in dem Glauben, dass das Land und seine Institutionen uns schnell aus dieser Krise herausführen würden.

Sie, die Bürger Israels, verdienen ein Auffangnetz, das Ihnen das Land zu bieten hat. Entscheidungsträger, Ministerien und politische Verantwortliche müssen für Sie und nur für Sie arbeiten. Um Leben zu retten, um Infektionen zu reduzieren, um die Wirtschaft zu retten. Ich verstehe das Gefühl, dass nichts davon zufriedenstellend getan wurde.

Und jetzt, heute, meine lieben Israelis, sind wir gezwungen, wieder einen Preis dafür zu zahlen. Es ist ein hoher Preis. Ich denke an diejenigen mit Problemen der psychischen Gesundheit in Heimen, an Soldaten, an Eltern in Altersheimen.

Die Ankündigung des Lockdown bedeutet, dass unsere Fähigkeit, gemeinsam zu leben, gemeinsam zu feiern, gemeinsam zu trauern, gemeinsam zu beten, gemeinsam unsere grundlegendsten menschlichen Bedürfnisse zu erfüllen – all dies wird beeinträchtigt. Ich teile diese Gefühle mit Ihnen, und gleichzeitig möchte ich, dass wir unsere Köpfe erheben und an unsere Zukunft glauben.

Seit dem Ausbruch der Pandemie bin ich dorthin gegangen, wo der Kampf ausgetragen wird, und traf auf unsere eigenen Ressourcen von Leistung und Stärke, in all ihrer Pracht. Ich traf Krankenhausleiter, Krankenschwestern, Ärzte, Magen David Adom und seine Rettungsteams, die Soldaten und Offiziere, die Wissenschaftler, die Freiwilligen. Ich sah aus nächster Nähe ihren unermüdlichen Einsatz und ihre unermüdlichen Opfer für die öffentliche Sicherheit, für den Kampf gegen diesen grassierenden Virus und für unser Gefühl der gegenseitigen Verantwortung in Krisenzeiten. Ich bin denen begegnet, die sich um Sie, meine israelischen Mitbürger, sorgen und alles tun, um diesen Kampf zu gewinnen, und ich bitte Sie, ihnen Ihr Vertrauen zu schenken.

Und von hier aus möchte ich der Regierung Israels – ihren Führern, Ministern und Beratern – sagen: Das Vertrauen des Volkes ist unbezahlbar. Wir müssen alles tun, um bei unseren Mitbürgern das persönliche, medizinische und wirtschaftliche Vertrauen wiederherzustellen. Dies ist eine zweite Chance, und wir müssen sie ergreifen, denn eine dritte Chance werden wir, so fürchte ich, nicht bekommen.

Meine Lieben, neben der Sorge um unsere eigene Sicherheit, müssen wir auch davon absehen, anderen Teilen der Gesellschaft die Schuld zu geben, als ob ein Teil der Bevölkerung für die Verbreitung der Krankheit “verantwortlich” wäre. Der Staat Israel ist durch seine aussergewöhnliche menschliche Vielfalt gesegnet, und ich glaube von ganzem Herzen, dass dies ein enormer Vorteil ist. Jede Gruppe und Gemeinschaft in unserer Gesellschaft spielt eine entscheidende Rolle für unsere gemeinsame Stärke und für unsere Fähigkeit, diesen Kampf zu gewinnen. Wir werden uns nicht durch Schuldzuweisungen und giftige Anschuldigungen durchsetzen. Sondern nur gemeinsam.

Wir waren dazu bestimmt, zusammenzuleben, die guten und die harten Jahre zu teilen, dieses Land zu bauen und zu entwickeln. Wenn wir gegen Corona kämpfen, sind wir zusammen – Juden und Araber, Säkulare, Religiöse und Ultraorthodoxe – in Krankenhäusern, Schulen und in karitativen Organisationen. Gemeinsam lernen wir in Zeiten wie diesen, was Partnerschaft ist, was gegenseitige Verantwortung ist, was israelische Hoffnung ist.

Meine lieben Mit-Israelis, Sie können das Coronavirus nicht allein besiegen, aber niemand kann es ohne Sie besiegen. Ich glaube an dieses Volk; ich glaube an unsere Fähigkeit, uns durchzusetzen. Ich möchte auch Sie bitten, an die Fähigkeit dieses Volkes zu glauben, sich durchzusetzen. Es ist an der Zeit, die Anweisungen zu befolgen, sich um sich selbst und Ihre Lieben zu kümmern, gemeinsam denjenigen in Ihrer Umgebung zu helfen, die Hilfe brauchen. Denn wir haben kein anderes Land, wir haben keinen anderen Staat, wir haben keine anderen Menschen und wir haben keinen anderen Weg.

Möge dies ein gesundes Jahr sein, körperlich und geistig. Möge das alte Jahr und seine Flüche vergehen; möge das neue Jahr und seine Segnungen kommen. Möge es so sein.

Reuven Rivlin ist Staatspräsident von Israel. Übersetzung Audiatur-Online.

1 Kommentar

  1. Die Veröffentlichung der Rede von Staatspräsident Rivlin an dieser Stelle – nehme ich mit Respekt zur Kenntnis. Seit Jahren wächst die globale Bedeutung der Ereignisse in und um Israel und wenn man sie betrachtet “durch die Brille biblischer Prophezeiungen”, gewinnt auch das Verhängnis um die Corona-Pandemie ein geradezu charismatisches Gewicht.
    Aus meiner Perspektive ist es darum nützlich, den Segen zu erinnern, der verheißen wurde allen denen, die Abraham segnen. Diese Verheißung war nicht gekoppelt ans Judentum. Sie kann aber auch dem modernen Judentum Gutes tun, indem nicht nur Nachfahren von Isaak “als Gesegnete des Herrn” gewürdigt werden.
    Der mystisch-mythologische “erste Mord der Weltgeschichte” (nämlich Kain und Abel) hat gewisse Parallelen unter den 8 Brüdern, die von Abraham gezeugt in der Bibel berichtet werden.

    Davon weiß die Christenheit in der Regel nur so viel, das der Erstgeborene (Ismael) verstoßen wurde, weil nach jüdischer Auffassung nur Isaak Träger des Segens war. Nach Sarahs Tod heiratete Abraham erneut und bekam von Ketura sechs weitere Söhne.

    Je nach Glaube an die ursprünglich erwähnte Segens-Verheißung gilt es, diese Dinge aufzuarbeiten. Die Rede Rivlins bietet einen guten Einstieg, finde ich.

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