Tunesiens Missionare des Dschihad

Wie wurde aus einem demokratischen Lichtblick im Arabischen Frühling eine wichtige Nachschubquelle für Kämpfer des Islamischen Staats?

0
Foto Screenshot "Your Sons Are at Your Service: Tunisia's Missionaries of Jihad" / Youtube
Foto Screenshot "Your Sons Are at Your Service: Tunisia's Missionaries of Jihad" / Youtube
Lesezeit: 6 Minuten

Am 11. Februar sprachen Aaron Y. Zelin und Rukmini Callimachi vor einem Politikforum am Washington Institute for Near East Policy. Zelin ist Richard Borow-Fellow am Washington Institute, Gastwissenschaftler an der Brandeis University und Autor der Neuerscheinung Your Sons at Your Service: Tunisia‘s Missionaries of Jihad (Eure Söhne stehen Euch zu Diensten: Tunesiens Missionare des Dschihad) Callimachi ist viermalige Finalistin für den Pulitzer Preis und schreibt zum Thema Islamischer Staat (IS) und Al-Qaida für die New York Times. Der nachfolgende Text ist eine Zusammenfassung ihrer Ausführungen.

AARON ZELIN

Viele Beobachter waren sich nicht bewusst, dass vor 2011 unverhältnismässig viele Tunesier in den Dschihadismus involviert waren, hauptsächlich, weil sich ein grosser Teil dieser Aktivitäten in ausländischen Konfliktgebieten abspielte. Vom antisowjetischen Dschihad in Afghanistan bis hin zu den Terroranschlägen in Mali waren sie bereits dreissig Jahre vor der tunesischen Revolution in der Bewegung aktiv und spielten eine wichtige Rolle als Auslandskämpfer in Bosnien, Algerien, Irak und andernorts. Darüber hinaus waren sie zentrale Bestandteile eines in Europa ansässigen Logistik-, Vermittlungs- und Rekrutierungsnetzwerks, das in erster Linie von Mailand aus operierte, jedoch auch in Paris, Brüssel und London präsent war. Diese Beispiele helfen zu verstehen, warum sich so viele tunesische Auslandskämpfer in den vergangenen Jahren dem Kampf in Syrien angeschlossen haben. 

In der Zwischenzeit wurden zahlreiche extreme tunesische Dschihadisten mit terroristischer Vergangenheit aufgrund verschiedener Faktoren wieder in die Freiheit entlassen. Zu diesen Faktoren zählen der Übergangscharakter der nachrevolutionären Regierung, unzureichende Überwachung der Häftlingspopulation sowie Druck seitens der Revolutionäre. Die Übergangsregierung genoss während ihrer Amtszeit nur geringe innerstaatliche Legitimität, eine Situation, die der Ansar al-Scharia in Tunesien (AST) die Gelegenheit verschaffte, sich in aller Ruhe zu organisieren und ihr Gedankengut zu verbreiten.

Auch die Wahlen nach der Revolution waren nicht in der Lage, dieses Problem zu beheben: Die Regierung unter der Führung der Ennahda war zwar engagierter im Umgang mit der AST, ihre Spekulation auf eine zurückhaltende Politik erwies sich jedoch als kostspielig. Diese Situation nutzte die Ansar al-Scharia aus, indem sie eine „Da‘wa First“-Herangehensweise („Ruf zum Islam“ bzw. „Ruf zu Allah“ in Form von missionarischer Aktivität, Anm.d.Red.) vor die einer „Dschihad First“-Herangehensweise setzte.  Die Fokussierung auf Öffentlichkeitsarbeit, religiöse Erziehung, Wohltätigkeit und Hilfsmassnahmen ermöglichte es der Organisation, ein breiteres Publikum zu erreichen, wie dies der Fall gewesen wäre, wenn sie nur eine weitere typische illegale Gruppierung, wie die Al-Qaida, gewesen wäre. Eine der Botschaften der AST, die besonders bei Tunesiern, die nach der Revolution auf der Suche nach etwas Neuem waren, positiven Widerhall fand war: „Eure Söhne stehen Euch zu Diensten“, ein Slogan, der den Bürgern zeigen sollte, dass die Organisation der Gesellschaft etwas zurückgibt.

Was zwischen 2011 und 2013 in Tunesien geschah, hilft zu verstehen, warum sich danach so viele Bürger dem Islamischen Staat (IS) anschlossen. Viele wurden von ihren Erfahrungen mit der AST geprägt, deren Zerfall einen Wandel in der dschihadistischen Bewegung des Landes hervorrief. Sie war nicht länger eine geschlossene und von Tunesiern geführte Einheit, die primär auf inländische Themen konzentriert war, sondern wurde durch Gruppierungen mit bekannten Namen – wie dem IS – wieder globaler. Der tunesische Dschihadismus kehrte zu seinen historischen Wurzeln zurück, indem Einzelpersonen als Kämpfer im Ausland eingesetzt wurden und bei der Planung und Durchführung von Attentaten halfen. Auch waren es Tunesier, die dazu beitrugen, das Da‘wa -Programm des IS zu gründen – Abu Waqas al-Tunisi war das Gesicht des Programms, das bis Ende 2013 in sechs seiner Videos zu sehen war. 

