Dieser Artikel listet erstmals in deutscher Sprache all die Beweise für ein heimliches – 2003 keineswegs beendetes – Atomwaffenprogramm Teherans auf; Beweise, die auf Dokumenten des „Nukleararchivs“ in Teheran basieren. Hier geht es zum ersten Teil.
Im deutschen Sprachraum blieben die Inhalte der im Nukleararchiv gefundenen Dokumente unbekannt. Zwar erhielt auch die Bundesregierung eine Kopie aller Unterlagen; erhellende Äußerungen hierüber oder interessierte Nachfragen aus der Politik gab es aber nicht.
Die Ignoranz ist geblieben
Dieses Nicht-Wissen-Wollen hat Tradition: So erschien die Frankfurter Allgemeine Zeitung, nachdem Israels Premier den Archivfund im April 2018 präsentiert hatte, mit der Schlagzeile „Bundesregierung zweifelt an Netanjahus Behauptungen“. Norbert Röttgen, der Vorsitzende des außenpolitischen Ausschusses im Bundestag, hielt dem israelischen Premier gar vor, ein „Verwirrungs- und Täuschungsmanöver“ veranstaltet zu haben.[9] Inzwischen sind alle Zweifel an der Echtheit der Dokumente ausgeräumt – die Ignoranz aber ist geblieben.
Somit verdanken wir unser Wissen über die Bedeutung des Nukleararchivs verdanken wir vor allem dem von David Albright gegründeten Institute for Science and International Security (ISIS) mit Sitz in Washington DC.
Es hat während der letzten zwei Jahre die Farsi-Textsammlungen des Archivs, sowie Tabellen, Zeichnungen und Fotodokumente in Feinarbeit auf ihre Echtheit überprüft, neu übersetzt und analysiert. Hierfür gründete ISIS eine „Technologie-Gruppe“ unter Einschluss amerikanische Atomwaffenexperten, konsultierte Fachleute in Israel und kooperierte mit Olli Heinonen, dem früheren stellvertretenden Generaldirektor der IAEO und Chef der IAEO-Safeguards-Abteilung.
Meine nachfolgende Darstellung basiert hauptsächlich auf 21 Berichten, die ISIS über seine Archiv-Analysen veröffentlichte; trotz ihrer offenkundigen Relevanz wurde keiner dieser Berichte ins Deutsche übersetzt.
Nukleare Weichenstellung
Zwei grundsätzliche Entscheidungen waren schon zu Beginn des AMAD-Plans gefallen: Das Regime hatte sich auf hochangereichertes Uran als Spaltmaterial verständigt – ohne den Plutoniumpfad für alle Zeiten auszuschließen. Zweitens sollte die Zündung der Bombe mithilfe der Implosionsmethode erfolgen. Bei dieser 1945 in Nagasaki angewandten Methode ist der Kernsprengstoff als Hohlkugel angeordnet, die zu einer Vollkugel mit kritischer Masse wird, sobald die rundum angeordneten Zünder Schockwellen auslösen, wobei die Gleichzeitigkeit der Zündungen gewährleistet sein muss.
Die iranischen Atomwaffenspezialisten mussten somit erstens das Waffenuran produzieren. Sie mussten zweitens Uranmetall herstellen und es in eine für den Sprengkopf erforderliche Form bringen. Sie mussten drittens das komplizierte Zündverfahren für die Implosionsbombe beherrschen und viertens einen geeigneten Standort für Atomwaffentests finden. Wir weit sind sie gekommen?
Produktion von Waffenuran
Die Vorbereitungen auf die Herstellung von Waffenuran erhielten die Tarnbezeichnung „Al Ghadir“. Als Standort für die Hochanreicherung war die Tunnelanlage Fordow etwa 30 km nordöstlich von Qum vorgesehen. Man hatte sie tief unter ein Gebirge gegraben, um sie vor Luftangriffen zu schützen.
Archiv-Unterlagen belegen, dass dieser geheime Tunnel, dessen Bau 2002 begann, einzig für den Zweck geschaffen wurde, hier das hochangereicherte und somit waffenfähige Uran zu produzieren. Es wurde ein Durchsatz von 30 kg Waffenuran pro Jahr angestrebt; dies hätte für ein bis zwei Atomwaffen pro Jahr gereicht.
