SP-Nationalrätin Crottaz und die palästinensischen Kinder: Aufrichtige Sorge oder antiisraelische Propaganda?

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Indoktrinierung von Kindern - Hamas Sommercamps 2017. Foto Facebook / Hamas
Indoktrinierung von Kindern - Hamas Sommercamps 2017. Foto Facebook / Hamas
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Eine sozialdemokratische Nationalrätin behauptet, Israel beschneide die Rechte palästinensischer Kinder massiv und stecke hunderte Minderjährige aus geringem Anlass ins Gefängnis. Während der Schweizer Bundesrat auf dieses unterkomplexe Statement mit einer unterkomplexen Antwort reagiert, nimmt Israel ausführlich Stellung – und rückt dabei vieles gerade.

«Wie kann man die Einhaltung der Kinderrechte im israelisch-palästinensischen Konflikt gewährleisten?» So lautet der Titel der Anfrage, die das Nationalratsmitglied Brigitte Crottaz von der sozialdemokratischen Fraktion am 4. März dieses Jahres an den schweizerischen Bundesrat richtete. Wer nun aber glaubt, dass die SP-Politikerin dabei an die Verweigerung dieser Rechte durch palästinensische Organisationen wie die Hamas gedacht hat, sieht sich getäuscht. Crottaz geht es nicht etwa um die Instrumentalisierung palästinensischer Kinder für den Krieg gegen Israel, nicht um deren antisemitische Indoktrination, nicht um den Missbrauch von Minderjährigen als «menschliche Schutzschilde», nicht um ihre militärische Ausbildung zu Terroristen. Der Parlamentarierin geht es ausweislich ihrer Eingabe vielmehr um etwas anderes, nämlich die angeblichen israelischen Verbrechen:

Hunderte palästinensische Kinder werden von Israel ins Gefängnis gesteckt, oft nur, weil sie Steine geworfen haben. Ohne rechtliche Vertretung, ohne medizinische Hilfe, ohne Unterstützung der Eltern. Einige verbringen im Alter von 10 bis 12 Jahren Monate im Gefängnis und warten auf ein Urteil. Die meisten palästinensischen Kinder leiden unter schweren psychischen Störungen.

    • Ist sich der Bundesrat der Situation bewusst?
    • Was unternimmt er zur Einhaltung der Menschenrechte, insbesondere der Kinderrechte, in diesem Land?

Die vollständige Antwort des Bundesrates darauf liest sich so:

Der Bundesrat ist sich der Menschenrechtssituation in den besetzten palästinensischen Gebieten bewusst und besorgt über diese Situation, einschliesslich der Situation der palästinensischen Kinder in israelischen Militärgefängnissen. Die Bedeutung der Achtung der Rechte des Kindes und der Verpflichtungen, die sich insbesondere aus dem Übereinkommen über die Rechte des Kindes ergeben, wird sowohl im bilateralen Austausch mit den israelischen Behörden als auch auf multilateraler Ebene regelmässig bekräftigt. Zudem unterstützt die Schweiz in Ost-Jerusalem ein von UNICEF und lokalen Partnern durchgeführtes Programm zum Schutz und zur Unterstützung von palästinensischen Kindern, die Opfer von willkürlicher Inhaftierung sind.

Israelische Regierungsstellen haben zu Crottaz‘ Anfrage offiziell Position bezogen. Das Schreiben liegt Audiatur-Online vor, und es ist weitaus ausführlicher und vor allem erheblich aufschlussreicher als das knappe Statement des Bundesrates. In der Stellungnahme heisst es unter anderem, dass derzeit 131 minderjährige palästinensische Gefangene in Israel in Untersuchungshaft seien und weitere 55 nach einem Gerichtsurteil eine Freiheitsstrafe verbüssten.  Es sind demnach nicht «Hunderte palästinensische Kinder» in israelischen Gefängnissen, wie die Abgeordnete behauptet.

«Nur» Steine geworfen?

Eigenartig mutet es auch an, wenn Crottaz kritisiert, die Inhaftierung geschehe «oft nur», weil die Kinder Steine geworfen haben. «Nur»? Zu Recht weist Israel darauf hin, dieser Tatbestand sei «ein schwerwiegendes Vergehen gegen die Sicherheit», das gravierende Folgen haben könne, «insbesondere wenn Steine auf Zivilisten geworfen werden». Zudem sei das Spektrum von Delikten, an denen Minderjährige beteiligt seien, breiter und umfasse beispielsweise auch das Werfen von Molotow-Cocktails und sogar Morde.

