Purim: Hört auf mit dem Theater!

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Sicherheitskräfte überwachen die Strassen Jerusalems während des jüdischen Purim-Festes und beschützen die Menschen, die sich kostümiert haben und feiern. Jerusalem, 8. März 2020. Foto Yehonatan Valtser/TPS
Sicherheitskräfte überwachen die Strassen Jerusalems während des jüdischen Purim-Festes und beschützen die Menschen, die sich kostümiert haben und feiern. Jerusalem, 8. März 2020. Foto Yehonatan Valtser/TPS
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Die Purim-Aktivitäten mögen uns momentan als völlig unpassend vorkommen. Gerade jetzt, mitten in der Pandemie von Corona-Virus sollen wir in einer Synagoge oder einer Party, auf engstem Raum versammelt werden?! Nur wegen Erinnerungen an Ereignisse, die vor ca. 2,5 Jahrtausenden stattfanden bzw. nicht stattfanden?!

Wenn es wenigstens ein hoher Feiertag wäre wie Yom Kippur! Und was für ein unernstes Fest ist denn Purim!? Verkleidungen? Karneval nach Fastenzeit ist doch christlich-abendländisch! Alkohol bis zur Bewusstlosigkeit? Nur weil ein Weiser namens Rawa  (רבא), alias Abba ben Joseph bar Chama vor ca. 1700 Jahren im Traktat Meggillah 7b dazu aufgerufen hat?! Päckchen mit Essen? Nur weil dies in der Esther-Rolle (9:22) erwähnt wird?! Damals postete man noch nicht in Social Media böse Bilder von leeren Läden nach panischen Hamsterkäufen! Hat ein moderner Mensch wirklich Zeit und Nerven für Purim, während eine Hiobsbotschaft nach der anderen auf uns kommt? Die Börsen crashen weltweit; ganz in der Nähe des Staates Israel, in Syrien bricht gerade eine politisch-militärische Katastrophe aus, in welche die Türkei und Russland immer mehr involviert werden! Und jetzt kommen schon wieder „diese Orthodoxen“ mit ihren veralteten Verrücktheiten! Hört auf mit dem Theater!

Haman sagte über uns Juden: „…ein zerrissenes Volk, am zerstrittensten unter allen Völkern!“ (3:8) Darauf antwortet Esther: „Geh, versammele alle Juden zu einem Ort!“ (4:16). Wie falsch wäre zu denken, dass Purim „ein Fest nur für die Frommen“ sei.

Schauen wir hinter die bunten Masken und Hüllen, blicken wir in die Tiefe! Man trägt eine Maske, frau trägt eine Maske… Mordechai ist ein Minister am Hof des persischen Grosskönigs, vielleicht ein verdienter General und Veteran der Persich-Griechischen Kriege (vgl. Rabbiner Dr. Benjamin Lau basierend auf dem Midrasch Esther Rabba; vgl. Mordoch bei Herodotes). Hadassa setzt die Maske der First Lady auf, um ihren Traum zu verwirklichen. „American dream“: vom Tellerwäscher zum Millionär. „Old Persian dream“: Von Hadassa zu Esther, der mächtigsten Frau im Weltreich mit 127 Provinzen. Die Namen sprechen Bänder: Marduk und Ishtar. Wer seine Kinder so nennt, träumt von Integration, die in die Assimilation fliessend übergeht. Erwachte man aus diesem Traum erst nach der Dreifuss-Affäre? Oder viel früher, als im Archetyp der Wannsee-Konferenz der Diktator und seine Rechte Hand zum ersten Mal in der Geschichte der Diaspora eine Endlösung beschlossen haben? In dieser Stunde der Wahrheit wirft man die persische Maske ab und zeigt sein wahres Gesicht: Mordechai bekennt sich als Jude, bleibt unbeugsam und tut alles, was in seiner Macht ist, um sein Volk zu retten. Auch frau wirft ihre Maske ab: Hadassa setzt nicht nur ihre Karriere, sondern selbst ihr Leben aufs Spiel, um das Volk Israel zu retten. Sie würde das nicht schaffen, dachte sie zuerst. Aber sie tut ihr Bestes. Ist so eine Rettung überhaupt in ihrer Macht? Sind wir Menschen nicht die Schauspieler auf der Bühne der Geschichte? Ist nicht alles von DEM Regisseur inszeniert, DER hinter den Kulissen bleibt? Oder können wir-Marionetten zwischen mehreren vorgegebenen Rollen wählen? Ein aufgeklärter persischer General mit jüdischen Wurzeln hätte sich vor Haman beugen und schweigen können, als „diese Orthodoxen“ beseitigt werden sollten. Die First Lady, die ihre jüdische Abstammung (auf Befehl des erwähnten Generals!) lange verheimlichte, hätte nur eine bittere Träne in ihrem goldenen Käfig verstohlen gewischt und nur still gedacht: „Schade!“ Sie hätte ihre Ohren verschliessen können, als sie von Mordechai hörte: „Bilde Dir nicht ein, im königlichen Palast gerettet zu werden!“

