Coronavirus, Gott und die Wissenschaft

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Foto Kobi Richter/TPS
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Als der israelische Premierminister Benjamin Netanjahu am 21. März in einem Fernsehinterview sagte, dass „wir mit Gottes Hilfe die Coronavirus-Krise durchstehen“, unterbrach ihn der Interviewer mit den Worten: „Mit der Hilfe des Weizmann-Instituts… Der moderne Tempel des Zionismus befindet sich am Weizmann-Institut.“ Dieser Dialog offenbart die Kluft zwischen dem Versprechen des modernen Staates, selbst angesichts grösster Widrigkeiten effizient zu wirtschaften und den Elementen des Zufalls und der Überraschung, welche die mächtigsten und fortgeschrittensten Staaten hilflos machen können.   

von Generalmajor (a. D.) Gershon Hacohen

Der moderne Staat hat sich von Anfang an auf Wissenschaft und menschliche Rationalität als Mittel zu einer stabilen und sicheren Zukunft verlassen. So beschrieb der französische Soziologe Bruno Latour die Moderne: „Die Naturgesetze ermöglichten es der ersten Aufklärung, die grundlosen Ansprüche der alten menschlichen Vorstellungen zu zerstören… Alle Gedanken der Vergangenheit wurden für töricht oder hypothetisch befunden… Eine strahlende Morgendämmerung kam.“ Ähnlich stellte sich Theodor Herzl einen modernen Staat vor, der auf der Grundlage wissenschaftlicher Erkenntnisse erfolgreich sein sollte. Wie er in seinem Buch Der jüdische Staat schrieb: „Die Gründung eines jüdischen Staates, wie ich ihn mir vorstelle, setzt die Anwendung wissenschaftlicher Methoden voraus. Wir können heute nicht auf die primitive Art und Weise des Altertums aus Ägypten wandern“.

Für die Anhänger der Wissenschaft und der menschlichen Rationalität ist dies die Essenz des Versprechens von Stabilität, Wohlstand und Sicherheit. Wenn etwas völlig ausser Kontrolle gerät, ist das nicht – gemäss der „Religion der Rationalität“ – weil das Versprechen übertrieben war, sondern weil jemand nachlässig war, seine Arbeit nicht richtig gemacht hat oder nicht rechtzeitig den richtigen Experten konsultiert hat.

Der französische Philosoph Paul Virilio beschrieb ausführlich, wie das rationale wissenschaftliche Denken die Kontrolle über die Welt der Phänomene anstrebt und selbst das Unkontrollierbare kontrollieren will. Seiner Ansicht nach könnte diese Knechtschaft mit den grossen Versprechungen von Technik und Wissenschaft jedoch durchaus zu einem „ganzheitlichen Unfall“ führen, der nicht nur die menschliche Wahrnehmung der Technik verändern, sondern sogar das Ende des „Projektes der Moderne“ herbeiführen könnte.

Der Finger Gottes

In Zeiten der Not und höchster Belastung besteht die ultimative Prüfung einer nationalen Führung in erster Linie in ihrer Fähigkeit, im Auge des Sturms richtig zu funktionieren und gleichzeitig entschlossene Entscheidungen und Massnahmen zu treffen, die auf den Ausnahmezustand abgestimmt sind, wenn sich das volle Ausmass der Katastrophe allmählich abzeichnet. Und hier zeigen sich die grundlegenden Verhaltensprobleme des modernen Staates: Zu einem Zeitpunkt, an dem der „grösste anzunehmende Unfall“ tatsächlich eingetreten ist, hat er Schwierigkeiten, damit umzugehen. Wegen prozeduraler und rechtlicher Einschränkungen, hartnäckiger Vorschriften, wegen des Unverständnisses für das noch nie da gewesene Ereignis und wegen des Impulses, eine zentrale Kontrolle über die Krise anzustreben, wenn nicht klar ist, dass sie überhaupt beherrschbar ist.

Die ägyptischen Hieroglyphen, die einst an der Spitze der Wissenschaft standen, konnten die Krise der Plagen über Ägypten gut beschreiben: „Es ist der Finger Gottes“.Die Demut, die unter extremen Krisenbedingungen dieser Grössenordnung notwendig ist, betrifft nicht nur die Beziehung zwischen Mensch und Gott, sondern auch zwischen Mensch und Naturgewalten. Hier beginnt der Weg zur Bewältigung der Krise: in dem Bewusstsein, dass nicht alles von Menschen beherrschbar ist. Die bedeutenden Wissenschaftler wissen, wie sehr selbst das wissenschaftliche Streben eine tiefe Demut und die Hoffnung auf die Erlösung durch den Schöpfer erfordert.

Generalmajor (a. D.) Gershon Hacohen ist Senior Research Fellow am Begin-Sadat Center for Strategic Studies. Er diente 42 Jahre lang in den israelischen Verteidigungsstreitkräften (IDF). Dies ist eine überarbeitete Version eines Artikels, der im April 2020 in The Liberal veröffentlicht werden soll. Übersetzung Audiatur-Online.