Beruflich war Gabor Hirsch ein erfolgreicher Elektroingenieur; seine eigentliche Berufung erwuchs aber aus seiner Rolle als Zeitzeuge des Holocaust: Der Gründer der Kontaktstelle für Überlebende berichtete bis kurz vor seinem Tod in tief beeindruckender Art und Weise über seine Erinnerungen an den Holocaust. Er hatte das Schlimmste überlebt. Seine Berichte waren nüchtern und erreichten gerade deshalb eindrücklich seine Zuhörerinnen und Zuhörer.
von Anita Winter
Die letzte Erinnerung an seine Mutter ist beispielhaft für die Art, wie Gabor über seine schrecklichen Erlebnisse berichtete: «In Auschwitz arbeitete ich einmal hinter dem Frauenlager – wir mussten Grasziegel stechen. Ich wollte meine Mutter nochmals sehen und hatte ihr extra meine Portion Brot mitgebracht. Tatsächlich konnten wir nochmals ein paar Worte miteinander wechseln. Aber mein Brot konnte ich ihr nicht geben. Stattdessen gab sie mir ihre Portion Brot. Das war das letzte Mal, dass ich meine Mutter gesehen habe.»
Einfache, klare Worte
Mit dieser Art der nüchternen Beschreibung wurde Gabor Hirsch zu einer markanten Stimme gegen das Vergessen in unserem Land. Ich erinnere mich an den letzten grossen Auftritt des Holocaust-Überlebenden vor Schülerinnen und Schülern im März dieses Jahres: Ich begleitete ihn an jenem Tag und beobachtete, wie er vor Hunderten von Schülern sprach. Er fesselte sie mit seiner direkten, authentischen Erzählweise: Während er den Alltag in Auschwitz beschrieb, krempelte er plötzlich die Ärmel hoch, um seine eintätowierte Häftlingsnummer B-14781 zu zeigen.
Die tiefe Betroffenheit der jungen Zuhörerinnen und Zuhörer war im Saal deutlich zu spüren. Mit einfachen, klaren Worten berichtete er von den Schrecken der Shoah, davon, wie er entrechtet und gedemütigt wurde, aber auch davon, wie er den Holocaust überlebte und danach weiterlebte.
Solche Vorträge in Schulen oder Universitäten hielt er bis kurz vor seinem Tod: Unermüdlich berichtete er als einer der letzten Zeitzeugen über diese furchtbare Ära – auch aus Verpflichtung gegenüber den Millionen Menschen, die nicht mehr sprechen können. Diese Unermüdlichkeit legte die Grundlage für seine Bedeutung in der Schweiz. Nur wenige Überlebende können heute noch über die Naziherrschaft erzählen.
Der gebürtige Ungar wurde deshalb zu einem unersetzbaren Botschafter. Eine Stimme gegen das Vergessen. Gabor Hirsch war davon überzeugt, dass die Erinnerung und das weitergegebene Wissen präsent bleiben müssen: Nur dann würde sich die Geschichte nicht wiederholen. Und deshalb nahm er die grosse Arbeit des unermüdlichen Aufklärers auf sich – und zwar vor und mit allen Generationen.
«Mit uns reden»
Genauso wie er vor jungen Menschen sprechen konnte, vermochte er auch gegenüber Politikern aufzutreten: Am 19. Januar empfing Bundespräsidentin Sommaruga Überlebende des Holocaust für einen persönlichen Austausch zu einem Mittagessen in Bern. Während dieser Begegnung formulierte Gabor Hirsch einen Satz, den wir alle nicht vergessen sollten: «Man soll nicht über uns, sondern mit uns reden.» Dieses «mit uns reden» wird aber immer schwieriger, weil die Zahl der Zeitzeugen immer kleiner wird.
Wir können Gabor Hirsch nicht genug dafür dankbar sein, dass er jahrelang die Kraft aufbrachte, uns über seine Erfahrungen und Erinnerungen zu berichten – Erinnerungen, die manchmal fast nicht in Worte zu fassen sind. Auch deshalb kann seine Lebensleistung nicht hoch genug geschätzt werden. Der Tod von Gabor Hirsch erinnert daran, dass die Verantwortung, die Erinnerungen an den Holocaust wachzuhalten, immer mehr von den nachwachsenden Generationen übernommen werden muss.
Gabor Hirsch wollte die Menschen vor den Gefahren von Rechtsextremismus und Rassismus warnen und darauf hinweisen, wohin solche Tendenzen führen können. Er trat unermüdlich für den Rechtsstaat und eine starke Demokratie ein. Diese Arbeit muss nun ohne ihn weitergeführt werden. Gabor Hirschs Erbe verpflichtet. Wir haben einen herzensguten Menschen, Freund, Lehrer und Mentor verloren, den alle, die ihm begegnet sind, nie vergessen werden.
Anita Winter ist die Gründerin und Präsidentin der Gamaraal-Stiftung. Zuerst erschienen in der Neuen Zürcher Zeitung vom 27. August 2020.