Esther und Mordechai entscheiden sich für eine andere, jüdische Rolle der Treue, während sie sich noch machtlos fühlen. Doch sie irren sich! Sie sind nicht machtlos! Der Ewige Regisseur hinter der Bühne erhebt sich von dem Regiestuhl und klatscht in die Hände: „Bravo, meine Kinder! Darauf habe ich gewartet! Jetzt bin ich dran!“ Immer noch hinter den Kulissen bleibend, inszeniert ER eine Kette der „Zufälle“: Zufällig rettet der General mit jüdischen Wurzeln den Diktator vor einem Putsch seiner Fremdenlegion. Zufällig kann der Diktator nicht einschlafen, während DER KÖNIG über SEIN Volk die ewige Wache hält. Zufällig liest man dem Diktator als eine „gute-Nacht-Geschichte“ ausgerechnet die Aktennotiz über den Putsch und die Rettung. Zufällig ist Haman im Palast, als der Diktator den jüdischen General belohnen will. Zufällig lehnt sich Haman zu weit aus dem Fenster, indem er sich für den belohnungswürdigen „Wohltäter“ hält und das königliche Pferd sowie königlichen Mantel als Auszeichnung für sich verlangt, so dass der Diktator denkt: „vielleicht auch meine Krone?!“ Zufällig findet die First Lady die richtigen Worte: „Rette mich, o grosser Beschützer!“ (und ganz nebenbei: „rette auch mein Volk!“). Zufällig geht der angetrunkene Diktator aus dem Partyraum hinaus, um seinen hitzigen Kopf im Garten abzukühlen. Zufällig kehrt er ausgerechnet dann zurück, wenn Haman der First Lady zu Füssen fällt um sie um Gnade anzuflehen. Zufällig interpretiert der Diktator das als eine versuchte Vergewaltigung, weil – wer weiss? – dem Haman ein unsichtbares Beinchen zufällig gestellt wurde, so dass er stolperte und nicht zu Füssen der Königin, sondern auf die Königin fiel. „Hundert graue Pferde machen nicht einen einzigen Schimmel“ – sagte Goethe. Ergeben hundert perfekt aufeinander abgestimmte Zufälle einen grossen „Zufall“?

Wir Juden wissen, wie oft wir zum Sündenbock gemacht wurden

„Wir sind nicht fromm! Wir gehen nur am Yom Kippur in die Synagoge!“ – sagt heute manche Hadassa, die unbedingt eine moderne Esther bleiben will. „Dann sollst Du am Purim erst recht hingehen!“ – sagt die lurianische Kabbala, der zufolge der Versöhnungstag bloss ein Schatten von dem tiefsinnigsten aller Feste ist, ein Yom kePurim, ein Tag wie Purim sei. Am Versöhnungstag wird durch Lose der eine Ziegenbock für Haschem und der andere für Asasel bestimmt. Wir Menschen sind uns dessen bewusst, mit welcher Macht der sogenannte Zufall in unsere Schicksale eingreift. Wir Juden wissen, wie oft wir zum Sündenbock gemacht wurden. Achaschwerosch und Haman bestimmen durch ein Los (persisch Pur, plural Purim) den Tag der Endlösung und wollen damit zur Sprache bringen: „Wir sind die Herrscher des Zufalls, der in unseren Händen zum Werkzeug wird!“ Sie wissen noch nicht, dass sie Spielzeuge, Marionetten und Zielscheiben dessen sind, was sie Zufall nennen und was unsere Weisen die Haschgacha, die Vorsehung nannten.

Es ist nicht in unserer Macht, die vielleicht tödliche Gefahr der Ansteckung durch Corona-Virus vollständig auszuschliessen. Wir wissen nicht und können auch nicht beeinflussen, welche Rollen die Schauspieler der grossen Bühne (Trump, Assad, Putin, Erdogan usw.) für sich wählen. Wenn wir gewusst hätten, wie die Börse morgen aussieht, wären wir alle Milliardäre. Wir wissen jedoch aus der Erfahrung von Jahrtausenden, dass all das Bestandteile eines grossartigen Spektakels sind, dessen Skript nicht nur in menschlichen Händen liegt. Allerdings wird alles, was wir tun, in Sefer der Sichronot, in das Buch der Erinnerungen, in das erwähnte Skript, eingetragen. Wir dürfen deswegen nicht passiv bleiben, so wie Esther und Mordechai nicht untätig geblieben sind. Und nachdem die Würfel gefallen sind, müssen wir vielleicht (G-tt behüte!) auch um unsere Existenz kämpfen.

Purim sameach – fröhliches Purimfest, liebe Freunde!

Über Elijahu Tarantul

Rabbiner Elijahu Tarantul hat Erfahrung als Gemeinderabbiner, Lehrer und Dozent und ist zur Zeit unter anderem als Maschgiach (Aufsicht über koschere Lebensmittel) in einer Pflegeresidenz in der Schweiz tätig.

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