Auf den Kundgebungen gegen die coronabedingten Einschränkungen des täglichen Lebens geben Verschwörungsideologen verschiedener Couleur den Ton an. Der Antisemitismus spielt in ihrem Weltbild eine zentrale Rolle. Das ist höchst besorgniserregend.
Auch am vergangenen Wochenende gab es wieder eine Reihe von Kundgebungen gegen die staatlichen Massnahmen, mit denen eine weitere Ausbreitung des Corona-Virus eingedämmt werden soll. In Zürich, Bern und Basel beispielsweise, in Stuttgart, München und Berlin. Manche Teilnehmer dieser sogenannten «Hygienedemos» oder in der Schweiz «Mahnwachen» mögen dabei aus rationalen Beweggründen die pandemiebedingte Einschränkung von Grundrechten kritisch sehen und sich sorgen. Ein nicht unerheblicher Teil der Demonstranten jedoch hängt Verschwörungsideologien an, die immer auch den Antisemitismus einschliessen. Dieser Teil ist tonangebend bei den Versammlungen. Er leugnet die Existenz des Virus oder glaubt zumindest wider alle Evidenz, dass es nicht gefährlicher ist als eine Grippe.
Der Journalist Fabian Eberhard im Blick nennt die Teilnehmer dieser Manifestationen ein «krudes Gemenge», zu dem «radikale Impfgegner, esoterische Globalisierungskritiker, Evangelikale und Rechtsextreme» gehörten. Was diese «Querfront» über verschiedene politische Lager hinweg eine, sei «die Überzeugung, dass sich ‹die Herrschenden› gegen ‹das Volk› verschworen haben – und dass nur wenige das abgekartete Spiel durchschauen». Auf den Kundgebungen ist immer wieder von einer «Corona-Diktatur» die Rede, obwohl viele Massnahmen, die wegen der Pandemie ergriffen wurden, bereits gelockert oder sogar aufgehoben worden sind.
Beliebt ist in diesem Zusammenhang der Vergleich, oft sogar die Gleichsetzung der gegenwärtigen Situation mit der Zeit des Nationalsozialismus. Dabei sehen sich diejenigen, die gegen die Beschränkungen aufbegehren, in der Rolle der Opfer und geben vor, für die Verteidigung der angeblich gefährdeten Demokratie und des Grundgesetzes einzutreten. «Wir sind schon mitten im Faschismus und in der Diktatur», sagt beispielsweise der Fernsehkoch Attila Hildmann, der aufgrund seiner Prominenz in Deutschland zu einem der Gesichter der «Corona-Rebellen» geworden ist.
Davidsterne mit der Inschrift «Impfgegner» und andere NS-Vergleiche
Die Schutzmaske ist für ihn das Symbol dieser angeblichen Diktatur, wie es das Hakenkreuz für die tatsächliche Diktatur der Nationalsozialisten war. Dass er seine abstrusen Thesen frei und uneingeschränkt äussern kann, auf Kundgebungen wie auch im Internet, stellt für Hildmann offensichtlich keinen Widerspruch dar. Die deutsche Kanzlerin Angela Merkel hat für ihn Hochverrat begangen, Bill Gates, der sich mit seiner Stiftung für einen Impfstoff gegen das SARS-CoV-2-Virus einsetzt, hält er für einen «Satanisten», und überhaupt werde Deutschland von einer «Pharmamafia» regiert, von «kleinen Eliten», die nur Böses im Schilde führten.
Ähnlich tönt der Verschwörungsideologe Ken Jebsen. Der frühere Moderator von Radio Berlin-Brandenburg sprach auf einer Kundgebung in Berlin von einem «Merkel-Regime» und von Ärzten, die «damals» – gemeint ist die NS-Zeit – «wie heute» definierten, wer gesund sei, und «Rassegesetze» beschlossen hätten. Auch die aktuelle Berichterstattung verglich Jebsen mit den Methoden der Nationalsozialisten. Ohnehin gebe es seit 1949 keine echte Demokratie, sondern lediglich eine Simulation, glaubt er. So abwegig solche Ansichten sind: Auch Jebsen ist nicht bloss ein harmloser, randständiger Spinner. Hunderttausende folgen ihm in den sozialen Netzwerken, Millionen klicken seine professionell produzierten Videos an.
Video democ. Zentrum Demokratischer Widerspruch e. V. i. Gr.