Über die Verwendung von Fordow nach Beendigung des AMAD-Plans ist wenig bekannt. 2009 flog die bis dahin geheime Anlage auf. Als IAEA-Inspektoren sie im selben Jahr besuchten, stellten sie fest, dass Fordow nach wie vor für die Hochanreicherung ausgelegt war. Unter dem Druck der internationalen Öffentlichkeit wurden diese Anlagen auf die waffentechnisch wenig attraktive Niedriganreicherung umgestellt.
Bis heute verharrt dieser Tunnel jedoch in einem „Stand-By“-Modus: Binnen kurzer Frist könnten alle für die Herstellung von Waffenuran benötigen Anlagen erneut in Gang gesetzt werden. 2016 wurden hier russische S-300 Raketen stationiert, um potenzielle Angreifer abzuschrecken.
Umwandlung zu Uranmetall
Eine Pilotanlage zur Herstellung metallischer Urankomponenten wurde ab 2002 in der Nähe Teherans unter der Bezeichnung „Shahid Mahallati Uranium Metals Workshops“ errichtet und ein Vakuum–Induktionsofen zur Schmelzung des Uranmetalls installiert.
Hier führte man bis 2003 Experimente mit Ersatzstoffen, die sich wie Uran verhalten, durch. Die Anlage war zwar von Anfang an als Übergangslösung gedacht; im Notfall hätte man hier jedoch den ersten Atomkern aus Waffenuran fertigen können. Im April 2011 wurde das Gebäude abgerissen.[10. David Albright, Sarah Burkhard, and Frank Pabian, Shahid Mahallati: „Temporary“ Plant for Manufacturing Nuclear Weapon Cores, ISIS-Report, April 8, 2020.]
Die eigentliche Produktionseinrichtung, die auf die Herstellung von jährlich 50 kg Uranmetall und damit für zwei bis drei Atombomben pro Jahr ausgelegt war, sollte in einem großen unterirdischen Tunnelkomplex bei Parchin, 35 km südöstlich von Teheran entstehen. Der Bau dieser als „Shahid Boroujerdi Project“ bezeichneten Anlage begann 2003. Fotos aus dem Archiv belegen die gigantische Dimension des Tunnels.[11. David Albright, Olli Heinonen, Frank Pabian, and Andrea Stricker, A Key Missing Piece of the Amad Puzzle: The Shahid Boroujerdi Project for Production of Uranium Metal & Nuclear Weapons Components, ISIS and FDD, January 11, 2019.]
Hier sollte das Uranhexafluorid zu Uranmetall umgewandelt, gegossen und zu Komponenten verarbeitet werden, wie man sie im Sprengkopf braucht. Die IAEA wurde nicht informiert. Im Gegenteil: Das Regime erklärte im September 2015 gegenüber der Wiener Agentur, niemals metallurgische Arbeiten für Atomwaffenzwecke durchgeführt zu haben.
Die Enthüllungen aus dem Archiv, die erstmals die Existenz und Planung beider Anlagen belegen, widerlegen diese Behauptung. Sie zeigen, dass das iranische Atomwaffenprogramm erheblich weiter entwickelt war, als angenommen.
Zündmechanismus der Bombe
Die Archiv-Unterlagen berichten von iranische Arbeiten an einer weiteren Atomwaffen-Schlüsseltechnologie: dem Schockwellen-Generator. Es geht hierbei um die Auslösung der Bombe nach der Implosionsmethode.
Damit die rund um die Hohlkugel angeordneten Zündungen exakt in demselben Bruchteil einer Sekunde losgehen, müssen zahlreiche Versuche durchgeführt und mit Hochgeschwindigkeitskameras aufgezeichnet werden. Diese Versuche fanden in der Nähe des Dorfes Sanjarian im Großraum Teheran statt.
In dieser Anlage gab es zwei Kammern, die „Upper Nour-Abad“ und die „Lower Nour-Aband“, die im Rahmen des AMAD-Plans für Testsprengungen genutzt wurden. Zwischen September 2002 und April 2003 wurden hier 136 Testläufe durchgeführt.[12. David Albright and Sarah Burkhard, Intensive Weapons Component Testing Campaign during the Amad Plan, ISIS Report, March 5, 2020.]
