Verfassungsschutzbericht Deutschland: Muslimbrüder bleiben im Dunkeln

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Symbolbild. Foto Hamada Elrassam/VOA/Public Domain
Symbolbild. Foto Hamada Elrassam/VOA/Public Domain
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Bei den in Deutschland aktiven Muslimbruder-Netzwerken lässt der Verfassungsschutzbericht des Bundes trotz gestiegener Anhängerzahlen das meiste im Dunkeln. Überraschend deutlich wird der am Donnerstag vorgestellte Bericht jedoch beim islamistischen Antisemitismus. Die Zahl der erwarteten IS-Rückkehrer ist offenbar höher als bislang kommuniziert.

von Sigrid Herrmann-Marschall

Mit mehrwöchiger Verspätung stellten Verfassungsschutzpräsident Thomas Haldenwang und Bundesinnenminister Horst Seehofer (CSU) am Donnerstag den Bericht des Bundesverfassungsschutzes für das Jahr 2019 vor. Darin werden Islamismus und islamistischer Terrorismus erst nach dem Rechtsextremismus, sogenannten Reichsbürgern und Selbstverwaltern sowie dem Linksextremismus aufgeführt.

Im Bereich des Islamismus galt auch in diesem Jahr das Hauptaugenmerk dem gewaltbereiten Jihadismus und insbesondere den IS-Rückkehrern. So haben Ende 2019 Erkenntnisse „im unteren dreistelligen Bereich“ zu aus Deutschland in die ehemals von der Terror-Organisation Islamischer Staat (IS) beherrschten Gebiete ausgereisten und nunmehr in Syrien oder im Irak befindlichen Personen vorgelegen. „Die Mehrheit dieser Personen dürfte eine Rückkehr nach Deutschland beabsichtigen“, lautet die Einschätzung des Verfassungsschutzes dazu. Dies würde bedeuten, dass die Anzahl der noch zu erwartenden IS-Rückkehrer deutlich höher ist als bislang kommuniziert.

„Eine besondere Herausforderung stellt der Umgang mit den zurückkehrenden Frauen dar, denen – ohne Beteiligung an Kampfhandlungen – strafbare Handlungen oft nur schwer nachzuweisen sind. Dennoch sind viele von ihnen klar jihadistisch motiviert und haben den IS logistisch und propagandistisch unterstutzt. Im Laufe des Jahres 2019 kam es zu ersten Gerichtsurteilen gegen Rückkehrerinnen, die diesem Dilemma Rechnung trugen“, heißt es zu den IS-Rückkehrerinnen.

Wieder mehr Salafisten und andere Islamisten

Insgesamt stieg das Personenpotential beim Islamismus von 26.560 im Vorjahr um 5,5 Prozent auf 28.020 im Jahr 2019. Die größte Einzelsteigerung findet sich in der beigefügten Statistik beim Komplex „Muslimbruderschaft/Deutsche Muslimische Gemeinschaft (DMG)“: Hier stieg das Personenpotential von 1.040 auf 1.350 Personen. Das entspricht einem Anstieg von fast 30 Prozent.

Offenbar bleibt Nordrhein-Westfalen im Zusammenhang mit der Muslimbruderschaft ein Sonderfall, denn während der Bund am Donnerstag von rund 310 neuen Anhängern dieser extremistischen Ausrichtung berichtete, hatte der Verfassungsschutz-Bericht des Landes NRW vor einigen Wochen von rund 185 neuen Anhängern der Muslimbruderschaft berichtet. Berücksichtigt man beide Zahlenwerke, führt das zu der Schlussfolgerung, dass die Zahl der Anhänger der Muslimbruderschaft in Nordrhein-Westfalen schneller wächst als in allen anderen 15 Bundesländern zusammen.

„Unübersehbare personelle Verflechtungen“ zur Muslimbruderschaft

Dennoch bleibt auffällig, wie stiefmütterlich die Muslimbruderschaft auch in diesem Verfassungsschutz-Bericht abgehandelt wird. So ist zwar die Rede davon, dass die Muslimbruderschaft und die ihr zuzurechnende DMG auf eine „langfristige Änderung der Gesellschaft“ und „eine Durchdringung der Gesellschaft mit dem Ziel einer perspektivischen Errichtung eines auf der Scharia basierenden gesellschaftlichen und politischen Systems“ abzielen. In diesem Zusammenhang wird auch von „unübersehbaren personellen Verflechtungen“ sowie von „engen strukturellen und ideologischen Verbindungen“ der DMG zur Muslimbruderschaft gesprochen.