Die so abwegigen wie ungeheuerlichen NS-Vergleiche kennen kaum Grenzen. Ohne dass es bei anderen Teilnehmern nennenswerten Widerspruch ausgelöst hätte, trugen Kundgebungsteilnehmer etwa in Berlin Gesichtsmasken oder Armbinden, auf denen ein gelber Davidstern abgebildet war, wie ihn die Nationalsozialisten zur Kennzeichnung und Stigmatisierung von Jüdinnen und Juden verwendet hatten. Das Wort «Jude» hatten die betreffenden Demonstranten durch «Impfgegner» oder «ungeimpft» ersetzt. Im Weltbild dieser Menschen plant die Regierung also eine Zwangsimpfung, und allen, die sich dem nicht beugen, wird es angeblich so ergehen wie den Juden während des Nationalsozialismus, sprich: Sie sollen verfolgt und vernichtet werden. Eine eindeutige Verharmlosung der Shoa, die inzwischen sogar als Merchandising-Artikel im Internet angeboten wird.
Unsäglich: Auf @spreadshirt_de werden Kleidungsstücke mit einem sogenannten "Judenstern", mit der Inschrift "nicht geimpft", angeboten.
— Recherche-& Informationsstelle Antisemitismus RIAS (@Report_Antisem) May 17, 2020
Dieser #Antisemitismus ist u.a. zur Zeit bundesweit auf Versammlungen gegen die #Corona-Maßnahmen wiederzufinden. #onlineshopping #Deutschland pic.twitter.com/QYOP4cookB
Die Rolle des Antisemitismus auf den «Hygienedemos»
Eine Bagatellisierung des Holocaust stellt auch die Parole «Impfen macht frei» dar, die in mehreren Städten auf Plakaten von Kundgebungsteilnehmern zu lesen war. Sie spielt auf die Inschrift «Arbeit macht frei» an, die über mehreren Konzentrations- und Vernichtungslagern angebracht war. In Augsburg wurde auf Kundgebungen ein Impfstoff gegen das SARS-CoV-2-Virus als «Endlösung der Coronafrage» bezeichnet. Andernorts verglichen Demonstranten Impfungen mit den Methoden des SS-Lagerarztes Josef Mengele und insinuierten, nach der angeblichen Impfpflicht drohten Euthanasie und Zwangssterilisation.
Bei einer Kundgebung in München wiederum wurde einem Bericht der Recherche- und Informationsstelle Antisemitismus (RIAS) zufolge «eine Fotomontage gezeigt, auf der Menschen von Uniformierten gewaltsam ‹zwangsgeimpft› werden». Das Emblem auf den Uniformen und den Autos der fiktiven Impfeinheit war demnach an einen Davidstern angelehnt und trug die Inschrift «ZION», lesbar als «die Juden», «der Zionismus» oder «Israel». Auch hier wurde das Motiv der Zwangsimpfung aufgegriffen, aber dahingehend verändert, dass Juden hinter diesem angeblichen Zwang stecken und die Macht haben sollen, ihn auszuüben – eine antisemitische Fantasievorstellung par excellence.
Generell spielt der Antisemitismus auf den «Hygienedemos» und beim Thema Corona im Internet, etwa in Gruppen von Messenger-Diensten wie Telegram, eine zentrale Rolle, oft in verklausulierter Form oder als Chiffre. Überraschend kommt das nicht, denn Krisen werden seit Jahrhunderten antisemitisch aufgeladen. RIAS Bayern fasst es treffend zusammen: «Bereits zur Zeit der Pest wurde ‹den Juden› als Kollektiv vorgeworfen, sie hätten die Krankheit durch Brunnenvergiftung verursacht. Antisemitismus fungiert als Welterklärung, die komplexe, meist als negativ wahrgenommene gesellschaftliche Vorgänge zum Ergebnis der bösen Machenschaften einer geheimen Elite erklärt.»
Einfache, falsche Antworten auf komplexe Fragen
Der vermeintliche Feind werde benannt als «‹die da oben›, ‹Illuminaten›, ‹Bankster› oder ‹Freimaurer› bis hin zu ‹Zionisten› oder explizit als die vermeintliche ‹jüdische Weltverschwörung›». Alle Verschwörungserzählungen, die komplexe Zusammenhänge auf den bösen Willen «geheimer Mächte» reduzierten, trügen das Potenzial in sich, offen antisemitisch zu werden. «Der Glaube, dass hinter unverstandenen abstrakten Prozessen eine konkrete Macht stehe, ist strukturell und historisch antisemitisch», sagt auch der Antisemitismusforscher Samuel Salzborn. Angesichts dessen nimmt es nicht wunder, dass stets die Namen von Juden fallen (oder wen immer die Antisemiten für jüdisch halten), wenn es um die angeblich unfassbar mächtige Elite geht, die in den Augen der Verschwörungsideologen hinter verschlossenen Türen die Strippen ziehen: Rockefeller, Rothschild, Soros.