Die gescheiterte Übernahme von Ben Gardane in März 2016 stellte sich als Wendepunkt für die Macht der IS innerhalb Tunesiens dar. Nach einem Jahr voller aufsehenerregender IS-Anschläge wirkte sie sich sehr positiv auf die politische Legitimität und den militärischen Einsatz der Regierung aus. Seither ist es den tunesischen Behörden gelungen, die Bewegung allmählich zu zersetzen. Der Dschihadismus hat derzeit seinen Tiefststand seit der Revolution erreicht, während der Staat ein hohes Mass an Erfahrung und ein besseres Verständnis über die Bewegung gewonnen hat. 

Dennoch gibt es nach wie vor Herausforderungen. Die dschihadistische Bewegung ist keine Vorhut mehr – sie ist eine gesellschaftliche Bewegung mit einer eigenen Subkultur und es ist nicht länger ausreichend (wenngleich immer noch erforderlich), ausschliesslich von einem Standpunkt der militärischen und juristischen Strafverfolgung mit ihr umzugehen. Viele der Menschen, die sich dem IS oder der AST anschlossen, taten dies nicht aus gewalttätigen Gründen, sondern, um an sozialen Projekten teilzunehmen und um einen positiven Beitrag in ihrer Nachbarschaft zu leisten – eben dem, womit diese Gruppen werben. Dementsprechend müssen einheimische wie auch westliche Regierungsvertreter Alternativen liefern, die bei diesen Menschen Anklang finden, einschliesslich eines verstärkten Fokus auf die Unterstützung junger Tunesier, und sie mit an Bord nehmen.

Insgesamt traten 3.000 Tunesier dem IS im Irak und Syrien bei; in Syrien waren es etwa 1.500. Laut der tunesischen Regierung sind mindestens 1.000 von ihnen mittlerweile wieder nach Hause zurückgekehrt. Als Reaktion darauf hat die Regierung in den vergangenen zwei Jahren Pilotprojekte innerhalb des Strafvollzugssystems gestartet, bei denen sie sich mit Organisationen der Zivilgesellschaft aus den Bereichen Rehabilitation und Reintegration zusammenschliesst. Ausserdem unterstützt sie eine Reihe von Workshops mit lokalen Regierungsvertretern und Vereinigungen, die, so hofft man, ein kommunales Rückgrat für Heimkehrer bilden werden, damit diese, nach der Verbüssung ihrer Haftstrafen, beginnen können, sich wieder zu integrieren.

RUKMINI CALLIMACHI

In der Anfangsphase der Entwicklung der Ansar al-Scharia in Tunesien war die Organisation alles andere als gewaltbereit. Sie war in erster Linie an der Bereitstellung von Dienstleistungen interessiert, von Lastwagen voller Kleidung über Kliniken, bis hin zu Wohltätigkeitsaktionen, und vielem mehr. Dies zeigt, wie Terrororganisationen aus ihrer Vergangenheit lernen können, auch wenn sie häufig als ausschliesslich auf gewalttätige Taktiken festgelegt angesehen werden. Der bekannte Al-Qaida-Führer Atiyah Abd al-Rahman al-Libi sprach einmal über das Scheitern der Dschihadisten in Algerien in den 1990er Jahren, als die Groupe Islamique Armé (GIA) anfangs grossen Zuwachs verzeichnete, aber dann sehr brutal und extrem wurde. Die von ihr verübten Gräueltaten – auch an ihren eigenen Angehörigen – gingen nach hinten los. AST-Führer Abu Iyad al-Tunisi wuchs im weiteren Umfeld dieser Bewegung auf und wurde von den gelernten Lektionen stark beeinflusst.

Die Debatte darüber, ob die AST ein echter Ableger der Al-Qaida ist, dauert an. Nichtsdestotrotz weiss man vom Briefwechsel zwischen Abu Iyad und dem derzeitigen Anführer der Organisation, Ayman al-Zawahiri, sowie den Anführern der Al-Qaida auf der Arabischen Halbinsel (AQAP) und denen der Boko Haram und Al-Shabaab. Darüber hinaus weisen in Osama bin Ladens Haus in Abbottabad sichergestellte Dokumente darauf hin, dass zur Zeit der Entstehung der AST die Al-Qaida darüber entschied, die Benennung ihrer Zweigstellen mit „Al-Qaida“ zu stoppen – möglicherweise aufgrund der intensiven Bemühungen des US-Finanzministeriums, Gruppen mit dieser Namensgebung offenzulegen und zu benennen. Zum Beispiel nannte sich damals die AQAP vor Ort „Ansar al-Sharia in Yemen“.

Was Terroranschläge in Europa, wie etwa im Januar 2015 auf das Büro der Satirezeitschrift Charlie Hebdo, die Anschläge in Paris vom November 2015, die Anschläge in Brüssel vom März 2016 etc. anbetrifft, so scheinen die Vorfahren der Attentäter in erster Linie marokkanisch-französischer und tunesisch-französischer Herkunft zu sein. Häufig werden diese Täter in Nordafrika geboren, kommen als Kinder nach Europa und sehen sich dann zunehmend gefangen zwischen zwei Welten, unfähig das Stigma des Immigranten zu überwinden, selbst dann, wenn sie fliessend französisch sprechen. Gleichzeitig waren nur wenige algerisch-französische oder libysch-französische Personen bei solchen Attentaten involviert, was zahlreiche Fragen hinsichtlich der dschihadistischen Milieus in Tunesien und Marokko aufwirft.

Diese Zusammenfassung wurde von Kevin Mathieson ausgearbeitet. Übersetzung Audiatur-Online.