Die andere Epidemie – Antisemitische Verschwörungstheorien und der kurze Weg zur Gewalt

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Dresden - Nach Attentat in Halle: Verstärkte Sicherheitsvorkehrungen an Dresdner Synagoge. Foto imago images / xcitepress
Dresden - Nach Attentat in Halle: Verstärkte Sicherheitsvorkehrungen an Dresdner Synagoge. Foto imago images / xcitepress
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Wie der Antisemitismusbericht 2019 des Schweizerischen Israelitischen Gemeindebundes SIG festgestellt hat, sind Verschwörungstheorien die verbreitetste Form des Antisemitismus in der Schweiz. Gemäss dem Bericht stehen 36.5 Prozent der insgesamt 523 Vorfälle in Bezug zu Verschwörungstheorien, die primär über das Internet verbreitet werden. Der Bericht vermerkt jedoch zurecht, dass die Dunkelziffer hoch ist – wahrscheinlich sogar um ein Vielfaches. Wer auf Facebook nach antisemitischen und verschwörungstheoretischen Gruppen sucht, wird schnell fündig.

Wie sind diese Zahlen zu erklären? Verschwörungstheorien sind zunächst einmal attraktiv. Ohne sich vertieft mit solch komplexen Materien wie Wirtschaft und Politik auseinanderzusetzen zu müssen, verschaffen sie Orientierungshilfe und vermitteln ein Überlegenheitsgefühl gegenüber den Unwissenden. Die klassischen antisemitischen Verschwörungstheorien, die Juden überbordende Macht und die Kontrolle über weitgehende politische und wirtschaftliche Geschehnisse unterstellen, haben sich seit ihrer Entstehung ständig gewandelt und vermögen immer wieder, neue Segmente zu erschliessen. In den letzten Jahren haben antisemitische Verschwörungstheorien einen ungeahnten Aufschwung und eine breite Akzeptanz erhalten. Ein Schlüsselereignis hierfür war zweifellos der 11. September, in dessen Nachgang oftmals antisemitisch angehauchte Theorien über einen «Inside Job» von Aktivistengruppen wie den «Truthers» aktiv verbreitet und auch in klassischen Medien ernsthaft diskutiert wurden. 

Die klassischen antisemitischen Verschwörungstheorien entstanden im Laufe des neunzehnten Jahrhunderts. Sie sind vor allem als Reaktion auf die beginnende Emanzipation der Juden zu verstehen, die die «natürliche Ordnung» der Juden als untergeordnete Gesellschaftsgruppe aufbrach. In dessen Zuge gelang ambitionierten Juden relativ rasch der soziale Aufstieg, was viele Zeitgenossen verunsicherte. Verschwörungstheorien boten eine saubere Erklärung für diese unverstandene Entwicklung. Eine ihrer Manifestationen war die Broschüre «Das Judentum in der Maurerey» des Freimaurers Johann Ehrmann aus dem Jahr 1816, das jüdische Freimaurer scharf angriff und ihnen unterstellte, die Freimaurerei zu unterwandern, um die Weltherrschaft zu übernehmen.

Besonders Frankreich erwies sich als fruchtbares Pflaster für die Erfindung jüdischer Weltverschwörungstheorien. Wichtige Wegmarken dieser Entwicklung waren französische Frühsozialisten wie Alphonse Toussenel, der die Juden mit dem Kapitalismus gleichsetzte und scharf gegen jüdische Bankiers wie die Rothschild-Familie polemisierte, oder der katholische Polemiker Gougenot des Mousseaux, der von einer Weltverschwörung von Juden und Freimaurern gegen das Christentum fantasierte. Edouard Drumont nahm diese Theorien auf und verarbeitete sie zu seinem 1886 erschienenen Bestseller La France Juive – ein Buch, das solche Verschwörungstheorien einer breiten Öffentlichkeit bekannt machte. Es inspirierte auch die 1903 erschienen Protokolle der Weisen von Zion, der zweifellos wirkungsmächtigsten antisemitischen Verschwörungstheorie, hinter der auch Autoren der russischen Geheimpolizei steckten, die zuvor in Frankreich stationiert waren. Solche Theorien wurden später von den Nationalsozialisten aufgegriffen und waren neben dem rassistischen Antisemitismus einer der ideologischen Hauptmotivatoren für den Holocaust. [1. Zur Geschichte antisemitischer Verschwörungstheorien, siehe Hadassa Ben-Itto, The Lie That Wouldn’t Die: The Protocols of the Elders of Zion (Elstree, 2005); Robert S. Wistrich, From Ambivalence to Betrayal: The Left, the Jews, and Israel (Lincoln: University of Nebraska Press, 2012).]