Und was ist mit Bill Gates? Er wird zumindest immer wieder in einen Kontext mit diesen Feindbildern gestellt. Hinzu kommt: «Wenn das Narrativ einmal steht, ist es egal, ob [er] Jude ist oder nicht, in den Augen der Verschwörungsfachleute ist er das sowieso», sagt Stefanie Schüler-Springorum, die Leiterin des Zentrums für Antisemitismusforschung an der Technischen Universität Berlin. Gates haben viele Demonstranten zum absoluten Feindbild erkoren, sie unterstellen ihm, für das Virus verantwortlich zu sein oder zumindest dessen Gefährlichkeit zu überhöhen, um mit der Entwicklung eines Impfstoffes noch reicher zu werden.
In einer Situation voller Ungewissheiten und Widersprüche werden also (vermeintliche) Missstände wahlweise frei erfunden oder völlig überzeichnet, einfache – und falsche oder abwegige – Antworten präsentiert sowie vermeintlich Schuldige und Profiteure ausgemacht, denen eine Art Masterplan zwecks Etablierung einer «Neuen Weltordnung» angedichtet wird. In dieser Ordnung pflanzen die Mächtigen angeblich der Bevölkerung bei zwangsweisen Impfungen Chips ein, kontrollieren und unterdrücken sie. «Die Stereotype, mit denen die vermeintlichen Weltverschwörer beschrieben werden (hinterlistig, gierig, blutrünstig, bösartig, manipulativ; Kontrolle über Wirtschaft, Politik, Medien, Kultur, Bildung etc.), decken sich mit denen, die im Antisemitismus seit Jahrhunderten Jüdinnen und Juden zugeschrieben werden», heisst es in einer Broschüre der Amadeu Antonio Stiftung zutreffend.
Die Diktatur, die sie halluzinieren, sehnen die «Corona-Rebellen» selbst herbei
Dabei gilt: Die Diktatur, die die «Corona-Rebellen» halluzinieren, ist in Wirklichkeit die Gesellschaftsform, die sie selbst insgeheim herbeisehnen, inklusive ihrer Methoden und dem gesamten antisemitischen Überbau. Es ist die konformistische Rebellion jener, die von «Freiheit» schwadronieren und das Armageddon meinen, es ist, wie RIAS Bayern festhält, der «negative Ausdruck einer projizierten Sehnsucht […] nach einer autoritären Gesellschaft, in der das Recht des Stärkeren gilt und in der nicht vermittelnde, demokratische Prozesse, sondern die unmittelbare Herrschaft ‹des Volkes›, als das sich die Demonstrationsteilnehmenden immer wieder bezeichnen, das gesellschaftliche Zusammenleben regelt». In einer solchen Gesellschaft würde ein auf Gates gemünzter Aufruf wie «Kill Bill!», der auf den «Hygienedemos» vielfach zu hören und auf Plakaten zu lesen ist, zur Vollstreckung gelangen.
Viele Demonstranten nehmen die Welt so wahr, dass sie zu den eigenen ideologischen Vorstellungen passt, was auch bedeutet: Die eigene Weltsicht wird von der Realität entkoppelt, sie hat mit der Wirklichkeit nicht viel gemein. Es handelt sich um eine pathische Projektion, wie sie im Antisemitismus bekannt ist. Die Komplexität und Widersprüchlichkeit der Welt wird auf eine simple Gut-Böse-Sicht reduziert, an den eigenen Problemen sind immer andere schuld, Feinde nämlich, mit deren Vernichtung auch das personifizierte und personalisierte Böse verschwindet. Man selbst rechnet sich zu den Guten, die sich gegen das Böse verteidigen müssen.
Dass jene, die solche schlichten Weltbilder vertreten, am Ende immer wieder bei den Juden landen, ist zwangsläufig, weil es dem Antisemitismus eingeschrieben ist. Und der ist bekanntlich keineswegs auf Neonazis und andere Rechtsextremisten beschränkt. Die Botschaften, die auf den «Hygienedemos» verbreitet werden, gehen vielmehr oft auf Menschen zurück, «die ihrem Auftreten nach eher einem gesellschaftlichen Durchschnitt zuzurechnen sind und nicht selten ökonomisch der Mittelschicht angehören dürften», wie RIAS Bayern recherchiert hat. Aus der Beobachtung der Onlinekanäle und anhand von Aussagen von Kundgebungsteilnehmern lasse sich schliessen, «dass viele dieser Menschen noch nie politisch aktiv waren».
Die derzeit herrschende Krise stelle für sie eine ungewohnte Verunsicherung dar, das normale Leben sei auf den Kopf gestellt. «Dies ist keine Entschuldigung für antisemitische Aussagen, zeigt aber die Anfälligkeit für antisemitische vermeintliche Krisenerklärungen auf», so RIAS weiter. Genau das ist auch das Besorgniserregende. Selbstverständlich ist es das Recht eines jeden Menschen, die Massnahmen der Regierungen zur Bekämpfung der Pandemie zu hinterfragen und zu kritisieren. Wem es damit ernst ist, der muss sich allerdings von den «Hygienedemos» fernhalten.
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