Coronavirus: Holocaust-Überlebende fühlen sich vergessen

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Nina Weil, mit eintätowierter Häftlingsnummer. Foto GAMARAAL Foundation
Nina Weil, mit eintätowierter Häftlingsnummer. Foto GAMARAAL Foundation
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Anita Winter gründete im Jahr 2014 die GAMARAAL Foundation, die es sich zur Aufgabe gemacht hat, die 450 bei der Claims Conference registrierten Shoah Überlebenden, welche heute in allen Landesteilen der Schweiz leben, karitativ zu unterstützen. Die Hälfte aller noch weltweit Überlebenden ist von Armut betroffen und so ist es Frau Winter, selbst Tochter von Shoah Überlebenden, eine Herzensangelegenheit, denjenigen finanzielle Hilfestellung zukommen zu lassen, die den Mühlen der Hölle des Nationalsozialismus entkommen konnten.

Jedes Jahr, zu Rosh Hashana, Hanukkah und Pessach, überweist die Organisation eine dreistellige Summe an bedürftige Überlebende. Zusätzlich werden auch dringend benötigte medizinische Hilfsmittel, wie z. B. Hörgeräte oder Zahnarztrechnngen bezuschusst. Des Weiteren wurde eine 24 Stunden Hotline eingerichtet, bei der die Überlebenden anrufen können, wenn sie sich einsam fühlen oder etwa Hilfe beim Einkaufen benötigen. Ein weiteres Anliegen der Foundation ist die Holocaust Bildungsarbeit in Bezug auf Schulklassen. Aus diesem Grund bietet die Organisation den Schweizer Schulen die Möglichkeit an, mit Shoah Überlebenden ins Gespräch zu kommen und ihren Lebensgeschichten zu lauschen, um so einen direkten und persönlichen Bezug zu einem der dunkelsten Kapitel der Menschheitsgeschichte herstellen zu können.

Ein weiteres Projekt der GAMARAAL Foundation trägt den Namen „The Last Swiss Holocaust Survivors“. Hierbei handelt es sich um eine Ausstellung, die Bilder und Lebensgeschichten von Shoah Überlebenden, die in der Schweiz eine neue Heimat gefunden haben und die ihrer Nachkommen präsentiert. Ein weiterer wichtiger Bestandteil der Ausstellung sind die auf Video aufgenommenen persönlichen Erinnerungen und Berichte. Dies ist besonders wichtig, da in wenigen Jahren viele Überlebende nicht mehr dazu in der Lage sein werden, den Menschen ihre Lebensgeschichte zu übermitteln und Fragen zu beantworten.

Die Ausstellung wurde bisher an den verschiedensten Orten und Museen der Welt installiert, wie z.B. im Virginia Holocaust Museum Richmond, in der Jurong Regional Library in Singapore und im Hecht Museum der Universität Haifa. Für ihre aufopferungsvolle Arbeit wurde der GAMARAAL Foundation zusammen mit dem Archiv für Zeitgeschichte der ETH Zürich im Jahr 2018 der Dr. Kurt Bigler Preis verliehen. Auf Wunsch des im Jahr 2007 verstorbenen Pädagogen und Holocaust-Überlebenden Dr. Kurt Bigler (ehemals Bergheimer) wurde ein Fonds errichtet. Dessen Zweck besteht darin, wissenschaftlich, pädagogisch, sozial oder psychologisch wertvolle Arbeiten und Projekte mit einem Geldpreis zu unterstützen. Förderungswürdig sind Arbeiten oder Projekte, die sich mit den Ursachen und Folgen des Holocaust respektive des Antisemitismus und/oder des Rassismus befassen. Zudem sollen die Arbeiten in hervorragender Weise dafür geeignet sein, an Bildungsinstitutionen wie Schulen, Gymnasien, Fachhochschulen und Universitäten das Verständnis für Ursachen dieser belastenden gesellschaftlichen Erscheinungen zu wecken und wach zu halten, sowie Abwehrmethoden oder Bewältigungsstrategien zu deren Überwindung zu finden. 