Täter durch Verschwörungstheorien motiviert

Ebenso wie in der Vergangenheit sind Verschwörungstheorien auch grundlegend für den zeitgenössischen Antisemitismus in allen seinen Formen, sei er islamistischer, rechtsextremistischer oder linksextremer Natur. Über YouTube und soziale Netzwerke erreichen sie heute eine rasche Verbreitung. Nicht alle, die sie artikulieren und etwa von der Macht der Rotschilds oder von der Macht der zionistischen Lobby in den USA sprechen, sind sich ihrer Geschichte und ihres antisemitischen Kerns bewusst. Sie sind jedoch nicht harmlos: In den letzten Jahren ist es zu vielen antisemitischen Gewalttaten und Anschlägen gekommen, deren Täter durch Verschwörungstheorien motiviert waren. Deshalb soll im Folgenden kurz auf die wichtigsten Theorien eingegangen werden, die antisemitische gewalttätige Bewegungen in Europa und den USA derzeit inspirieren.

Im rechtsextremen Milieu ist die Theorie, das Juden für die Immigration in die USA und nach Europa oder gar für einen angeblich geplanten Genozid an den Weissen verantwortlich macht, weit verbreitet. Mehrere Terroristen nannten auch die Turner Diaries als Inspiration für ihre Gewalttaten, einem Roman aus dem Jahr 1978, der einen fiktiven Krieg rassistischer Terroristen gegen Juden, Schwarze und die jüdisch-kontrollierte amerikanische Regierung beschreibt und mit der Vernichtung aller «Nicht-Arier» endet. Sowohl der Attentäter auf eine Synagoge in Pittsburgh im Oktober 2018 als auch jener auf eine Synagoge in Poway in Kalifornien im April 2019 artikulierte solche Theorien. Mittels Onlineplattformen wie 8chan haben diese Theorien innert kurzer Zeit ein weltweites Publikum erreicht. Auch der Attentäter, der kürzlich einen Anschlag auf die Synagoge in Halle verübte, nahm diesen ursprünglich amerikanischen Diskurs auf und behauptete, dass die Regierung von den Zionisten beherrscht werde (ZOG, «Zionist occupied governement») und dass Juden hinter der islamischen Einwanderung stecken würden. Neben Juden wollte der Attentäter deshalb auch Polizisten töten, die er als Sklaven der Zionisten, «ZOG-Bots», bezeichnete.[2. Andre Oboler, William Allington, and Patrick Scolyer-Gray, “Hate and Violent Extremism from an Online Sub-Culture: The Yom Kippur Terrorist Attack in Halle, Germany” (Online Hate Prevention Institute, 2019), 38.]

Von vielen wird die jüngste Erstarkung rechtsextremen antisemitischen Terrors auf den Erfolg rechtspopulistischer Programme zurückgeführt. Antisemitische Verschwörungstheorien sind jedoch seit jeher ein fester Bestandteil des Rechtsextremismus und die jüngste Welle antisemitischer Gewalt kann auch als Gegenreaktion zum Rechtspopulismus verstanden werden. Dieser hat sich seit dem 11. September aktiv vom Antisemitismus distanziert und damit den rechtsextremen Antisemitismus innerhalb der politischen Rechten an den Rand gedrängt. Mehrere Attentäter haben denn auch Trump in ihren Manifesten massiv angegriffen. So beschimpfte der Attentäter auf die Poway Synagoge Trump als «zionistisch, Juden liebend, anti-weiss und verräterisch.» [3. “The Anti-Jewish Manifesto Of John T. Earnest, The San Diego Synagogue Shooter,” MEMRI, accessed February 25, 2020, https://www.memri.org/reports/anti-jewish-manifesto-john-t-earnest-san-diego-synagogue-shooter.]

Auch die antisemitische, sogenannte Alt-Right Bewegung in den USA, die 2016 während des Wahlkampfs von Donald Trump einen Aufschwung erlebte, attackierte primär prominente konservative Juden wie den Radiomoderatoren und Buchautoren Ben Shapiro oder den Journalisten Seth Mandel.