Israel widerspricht überdies Brigitte Crottaz‘ Behauptung, den minderjährigen Palästinensern würden ein Rechtsbeistand, medizinische Hilfe und die Unterstützung ihrer Eltern vorenthalten. «Alle Minderjährigen, die vor den Militärgerichten im Westjordanland strafrechtlich verfolgt werden, werden von einem Anwalt vertreten», heisst es in der Stellungnahme. Dieser Verteidiger werde meistens vom Inhaftierten selbst ausgewählt und bei finanziellen Schwierigkeiten vom Gericht ernannt. Es gebe «keine Fälle, in denen Minderjährige nicht durch einen Anwalt vertreten werden».

Die Häftlinge würden in Einrichtungen des Israel Prison Service (IPS) festgehalten und hätten «wie alle Gefangenen Anspruch auf vollständige medizinische Versorgung und medizinische Dienste». Ausserdem hätten sie das Recht auf Besuch, den sie entsprechend den Bestimmungen des IPS empfangen könnten. Dazu gehörten auch die Eltern, die ausserdem ermutigt würden, die Gerichtsverhandlung zu besuchen.

Verkürzt, verdreht, verfälscht

Falsch ist nach Angaben Israels auch Crottaz‘ Behauptung, einige palästinensische Kinder verbrächten im Alter von zehn bis zwölf Jahren mehrere Monate im Gefängnis und warteten auf ein Urteil. Die Strafmündigkeit beginne im Westjordanland mit zwölf Jahren, und es seien «keine Fälle von Verhaftungen von Minderjährigen unter dem Alter der Strafmündigkeit bekannt». Falls Kinder unter zwölf Jahren festgenommen würden, dann geschehe dies, «weil sie sich nicht identifizieren oder keine Angaben zu ihrer Person oder ihrem Alter machen». Sobald ihr tatsächliches Alter bekannt sei, würden sie freigelassen. Strafrechtlich könnten sie nicht zur Verantwortung gezogen werden.

Inhaftierte Minderjährige müssten auch nicht monatelang ohne Gerichtsverfahren im Gefängnis zubringen. In administrativen Arrest, die sogenannte Verwaltungshaft, kämen sie nur in seltenen Ausnahmen; im Jahr 2019 etwa sei das nur bei drei oder vier Minderjährigen der Fall gewesen. «Der administrative Arrest ist ein präventives Verfahren aufgrund des Risikos, das von dem Häftling ausgeht», so israelische Regierungsstellen. Dabei gebe es allerdings sehr wohl eine gerichtliche Überprüfung. Davon zu unterscheiden sei die Untersuchungshaft, bei der wiederum ein Gericht im Rahmen des laufenden Strafverfahrens entscheide, ob der Häftling ein Risiko darstellt und deshalb bis zum Abschluss des Gerichtsverfahrens inhaftiert bleiben muss. Die Haftzeit werde auf eine mögliche Strafe angerechnet.

Crottaz‘ Aussage schliesslich, «die meisten palästinensischen Kinder» litten «unter schweren psychischen Störungen», nennt die israelische Regierung eine «allgemeine Aussage, die sich auf keinerlei Beweise oder Belege stützt». Gefängniseinrichtungen böten «bei Bedarf psychologische Unterstützungsdienste an, auf jeden Fall im Zusammenhang mit Minderjährigen».

Propagandistische Unterstellungen

Selbst wenn man bei regierungsamtlichen Stellungnahmen auch in Demokratien stets berücksichtigen muss, dass die Wirklichkeit nicht so widerspruchsfrei und gerecht daherkommt wie dargestellt, bleibt von Brigitte Crottaz‘ Behauptungen nach der israelischen Antwort nicht viel übrig. Sie erweisen sich als haltlose Unterstellungen, ja, als Insinuationen mit propagandistischem Charakter. Für die sozialdemokratische Schweizer Parlamentarierin ist Israel ein Staat, der eine grosse Zahl an palästinensischen Kindern aus geringem Anlass viel zu lange einkerkert, ihnen dabei alles vorenthält, worauf sie einen Anspruch haben, und für Langzeitschäden verantwortlich ist. So sieht eine Dämonisierung und Delegitimierung aus; beides sind Merkmale des israelbezogenen Antisemitismus.

In ihrer Entgegnung auf Crottaz hat Israel auch einige Hintergrundinformationen zusammengestellt, in denen sie mit Nachdruck darauf hinweist, dass «die palästinensische Führung und die Gesellschaft als Ganzes die palästinensische Jugend zu Terrorakten und zur Teilnahme an gewalttätigen Ausschreitungen» ermuntert. Die Beteiligung einer grossen Zahl von Minderjährigen an terroristischen Aktivitäten sei «hauptsächlich auf die intensive Aufstachelung zu Hass und Gewalt zurückzuführen, die in palästinensischen Schulen, bei Jugend- und Kulturaktivitäten, in den sozialen und in anderen palästinensischen Medien» vermittelt werde. Das ist in der Tat ein zentrales und deshalb nicht zu vernachlässigendes Problem.

