Was die Jerusalemer Araber von den Appenzellern lernen könnten

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Landsgemeinde Appenzell Innerrhoden 1992. Foto Landesarchiv Appenzell I.Rh. / https://www.ai.ch/themen/kultur-und-geschichte/archiv/blickfang-landsgemeinde
Landsgemeinde Appenzell Innerrhoden 1992. Foto Landesarchiv Appenzell I.Rh. / https://www.ai.ch/themen/kultur-und-geschichte/archiv/blickfang-landsgemeinde
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Frei, gleich, geheim und unmittelbar, so funktionieren Wahlen in einer Demokratie. Vorausgegangen ist dem im sogenannten freien Westen ein schwerer, blutiger Kampf über mehrere Jahrhunderte. Insbesondere das Frauenwahlrecht hatte es nicht leicht.

Ulrich W. Sahm und Elisabeth Lahusen

Die französische Frauenrechtlerin Olympe de Geourges wurde für ihre Forderung im revolutionären Frankreich des Jahres 1793 noch hingerichtet. Als erste Stadt der Welt führt 1853 die Regierung von Vélez, Kolumbien, das Wahlrecht für Frauen ein. Als erstes Land der Welt folgte erst 1902 Australien, bevor sich Europa bewegte. Der erste Weltkrieg führte zu manchen Erneuerungen. Am 7. Februar 1971 wurde es durch eine eidgenössische Abstimmung dann endlich für die Frauen in der Schweiz möglich, zu wählen. Der traditionell katholische Kanton Appenzell Innerrhoden, ist dabei ein viel bestauntes Kuriosum: An der Landsgemeinde wurde hier das Wahlrecht auf kommunaler Ebene erst am 29. April 1990 eingeführt – übrigens entgegen einem Mehrheitsentscheid der Männer, nach einem Entscheid des Schweizer Bundesgerichts. Und das ungeachtet der Tatsache, dass schon 1828 mit dem politischen Umsturz in Appenzell eine Art Vorläufer der europaweiten Juli-Revolutionen von 1830 stattgefunden hatte. Es war halt lange Zeit ein Männerwahlrecht. Und hartnäckig hält sich das Gerücht, dass die als besonders langsam verschrienen Berner nur deshalb so bedächtig tun, damit die Appenzeller hinterherkommen. Trotzdem ist uns nichts davon bekannt, dass die EU 1990 Millionen für NGOs bezahlt hätte, die ähnlich wie im Nahen Osten sich als Wächter über die demokratischen Rechte von Minderheiten aufschwingen mussten. Das wäre wohl auch selbst den Appenzeller Frauen nicht recht gewesen.

Die israelische Demokratie funktioniert

Wer eine anerkannte Staatsangehörigkeit besitzt, kann heutzutage in einer Demokratie normalerweise alle vier Jahre an den Wahlurnen von seinem „Recht“ Gebrauch machen und die Zusammensetzung der Regierung mitbestimmen. Das ist zwar ein nicht immer benutztes Recht, aber es ist üblicherweise das Kriterium, ob jemand „gleichberechtigter“ Bürger eines Staates ist. Da Israel auch ein demokratischer Staat ist, sieht das hier nicht anders aus. Wer einen israelischen Pass besitzt, ungeachtet der Religionszugehörigkeit oder der ethnischen Herkunft, kann sich in jedem Fall an den Wahlen beteiligen, vorausgesetzt er hält sich am Wahltag in Israel auf und meldet sich mit seinem Ausweis im Wahllokal. Die sogenannten „israelischen Araber“ gehören dazu. Im Parlament gibt es eine „Gemeinsame Liste“ mit seit März 15 arabischen Abgeordneten: Eine wilde Mischung religiöser Eiferer, braver Sozialdemokraten, Kommunisten, rassistischer Agitatoren und pragmatischer Zentristen. Die drittgrösste Gruppe in der Knesset. Wo in Israel ist also die Apartheid?

Jede Menge Wahlrechte in Palästina

Palästina ist zwar noch kein weltweit anerkannter Staat, aber gewählt wird schon kräftig. Palästinenser in den Autonomiegebieten, also in den grossen Städten wie Ramallah oder Bethlehem, besitzen die palästinensische Staatsangehörigkeit, einen palästinensischen Pass und können im Prinzip ihr eigenes Parlament wählen. Vorausgesetzt, es gibt dieses Parlament. Der Verfassungsgerichtshof, der das Parlament auflöste, wurde von Präsident Mahmoud Abbas selbst geschaffen, der mit diesem und ähnlichen Tricks seine Regierungszeit immer wieder verlängert. Von freien Wahlen kann zwar nicht die Rede sein, wenn es keine Trennung der Justiz von Legislative und Exekutive gibt. Dass dieses Parlament aufgelöst und auch seine Wahl faktisch ausser Kraft gesetzt worden ist, ändert aber nichts am Wahlrecht. 