«Attraktive» Abkürzung zur Radikalisierung

Auch Rechtextremisten, die aus dem Umfeld schwarzer nationalistischer Gruppierungen wie den Black Hebrew Israelites oder Louis Farrakhans Nation of Islam stammen, waren in den letzten Jahren massgeblich für den Anstieg antisemitischer Gewalt in den USA verantwortlich. Hier sind verschiedene antisemitische Verschwörungstheorien populär: So werden Juden für die Sklaverei verantwortlich gemacht oder es wird behauptet, dass es sich bei den Juden um Betrüger handelt und dass die wahren Juden schwarzer Hautfarbe seien. Letztes Jahr kam es aus diesem Milieu fast täglich zu Übergriffen auf orthodoxe Juden im Raum New York. Im Dezember 2019 griffen zwei ehemalige Black Hebrew Israelites einen jüdischen Supermarkt in Jersey City an und ermordeten drei Personen. Ende Dezember griff ein anderer Attentäter in einem Vorort von New York eine private Chanukka-Feier an. Auch er stand unter dem Einfluss des schwarzen Nationalismus. [4. “Center on Extremism Uncovers More Disturbing Details of Jersey City Shooter’s Extremist Ideology,” Anti-Defamation League, accessed February 26, 2020, https://www.adl.org/blog/center-on-extremism-uncovers-more-disturbing-details-of-jersey-city-shooters-extremist.] Antiisraelische Gruppierungen agitieren zudem seit Jahren innerhalb afroamerikanischer politischer Bewegungen wie der Black Lives Matter und versuchen gezielt, mittels der Verbreitung von Verschwörungstheorien unter den amerikanischen Schwarzen Stimmung gegen Israel zu machen – etwa indem sie suggerieren, dass amerikanische Polizisten gewalttätig gegen Schwarze vorgehen, weil sie dies in Anti-Terrortrainings in Israel so gelernt hätten. All dies trägt zu einem zunehmend grassierenden gewalttätigen Antisemitismus in den USA bei – der allerdings noch viel zu selten adressiert wird.

In Europa wird der gewalttätige Antisemitismus schon seit einiger Zeit von islamistischen Akteuren dominiert. Auch für das islamistische Weltbild sind antisemitische Verschwörungstheorien grundlegend. Ihre Entwicklung vollzog sich weitgehend parallel zu jener in Europa und entstand ebenfalls aus der Empörung über die verbesserte Stellung der Juden, die von den Europäischen Grossmächten aufgezwungen und als unnatürlich empfunden wurde.  Schon im späten neunzehnten Jahrhundert wurde die Idee einer freimaurerisch-jüdischen Verschwörung im Nahen Osten aufgenommen. Die führenden Denker der islamistischen Bewegung vermischten dieses moderne verschwörungstheoretische Denken mit der klassischen islamischen Judenfeindschaft und dichteten den Juden den Plan an, an der Zerstörung des Islams zu arbeiten. Solche Ideen findet man heute in allen islamistischen Bewegungen, und sie sind auch ein wesentlicher Bestandteil der Onlinepropaganda dschihadistischer Gruppierungen, die junge Muslime zu Gewalt insbesondere gegen Juden, aber auch gegen andere Nichtmuslime anstiften soll. Während die religiöse Indoktrination anspruchsvoll und zeitintensiv ist, sind Verschwörungstheorien auch für weniger Gebildete und Ungeduldige gut verständlich und bieten daher eine «attraktive» Abkürzung zur Radikalisierung.

Das Phänomen grassierender Verschwörungstheorien gleicht heute einer Epidemie. Gezielte Aufklärung über ihren Inhalt, gerade auch unter jungen Menschen und anfälligen Bevölkerungsgruppen, wie Migranten aus islamischen geprägten Ländern, kann einen Beitrag zu ihrer Eindämmung leisten. Grund zu Optimismus gibt es jedoch nicht. Verschwörungstheorien sind seit 200 Jahren eine Konstante im Antisemitismus – und sie werden es wahrscheinlich auch noch lange bleiben.

Über Daniel Rickenbacher

Dr. Daniel Rickenbacher ist Kreitman Postdoctoral Fellow an der Ben Gurion Universität in Israel, wo er zur Geschichte des Pan-Islam während der Mandatsperiode forscht. Zuvor arbeitete er als Research Associate am Concordia Institute for Canadian Jewish Studies in Montreal und als wissenschaftlicher Assistent am Lehrstuhl für Strategische Studien an der Schweizer Militärakademie (MILAK) der ETH Zürich.

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