Der Nahe Osten wird oftmals in einem negativen Kontext gesehen. Kriege, kulturelle Zusammenstösse, Korruption, Armut und internationale Interventionen sorgen typischerweise für Schlagzeilen. Doch die Coronavirus-Pandemie, bei der es trotz langjähriger Konflikte zu einer unerlässlichen Zusammenarbeit kommt, erlaubt uns, diese Region auch aus einer anderen Perspektive zu betrachten.
von Avital Leibovich und Shay Avshalom Zavdi
Nach Angaben der WHO wurde bei mehr als 1,38 Millionen Menschen im Nahen Osten COVID-19 diagnostiziert, und diese Zahlen könnten weiter steigen. Bis heute sind in Israel über 66’000 Menschen infiziert worden und 490 sind gestorben, während im Westjordanland und im Gazastreifen etwas mehr als 10.000 infiziert wurden und 76 gestorben sind.
Angesichts der hohen Bevölkerungsdichte in den palästinensischen Gebieten und des Mangels an palästinensischen Investitionen in eine qualitativ hochwertige Gesundheitsversorgung sind diese Zahlen erstaunlich. Der Grund dafür ist einfach: In Zeiten einer globalen Pandemie werden Meinungsverschiedenheiten beiseite gelegt und Wege der Zusammenarbeit im Kampf gegen das Virus gesucht.
In Israel – einem international anerkannten Zentrum für medizinische Forschung – arbeiten mehr als 70 Unternehmen, Labors, akademische Zentren und wissenschaftliche Institute unermüdlich daran, einen Impfstoff zu finden und Methoden zu entwickeln, um die Ausbreitung von COVID-19 einzudämmen. Schon in der Frühphase der Pandemie wandten sich israelische Ärzte an palästinensische Gesundheitshelfer und boten ihnen an, ihr Fachwissen weiterzugeben und Hilfe zu leisten, und die Palästinenser nahmen die Hilfe an. Israelische Ärzteteams nahmen Kontakt zu ihren palästinensischen Kollegen in Krankenhäusern im Westjordanland und in Ostjerusalem auf. Das palästinensische Gesundheitssystem ist in der Regel weniger entwickelt als das israelische; zudem fehlt es an Mitteln für die Anschaffung geeigneter Ausrüstung, um mit einem so unbekannten „Feind“ fertig zu werden.
Professor Elhanan Bar-On vom Sheba Medical Center in der Nähe von Tel Aviv besuchte palästinensischen Krankenhäuser im Westjordanland, brachte Ausrüstung mit und schulte medizinisches Personal. „Keiner von uns hat jetzt Zeit, sich mit Nebensächlichkeiten zu befassen – ob politischer oder anderer Art. Wir sitzen alle im selben Boot, und wir müssen gemeinsam rudern, um einen sicheren Hafen zu erreichen“, sagte Bar-On kürzlich in einer Nachrichtensendung von KAN TV.
Israel stellt seit langem medizinische Versorgung für Nachbarländer bereit, auch für solche ohne offizielle Beziehungen. Während des neunjährigen syrischen Bürgerkrieges beispielsweise stellten israelische NGOs medizinische Ausrüstung und Behandlung zur Verfügung, und die israelische Regierung betrieb im Rahmen der „Operation Good Neighbor“ ein Feldlazarett für syrische Patienten. Tausende von Syrern, insbesondere Kinder, wurden in israelischen Krankenhäusern behandelt und ihr Leben gerettet.
Leider befürworten nicht alle palästinensischen Beamten diese medizinische Zusammenarbeit. „Die Siedlungen sind Inkubatoren für das Virus. Es gibt keinen Grund, nach Israel zu gehen und dort zu arbeiten“, sagte der Sprecher der Palästinensischen Autonomiebehörde, Ibrahim Milham, am 14. April.
Dieser Versuch, die Pandemie mit der Politik zu verbinden, ist jedoch gescheitert.
Einer der Grundwerte im Judentum ist die Bewahrung des Lebens. Die Kombination dieses Wertes mit der Anerkennung der Bedeutung der regionalen Zusammenarbeit im Gesundheitsbereich hat zu bedeutenden Aktivitäten vor Ort geführt.
Jede Woche schickt Israel medizinische Ausrüstung in den von der Hamas kontrollierten Gazastreifen. Allein vom 12. bis 18. Juli hat Israel 163 Tonnen medizinisches Material dorthin gebracht. Es erleichterte auch die Lieferung von Ausrüstung aus der Türkei und den VAE in den Gazastreifen und das Westjordanland, wobei das erste offizielle Flugzeug der VAE am 9. Juni auf dem internationalen Flughafen Ben-Gurion landete, alles im Namen der Gesundheit. Diese wegweisende Lieferung wurde durchgeführt, obwohl die Hamas vor und nach der Ankunft der VAE-Spende für die Palästinenser Raketen auf israelisches Gebiet abfeuerte.
Palästinensische und israelische Leben sind eng miteinander verflochten. Vor dem Ausbruch der Coronavirus-Pandemie arbeiteten in Israel täglich mehr als 150.000 Palästinenserinnen und Palästinenser. Mit der Ausbreitung der Krankheit wurde die Zahl der Arbeitskräfte, die nach Israel einreisen durften, um 50 Prozent reduziert, sie wird aber zweifellos steigen, wenn sich die Situation stabilisiert. Ein durchschnittlicher palästinensischer Arbeiter in Israel erhält ein besseres Gehalt und höhere Sozialleistungen als in den palästinensischen Gebieten. Mit dem israelischen Gehalt und den israelischen Sozialleistungen kann ein palästinensischer Arbeitnehmer schätzungsweise eine achtköpfige Familie ernähren.
Da der Friedensprozess stagniert – und sich sowohl Israelis als auch Araber auf die Pandemie konzentrieren – müssen wir das Gesamtbild betrachten. Was ist wirklich wichtig? Ist es das Leben der Menschen oder der politische Dialog? Es scheint, dass das medizinische Personal eine Lösung angeboten und eine positive Antwort erhalten hat: Wir sollten in der Lage sein, die Gesundheit zu fördern und miteinander zu kooperieren.
Wenn angesichts der Nähe von Israelis und Palästinensern die eine Seite erkrankt, könnte sich auch die andere Seite schnell anstecken. Es liegt im gegenseitigen Interesse beider Bevölkerungsgruppen, dass Einzelpersonen und Familien gedeihen und gesund leben. Es bleibt zu hoffen, dass die derzeitige medizinische Zusammenarbeit auf andere Bereiche ausgedehnt wird, auch wenn es um Friedensgespräche geht.
Oberstleutnant (res.) Avital Leibovich ist Direktorin des Büros des American Jewish Committee (AJC) in Jerusalem. Shay Avshalom Zavdi ist Direktor von Media Relations und ACCESS Israel, dem Nachwuchsführungskräfteprogramm des AJC. Dieser Beitrag erschien ursprünglich in JNS. Übersetzung Audiatur-Online.