Palästinensische Jugendliche und sogar Kinder werfen nicht «nur» Steine, sondern auch Brandsätze; sie führen Messerattacken durch, Anschläge und Schusswaffenangriffe. Auch für propagandistische Zwecke werden sie beansprucht, was sich besonders gut an Ahed Tamimi zeigen lässt. Israelische Strafverfolgungsmassnahmen im Westjordanland würden damit «in einem heiklen und komplexen Umfeld durchgeführt», schreibt die israelische Regierung, die nicht auf die Unterstützung der Palästinensischen Autonomiebehörde zählen kann. Die PA mache es vielmehr fast unmöglich, «Alternativen für die Inhaftierung von Minderjährigen zu bieten», es seien «alle Versuche gescheitert, eine Politik zu betreiben, die die Abkehr von kriminellen Aktivitäten fördert».

Die Antwort des Bundesrates ist unterkomplex

Dennoch – besser gesagt: gerade deshalb – hat Israel vor zwölf Jahren unter der Leitung des stellvertretenden Generalstaatsanwalts damit begonnen, die Politik gegenüber Minderjährigen im Westjordanland zu reformieren und den Schutz von Minderjährigen im Militärjustizsystem des Westjordanlandes zu stärken. Im Ergebnis wurden beispielsweise ein Jugendmilitärgericht eingerichtet, die Volljährigkeit von 16 auf 18 Jahre angehoben und Haftzeiten verkürzt. Bei Beschwerden und Verstössen würden die Ermittlungsbehörden sofort tätig, versichert die israelische Regierung.

Es ist richtig und wichtig, die Praxis immer wieder darauf zu überprüfen, inwieweit sie den theoretischen Ansprüchen und Massgaben standhält. Wenn die Realität jedoch dahingehend verbogen wird, dass Israel de facto als Unrechtsstaat erscheint, während die palästinensische Aufstachelung zu Antisemitismus, Hass und mörderischem Terror nicht einmal Erwähnung findet, hat das nichts mit Kritik zu tun. Ein solches Vorgehen ist vielmehr offenkundig ressentimentgeleitet. In und mit der Anfrage von Brigitte Crottaz sind die palästinensischen Kinder nur ein Mittel zum Zweck, ihre vermeintliche Sorge um sie mutet rein taktisch an.

Auch dem Bundesrat sollten angesichts der israelischen Stellungnahme eigentlich die Ohren geklungen haben. Denn sie zeigt, wie unterkomplex seine Antwort auf Crottaz‘ Anfrage ist. Wie sehr palästinensische Minderjährige von palästinensischen Organisationen instrumentalisiert, missbraucht, gefährdet, verhetzt und ausgebeutet werden, ist der Regierung nicht einmal eine Randnotiz wert. Besorgt ist sie nur über die «Situation der palästinensischen Kinder in israelischen Militärgefängnissen» respektive über «palästinensische Kinder, die Opfer von willkürlicher Inhaftierung sind». Ob es dem Bundesrat gar nicht um die Kinder geht, sondern nur darum, den jüdischen Staat in ein schlechtes Licht zu rücken?

Über Alex Feuerherdt

Alex Feuerherdt ist freier Autor und lebt in Köln. Er hält Vorträge zu den Themen Antisemitismus, Israel und Nahost und schreibt regelmässig für verschiedene Medien unter anderem für die «Jüdische Allgemeine» und «Mena-Watch». Zudem ist er der Betreiber des Blogs «Lizas Welt». Gemeinsam mit Florian Markl ist er Autor von »Vereinte Nationen gegen Israel«, erschienen bei Hentrich & Hentrich 2018.

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1 Kommentar

  1. Frau Crottaz ist nur ein Beispiel für den virulenten Antisemitismus, der unter dem Deckmantel „Israelkritik“ bei auffallend vielen Sozialdemokraten grassiert. In diesem Fall benutzt sie die Forderung nach angeblicher „Einhaltung der Kinderrechte im israelisch-palästinensischen Konflikt“. Ein schönes Anliegen, mit dem Brigitte Crottaz nebenbei ihre Vita als selbstlose Kämpferin für Kinderrechte aufmöbeln und im Freundeskreis ausnahmslos zustimmendes Kopfnicken ernten kann.

    Auf die naheliegendste Idee kommt sie natürlich nicht: Ihre Anfrage an die eigentlichen Verletzer dieser Kinderrechte zu richten. An die „palästinensische“ Seite, die ihre Kinder systematisch seit vielen Jahrzehnten zu Hass und Destruktivität erziehen und so deren Zukunft zerstören.

    Doch damit würde sie von den Kopfnickern ein Kopfschütteln ernten, weil das zugleich auch ein Eingeständnis der bislang praktizierten extremen Einseitigkeit von ihr und ihrer Klientel beinhalten würde. Und das wäre das Letzte, was Frau Crottaz eingestehen will.

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