In Jerusalem ist alles anders

Nun gibt es unter den Palästinensern eine Gruppe, die völlig unter den Tisch fällt: Das sind die Araber in dem von Israel „annektierten“ Ostjerusalem. Deren Status sollte hier mal genauer unter die Lupe genommen werden. Weil sie nicht in den Autonomiegebieten leben, sind sie dort auch nicht gemeldet und verfügen auch nicht über palästinensische Papiere. Gleichwohl wurde ihnen im Rahmen der Osloer Verträge bei der Einrichtung der Autonomiebehörde 1994 zugestanden, sich in Jerusalemer Postämtern an den Wahlen bei der Autonomiebehörde zu beteiligen. Damit verfügen sie über demokratische Rechte, wie jeder andere Palästinenser im Westjordanland oder Gazastreifen. Weil sie vor der Annexion durch Israel 1967 in dem von Jordanien annektierten Westjordanland lebten, haben sie ihren alten Status behalten dürfen. Das bedeutet, dass sie alle noch über ihren jordanischen Pass verfügen und damit auch in Jordanien wahlberechtigt sind. Nur wenige von ihnen haben nach 1967 das israelische Angebot angenommen, die Staatsbürgerschaft in Israel anzunehmen. Diese sind in Israel voll wahlberechtigt. Ob sie bei der Gelegenheit auf ihre alten Papiere verzichten mussten, ist unklar. Denkbar wäre es aber, dass sie nun sowohl in Israel als auch in Jordanien und in den palästinensischen Gebieten wählen könnten. Mit der Annexion 1967 erhielten die Jerusalemer Araber noch ein besonderes Privileg: den blauen israelischen Ausweis. Das ist ein Personalausweis in einer hellblauen Plastikhülle. Mit dem geniessen sie nicht nur eine automatische Arbeitsgenehmigung an jedem Ort in Israel. Sie können sich bei der Nationalversicherung, Krankenkassen und allen anderen von der Regierung subventionierten Einrichtungen eintragen und ihre sozialen Vorzüge geniessen, wie jeder andere israelische Staatsbürger.

Wer sich allem verweigert, kann seine Rechte nicht durchsetzen

In allen Medien erscheinen immer wieder Berichte über die sträfliche Vernachlässigung arabischer Viertel. Auf Schritt und Tritt kann man sehen, dass der Strassenbelag nicht erneuert wird und dass die Müllabfuhr offenbar nicht funktioniert. Linksgerichtete israelische NGO´s wie Betzelem oder Peace now erhalten Millionenbeträge von europäischen Regierungen, um auf diese Missstände aufmerksam zu machen. Doch wer genauer hinschaut, sieht: Das Geld ist weg, aber es ändert sich nichts. Denn die Araber in Jerusalem hätten zwar die Möglichkeit, per Wahlurne nicht nur einen arabischen Bürgermeister zu stellen, sondern auch den ganzen Stadtrat zu ihren Gunsten umzukrempeln. Doch hier spielt die hohe Politik eine Rolle. Man lebt zwar in Israel, aber man fühlt sich politisch als Palästinenser. Für die palästinensische Führung gilt Israel offiziell als Feind. Um nicht als „Kollaborateure“ mit dem israelischen Gegner dargestellt zu werden, boykottieren die meisten Jerusalemer Araber die Stadtratswahlen. Und so funktioniert eben die Demokratie in der Stadt wie auch sonst auf der Welt. Die Stadträte fühlen sich ihren Wählern verpflichtet und die kommen aus den mehrheitlich jüdischen Vierteln. Gegen den Willen ihrer (jüdischen) Wähler müssen Jerusalemer Bürgermeister zwar auch im Osten der Stadt investieren, damit die Araber nicht das künstliche Zusammenleben explodieren lassen, aber ohne aktive Mithilfe der Betroffenen sind viele Reformen unmöglich. Zu Recht beklagen die „Palästinenser“ im Osten der Stadt eine horrende „Benachteiligung“ und „Diskriminierung“, weigern sich aber, das als Ergebnis ihres Boykotts der Stadtratswahlen zu sehen. Wir können hier deutlich erkennen, dass das Wahlrecht allein noch keine Freiheit bringt. Denn wer in den Osten der Stadt fährt, erkennt schon an den Schlaglöchern in den Strassen ohne Bürgersteig und den überfüllten Mülltonnen, wo einst die Grenze zwischen West- und Ostjerusalem lag, zwischen jüdischen und arabischen Vierteln.

Von Appenzell lernen, heisst siegen lernen

Demokratie ist bekanntlich das politische Prinzip, nach dem das Volk durch freie Wahlen an der Machtausübung im Staat teilhat. Keine NGO der Welt kann die Palästinenser zu ihrem Glück zwingen. Da müssen sie, wie dazumal die eigenwilligen Appenzeller, schon selbst tätig werden und Verantwortung für ihr Gemeinwesen übernehmen wollen. Zur Ehrenrettung der Appenzeller Bürger sei auch gesagt, dass sie sich zwar mit dem Frauenwahlrecht lange Zeit schwer taten, dass aber mit der Schaffung der zweiten Innerrhoder Verfassung von 1829 das heute noch geltende Recht der Einzelinitiative eingeführt wurde: Der Bestimmung, dass ein einziger Stimmberechtigter sogar die Abänderung von Verfassungsartikeln und Gesetzen beantragen kann. Von so viel Initiativkraft ist nicht nur das arabische Ostjerusalem noch weit entfernt.

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Über Ulrich W. Sahm

Ulrich W. Sahm, Sohn eines deutschen Diplomaten, belegte nach erfolgtem Hochschulabschluss in ev. Theologie, Judaistik und Linguistik in Deutschland noch ein Studium der Hebräischen Literatur an der Hebräischen Universität in Jerusalem. Seit 1975 ist Ulrich Sahm Nahost-Korrespondent für verschiedene deutschsprachige Medien und berichtet direkt aus Jerusalem.

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1 Kommentar

  1. Toller Artikel, in dem mal wieder einige Dinge vom Kopf auf die Füße gestellt werden. Danke dafür.

    Ich weiß, dass es unter „Palästinensern“ auch Ausnahmen gibt. Doch bei dieser Volksgruppe habe ich nur eine einzige, überwältigend dominante Assoziation: Destruktivität.

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