Der Holocaust-Überlebende Fishel R., der mit der Stiftung Gamaraal zu den Gedenkfeierlichkeiten nach Buchenwald reisen sollte. Die Feierlichkeiten wurden wegen der Coronavirus-Pandemie abgesagt. Foto Stiftung Gamaraal

Um mehr über die erfolgreiche Foundation und das Projekt an sich zu erfahren, vereinbarte ich ein Interview mit Anita Winter. Sie erzählte mir zuallererst von den Anfängen der GAMARAAL Foundation. Während ihrer Kindheit war für sie, als Tochter von Überlebenden, die in der Schweiz ein neues Leben beginnen konnten, die Erinnerung an die Shoah stets ein präsenter Teil ihres Lebens. Als sie im Jahr 2013 erfuhr, dass die Hälfte aller noch weltweit lebenden Überlebenden von Armut betroffen sind, war sie schockiert und fasste den Entschluss, die GAMARAAL Foundation zu gründen. Aus diesem Engagement erwuchs schlussendlich die Ausstellung „The Last Swiss Holocaust Survivors“. Bei diesem Projekt, so sagte Frau Winter, wurde ihr zu Anfang oft gesagt, dass es schwierig werden würde, Überlebende zu finden, die dazu dazu bereit wären, ihre Geschichte auf diese Art und Weise zu teilen. Schlussendlich war jedoch genaue das Gegenteil der Fall. Die Ausstellung will vor allem dem fortschreitenden Vergessen in der Bevölkerung entgegenwirken. Doch Frau Winter spricht auch noch einen weiteren wichtigen Punkt an: „Es liegt in der Verantwortung unserer Generation die Fackel der Erinnerung und den Ruf des ‚Nie wieder’ weiterzugeben.“

In der Ausstellung soll ebenfalls verdeutlicht werden, dass das Leid, welches den Überlebenden zugefügt wurde, nach Kriegsende (1945) nicht einfach vorüber war. Bis heute tragen sie die physischen und psychischen Wunden als Traumata jeden Tag mit sich. Umso dankbarer, so Frau Winter, können wir ihnen dafür seien, dass sie den Mut und die Kraft aufbringen, uns von ihrem Schicksal zu erzählen. Einige der Überlebenden sagten in Bezug auf ihre Interviews und Aufnahmen: „Wir sehen es als Verpflichtung an, stellvertretend für die 6 Millionen ermordeten Juden zu sprechen.“

Anita Winter, Gründerin der Gamaraal-Stiftung.

Eines der grössten Erfolge des Projekts war mit Sicherheit die Ausstellung im Hauptgebäude der UN in New York, anlässlich des Internationalen Holocaust Gedenktag am 27. Januar. Im Anschluss daran wurde von der UN ein Video zur Ausstellung veröffentlicht.

Frau Winter erzählte mir, dass das Projekt auf Grund der Corona Epidemie derzeit auf Eis liege und bereits geplante Veranstaltungen abgesagt wurden. Sie erklärte mir, dass die Überlebenden dafür viel Verständnis zeigen. Eine Gruppe, die im Konzentrationslager Bergen-Belsen interniert war, wollte sich dieses Jahr bei der Eröffnung der Ausstellung, 75 Jahre nach Kriegsende, treffen, um „sich noch einmal zu sehen und um sich Auf Wiedersehen zu sagen“. Die Ausstellung wurde jedoch auf nächstes Jahr verschoben. Auch die Zunahme des Antisemitismus weltweit macht den Überlebenden heute zu schaffen und sie betonen: „Was einmal möglich wahr, kann auch wieder passieren.“

Als ich Frau Winter fragte, was sie sich für die Zukunft für ihr Land und ihre Organisation wünschen würde, sagte sie: „Ich wünsche mir, dass die Menschen niemals gleichgültig, niemals schweigen und niemals vergessen werden.“

Diese Worte stehen für die Art von Engagement, das wir heute wieder dringend benötigen, um den wieder aufkommenden Antisemitismus weltweit zu bekämpfen. Personen wie Anita Winter ist es zu verdanken, dass den Shoah Überlebenden in der Schweiz die Hilfe und Aufmerksamkeit zu Teil wird, die sie verdienen. Sie dient mit ihrer Stiftung und Bildungsarbeit damit als Vorbild für viele andere Organisationen. Sowohl Frau Winter, einer echten Schweizer Tzadika, als auch den Überlebenden, die trotz ihres unendlichen Leids noch dazu bereit sind, ihre schmerzhaften Geschichten mit uns zu teilen, gehört unser tiefer Dank.