700 Mal muslimischer Antisemitismus

Über eine „Fallsammlung“ des deutschen Verfassungsschutzes

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Symbolbild. Teilnehmer einer Demonstration verbrennen im Dezember 2017 eine Fahne mit einem Davidstern in Berlin im Stadtteil Neukölln. Foto Jüdisches Forum für Demokratie und gegen Antisemitismus e.V / www.jfda.de
Symbolbild. Teilnehmer einer Demonstration verbrennen im Dezember 2017 eine Fahne mit einem Davidstern in Berlin im Stadtteil Neukölln. Foto Jüdisches Forum für Demokratie und gegen Antisemitismus e.V / www.jfda.de
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Ende 2015 begann das „Bundesamt für Verfassungsschutz“ (BfV) auf Veranlassung des damaligen Innenministers Thomas de Maizière eine spezielle Akte anzulegen. Ihr Titel: „Fallsammlung antisemitische Ereignisse mit vermutetem islamistischem Hintergrund“. Daran erinnerte am 2. Juni  2020 Ronen Steinke in der „Süddeutschen Zeitung“ („Judenhass in der Freitagspredigt“), hierüber informierte am 4. Juni auch die „Jerusalem Post“.

Während das offizielle Berlin 2015 seine „Willkommenskultur“ zelebrierte,  gingen die Sicherheitsbehörden davon aus, dass sich unter den zahllosen muslimischen Flüchtlingen, die zu dieser Zeit nach Deutschland kamen, viele Antisemiten befanden. Diese Annahme war berechtigt, wie mittlerweile mehrere qualitative Studien zeigten. Aber auch bei Muslimen, die gebürtige EU-Bürger sind oder seit Langem hier leben, ist der Antisemitismus weiter verbreitet als bei Nicht-Muslimen. So gaben in 2006 47% der Muslime und 7% der Gesamtbevölkerung in Grossbritannien an, dass sie eine „negative Meinung von Juden“ haben. In Frankreich waren dies 28% der Muslime und 13% der Gesamtbevölkerung, in Deutschland 44% der Muslime und 22% der Gesamtbevölkerung. Diese Zahlenrelationen hat der Sozialwissenschaftler Ruud Koopmans 2019 in seiner jüngsten Publikation („Das verfallene Haus des Islam“) bestätigt.

Die Spitze eines Eisberges

Zurück zur Akte des Verfassungsschutzes. Sie umfasst lediglich diejenigen antisemitischen Ereignisse „mit vermutetem islamistischem Hintergrund“, auf die der Inlandsgeheimdienst im Zuge seiner Arbeit mehr oder weniger zufällig gestossen ist. So wurden für das Jahr 2017 kaum mehr als 100 Vorkommnisse registriert. „Wahrscheinlich handelt es sich hierbei lediglich um die sprichwörtliche „Spitze des Eisbergs“, räumte das BfV bereits im März 2019 in seiner Broschüre „Antisemitismus im Islamismus“ ein.

Der Bericht der „Süddeutschen“ machte nun einige Einzelheiten der bis dato geheimen „Fallsammlung“ öffentlich. So sollen darin „schon 700 Fälle … gelistet“ sein. Gleichwohl warnt BfV-Präsident Thomas Haldenwang im Gespräch mit der „Süddeutschen“, aus diesem „kleinen Ausschnitt“ falsche Schlüsse zu ziehen:

„Empirisch sei die Auswahl nicht repräsentativ. Da stehe man erst am Anfang. Etwa zwanzig antisemitische Gewalttaten von muslimischen Tätern sind in dieser Fallsammlung dokumentiert, etwa 80 antisemitische Äusserungen im privaten Bereich, etwa 350 Äusserungen in sozialen Medien. … Es hänge von vielen Zufällen ab, welche antisemitischen Vorfälle ihnen zu Ohren kämen. Zumal sie nur extremistische Szenen ins Visier nehmen dürfen, nicht den Alltags-Antisemitismus darüber hinaus. Es ist nur ein kleiner Ausschnitt der verstörenden Wahrheit.“

Mit anderen Worten: Selbst die 700 Fälle seit Ende 2015 stellen nur die Spitze eines Eisberges dar, dessen eigentliches Massiv weiter verborgen bleibt. Gleichwohl lohnt der Blick auf Ereignisse, die diese Fallsammlung  dokumentiert.

Da ist zum Beispiel ein syrischer Berufsschüler, der am 4. Juni 2018 in Solingen mitten im Unterricht sagte, dass alle Juden „in die Gaskammer“ gehören. Er artikulierte damit eine Phantasie, die ohne Zweifel deutschen Ursprungs ist, sich aber im Alltag zahlreicher Milieus des Nahen Ostens erhalten hat.

Des Weiteren berichtet die Akte von einem Syrer, der am 26. April 2018 erklärte, dass Israelis in Palästina Säuglinge töten würden und die Juden es verdient hätten, geschlagen zu werden. Die erste Anklage knüpft an dem mittelalterlichen Ritualmord-Mythos an, einer blutrünstigen christlichen Phantasie.

Bei der Aufforderung, Juden zu schlagen, da diese es verdienten, kommt hingegen der Dhimmi-Status ins Spiel, den die islamische Tradition Christen und Juden auferlegt. Zum Beispiel musste die Kopfsteuer für Juden „in einer öffentlichen Zeremonie entrichtet werden und jeder Dhimmi bei dessen Zahlung einen Schlag ins Genick erhalten und nach vorn gestossen werden“, wie es in einem Bericht aus dem 15. Jahrhundert heisst. Man orientierte und orientiert sich hierbei an Sure 9, Vers 29 des Koran, wo es heisst, dass Juden diese Steuer „gedemütigt entrichten“ müssten.