Bei diesen Versuchen wurden die iranischen Machthaber von Vycheslav V. Danilenko, einem russischen Atomwaffenspezialisten unterstützt. Die Forschungen konzentrierten sich auf ein Waffendesign, das mit der iranischen Shahab-3-Rakete kompatibel ist.[13. David Albright and Olli Heinonen, Shock Wave Generator for Iran’s Nuclear Weapons Program: More than a Feasibility Study, ISIS and FDD, May 7, 2019.] Auch diese Anlage wurde erst aufgrund des Archiv-Diebstahls bekannt. Ob die Arbeiten in Sanjarian beendet wurden oder bis heute fortgeführt werden, ist unbekannt.
Parchin, der zweite Forschungsstandort, 30 km südöstlich von Teheran gelegen, war der IAEA zumindest teilweise bekannt. Hier wurde in einer Halle („Taleghan 1“) eine große zylindrische Stahlzelle installiert, in der man hochexplosive Kompressionstests durchführte, um Neutronenzünder für Atomsprengköpfe zu entwickeln.
Die Unterlagen des Archivs belegen, dass es zusätzlich eine zweite, bis dahin unbekannte Halle („Taleghan 2“) gab. Hier wurde ein kleinerer zylindrischer Stahltank verwendet, um kalte Kompressionstests durchzuführen, die von einer Blitzlicht-Röntgen-Kamera aufgezeichnet wurden. Mithilfe dieser Kamera, die alle 20-25 Nanosekunden ein Bild schoss, versuchte man den Implosionsvorgang zu optimieren.[14. David Albright, Sarah Burkhard, Olli Heinonen, and Frank Pabian, New Information about the Parchin Site: What the Atomic Archive Reveals About Iran’s Past Nuclear Weapons Related High Explosive Work at the Parchin High Explosive Test Site, ISIS-Report, October 23, 2018; Raphael Ofek, What the Smuggled Archive Tells Us About Iran’s Nuclear Weapons Project, The Begin-Sadat Center for Strategic Studies (BESA), July 22, 2019.]
Atomwaffentest
Wie ein im Archiv gefundenes Dokument zeigt, kamen am 22. Oktober 2000 führende iranische Atomwaffenforscher zusammen, um über die „Auswahl eines Testgeländes für das operative System“ zu beraten. Mit „operativem System“ war der Atomsprengkopf gemeint. Die Suche nach einem Atomtestgelände erhielt den Code-Namen „Projekt Midan“.
Im August 2002 wurde ein „Bericht über die Geländeauswahl“ vorgelegt, in dem fünf Standorte für Atomwaffentests empfohlen und nach bestimmten Kriterien (Siedlungsdichte, Entfernung zu Städten, Wetterbedingungen etc. ) verglichen wurden, wobei sich drei dieser Standorte in der großen Salzwüste Lut („Dasht-e Lut“) befanden.[15. David Albright, Sarah Burkhard, Olli Heinonen, Frank Pabian, and Andrea Stricker, Project Midan: Developing and Building an Underground Nuclear Test Site in Iran, ISIS and FDD, April 2, 2019; David Albright, Sarah Burkhard, and Frank Pabian, Project Midan: New Information from the Archive, ISIS Report, March 5, 2020.]
In einem weiteren Bericht wurde diskutiert, mit welchem Verfahren sich die Detonationsstärke am besten messen lässt, ob mit einer seismischen, einer radiochemischen oder einer hydrodynamischen Methode.
In der Nähe der Großstadt Semnan wurden schließlich im Frühjahr 2003 drei unterirdische nicht-nukleare Tests mit einer Detonationsstärke zwischen 0,5 und 4,62 Tonnen TNT durchgeführt, um einen Atomwaffentest vorzubereiten.[16. David Albright and Sarah Burkhard, Intensive Nuclear Weapons Component Testing Campaign during the Amad Plan, ISIS Report, March 5, 2020.] Das „Projekt Midan“ wurde Ende 2003 gestoppt – bis auf weiteres.
Es geht hier nicht um Schnee von gestern. Wäre das Atomwaffenprojekt 2003 tatsächlich beendet worden, hätten die iranischen Stellen wenig zu befürchten und nichts zu verbergen. Deren strikte Weigerung hingegen, verdächtige Anlagen für IAEA-Inspektoren zu öffnen, lässt nur den Schluss zu, dass heimliche Arbeiten an der Atomwaffe weitergehen.
Auf Deutsch zuerst erschienen bei Mena-Watch.com.