„Dass die DMG wiederholt in der Öffentlichkeit jegliche Verbindung zur Muslimbruderschaft bestritten hat und sich stattdessen immer wieder zum Grundgesetz und zur freiheitlich-demokratischen Grundordnung bekennt, gehört zu ihrem konspirativen Vorgehen und verdeutlicht die Janusköpfigkeit der Organisation“, heißt es dazu weiter. An anderer Stelle ist die Rede davon, dass „zahlreiche Verbindungen zwischen hochrangigen DMG-Funktionären und namhaften ausländischen Muslimbrüdern“ die Zugehörigkeit der DMG „zum weltweiten Muslimbruderschaft-Netzwerk“ verdeutlichen.

950 Anhänger der Muslimbruderschaft bleiben im Dunkeln

Gleichzeitig lässt das Bundesamt für Verfassungsschutz aber auch weiterhin im Dunkeln, wo sich die inzwischen 1.350 Anhänger der Muslimbruderschaft in Deutschland organisieren. Während bei Rechts- und Linksextremisten präzise auflistet wird, in welchen Vereinigungen sich diese organisieren, wird bei den Anhängern der Muslimbruderschaft lediglich im Kleingedruckten angemerkt, dass es sich um 400 davon um die Mitglieder der DMG handelt – womit gleichzeitig rund 950 Anhänger der Muslimbruderschaft, also die Mehrheit, unerkannt im Dunkeln bleiben. Damit bleibt auch hier der Widerspruch bestehen, dass die Verfassungsschutz-Behörden bei der Muslimbruderschaft einerseits zurecht ein konspiratives Vorgehen feststellen – diesem aber gleichzeitig dadurch, dass sie die Mehrheit der Muslimbrüder-Vereine sowie die ihr zuzurechnenden Moschee-Gemeinden nicht namentlich benennen, Tür und Tor öffnen.

Wie in jedem Jahr, werden die meisten in Deutschland aktiven islamistischen Organisationen abseits von Muslimbruderschaft und Salafisten benannt, aber eher kurz abgehandelt. Bei der 2003 verbotenen Hizb ut-Tahrir wird erneut darauf verwiesen, dass die Gruppierungen „Realität Islam“ und „Generation Islam“ eine „ideologische Nähe“ zu ihr aufweisen. Ein deutliches Wachstum von 350 auf 430 Anhänger der Hizb ut-Tahrir verzeichnet der Verfassungsschutz dennoch. Ebenso bei der Türkei-stämmigen Furkan-Gemeinschaft, deren Potential von 290 auf 350 Personen angewachsen ist. Die rund 100 Anhänger der radikalen afghanischen „Hezb-e Islami-ye Afghanistan“ werden laut des Berichts überwiegend bei Moschee-Gemeinden in Frankfurt am Main und Hamburg verortet.

Erweiterte Ausführungen zur Hizbollah, die zu den Durchsuchungsmaßnahmen im April 2020 nach dem Verbot geführt hatten, sind dem Bericht nicht zu entnehmen. Hinsichtlich der Spionagetätigkeit ist die Anklage gegen einen Deutsch-Afghanen und seine Ehefrau aus Rheinland-Pfalz bemerkenswert, die Geheimnisse an den Iran übermittelt haben sollen. Anfang 2019 wurde eine weitere Person in Hessen verdächtigt, dem Iran zugearbeitet zu haben.

„Antisemitismus ideologische Klammer aller Islamisten“

Überraschend deutlich wird der Verfassungsschutzbericht jedoch beim islamistischen Judenhass. Während Horst Seehofer den Antisemitismus noch im Vorwort des Berichts zusammen mit Fremden- sowie Islamfeindlichkeit als Schwerpunkt rechtsextremistischer Agitation bezeichnet und dabei in keinerlei Zusammenhang mit Islamismus bringt, heisst es 171 Seiten weiter wörtlich: „Auch im Jahr 2019 kam es zu einer Vielzahl islamistisch motivierter antisemitischer Vorfalle. Antisemitismus stellt eine ideologische Klammer aller islamistischen Strömungen dar. Die überwiegende Mehrheit der in Deutschland aktiven islamistischen Organisationen hegt antisemitisches Gedankengut und verbreitet es auf unterschiedlichsten Wegen.“ An anderer Stelle heißt es zum islamistischen Antisemitismus: „Dieses Gedankengut stellt eine erhebliche Herausforderung für das friedliche und tolerante Zusammenleben in Deutschland dar.“

Sigrid Herrmann-Marschall ist Islamismus-Expertin. Auf Deutsch zuerst erschienen bei VORWÄRTS UND NICHT VERGESSEN.