Die Demütigung ist bis heute ein spezifisches Kennzeichen muslimischer Judenfeindschaft geblieben. Als junge Berliner Muslime im Sommer 2014 die Parole „Jude, Jude, feiges Schwein, komm‘ heraus und kämpf‘ allein“ skandierten, wurde diese Abwertung sinnfällig. Als im April 2018 ein Araber in Berlin zu seinem Gürtel griff, um damit einen Kippa-Träger auszupeitschen, nutzte auch er eine archaische Sprache, die mehr ausdrückt, als nur Gewalttätigkeit: Ähnlich wie das Bespucken oder Ohrfeigen dient der Gürtelschlag dazu, den anderen herabzusetzen – die Demütigung war hier wichtiger als die physische Verletzung. Wir sehen also, dass das Statement des Syrers, dass Juden es verdient hätten, geschlagen zu werden, einer mit der islamischen Tradition verknüpften Ideologie Ausdruck verleiht.

Zwei weitere Ereignisse aus der Akte des Verfassungsschutzes spielten sich in Moscheen ab. Da ist zum einen die Freitagspredigt in einer Milli-Görüs-Moschee, aufgezeichnet am 8. Dezember 2017: „Oh Herr!“, predigte hier der Imam, „Befreie Palästina in kürzester Zeit. Befreie es aus den Händen der Banu Isra’il, der Kinder Israels. Erlöse die ganze Gemeinschaft Mohammeds von diesen bösen Israeliten.“ Hier haben wir es mit dem klassischen Paranoia-Motiv des islamischen Antisemitismus zu tun: Man sieht die gesamte muslimische Welt durch das winzige Israel bedroht, projiziert deshalb den eigenen Vernichtungswunsch auf die Juden und schlussfolgert, dass erst die Auslöschung Israels zur „Erlösung der Gemeinschaft Mohammeds“ führe.

Da ist zum anderen die Aussage des Schriftführers eines Vereins der islamistischen Furkan-Gemeinschaft. Er rief am 2. Juni 2018 die Teilnehmerinnen und Teilnehmer eines Ramadan-Fastenbrechens, auf, die Juden auszugrenzen: „Seid nicht wie die Wesen, die weniger wert sind als die Tiere.“ Die Kinder Israels seien die Verfluchten und hätten Moses verraten.

Dass auch diese Hassbotschaft eine Aufforderung aus dem Koran variiert, hat der Islamwissenschaftler Abdel-Hakim Ourghi in seinem Buch „Reform des Islam“ gezeigt:

„Wenn sie das tägliche Gebet praktizieren, rezitieren die Muslime jeden Tag siebzehn Mal die erste Sure des Koran, ,die Eröffnende‘. In dieser Sure … wird gebeten: ,Führe uns den geraden Weg, den Weg derer, denen Du Gnade erwiesen hast, nicht den Weg derer, die Deinem Zorn verfallen sind und irregehen!‘ (Vers 8-7) Die gesamte muslimische Koranexegese ist der Auffassung, dass sich der zweite Teil auf die Juden, beziehungsweise die Christen bezieht.“

Das im Koran vorgeschriebene Stossgebet, nicht auf den Wegen der Juden zu wandeln, unterscheidet sich nur graduell von der Aufforderung, nicht wie diese zu sein.

Islam der beste Schutz für den Islamismus

Dies verdeutlicht erneut, dass wir es beim „Judenhass in der Freitagspredigt“ nicht nur mit einem Problem des Islamismus, sondern mit einem Problem des Islam zu tun haben. Wo dem Islam das aufklärerische Gedankengut nicht offensiv entgegengesetzt wird, entfaltet diese Religion quasi automatisch das in ihr steckende antijüdische Ressentiment. Es bedarf bewusster Anstrengungen, diesem suggestiven Einfluss standzuhalten, geschweige denn ihm entgegenzutreten.

Derartige Anstrengungen werden vom BfV jedoch dadurch, dass man „Islam“ und „Islamismus“ weiter als Gegensatzpaar behandelt und allein den „islamistischen Antisemitismus“ ins Visier nimmt, erschwert. Solange der Islam für den Islamismus nicht zur Verantwortung gezogen wird, weil er angeblich nichts mit ihm zu tun habe, „solange ist der Islam der beste Schutz für den Islamismus“, wie es bei Samuel Schirmbeck pointiert heisst.

Es ist traurig, dass der Bericht der „Süddeutschen“ in Deutschland keine Wellen schlug. Und es ist beschämend, dass der deutsche Inlandsgeheimdienst auch fünf Jahre nach Etablierung der „Fallsammlung antisemitischer Ereignisse mit vermutetem islamistischem Hintergrund” weiter „am Anfang“ steht, wie BfV-Chef Haldenwang erklärt; dass eine repräsentative und empirisch abgesicherte Studie über den derzeitigen Antisemitismus unter Muslimen weder existiert noch sich in Vorbereitung befindet. Eine solche Studie würde im Bereich des Antisemitismus die Unhaltbarkeit der Trennung von „Islam“ und „Islamismus“ dokumentieren. Ist es vielleicht diese Befürchtung, die die politisch Verantwortlichen davon abhält, sie in Auftrag zu geben?

Über Matthias Küntzel

Matthias Küntzel ist ein deutscher Politikwissenschaftler, Historiker und Publizist. Im Herbst 2019 erschien im „Hentrich & Hentrich“ Verlag (Leipzig-Berlin) sein Buch: "Nazis und der Nahe Osten. Wie der islamische Antisemitismus entstand."

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