Ist der IS in der Zeit nach dem Kalifat noch eine Gefahr für Israel?

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Blick auf das Grenzgebiet zwischen Israel und der ägyptischen Sinai-Halbinsel. Foto Yossi Zeliger/Flash90
Blick auf das Grenzgebiet zwischen Israel und der ägyptischen Sinai-Halbinsel. Foto Yossi Zeliger/Flash90
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Er entwickelte sich von einer hybriden Terrororganisation, die ihr eigenes Territorium kontrollierte, zu einem klassischen dezentralisierten Terrornetzwerk. Nichtsdestotrotz ist der IS-Zweig im Sinai nach wie vor einer der schlagkräftigsten der Welt.

von Yaakov Lappin

Im Mai 2019 verlor der IS seine letzte Hochburg in Syrien und der Rest seines „Kalifats“ – sprich, das von ihm kontrollierte Territorium und dessen Bevölkerung – brach zusammen. Dieses Ereignis stand in keinem Verhältnis zu seiner Blütezeit in den Jahren 2012–14, als er ganze Landstriche Syriens und des Iraks kontrollierte und über Millionen von Menschen herrschte.

Jetzt, da der Nahe Osten in die Ära des sogenannten Post-Kalifats eintritt, könnte man versucht sein, zu glauben, die internationale Gemeinschaft sei sicher vor Angriffen des IS; dennoch mahnen Beobachter in Israel zur Vorsicht, dass dem leider nicht so ist.

Professor Boaz Ganor, Gründer und Geschäftsführer des International Institute for Counter-Terrorism (ICT) in Herzliya, wies darauf hin, dass hybride Terrororganisationen, wie der IS in der Vergangenheit, über ein Gebiet und dessen Bevölkerung herrschen, während klassische Terrororganisationen, die keine Gebiete kontrollieren, sich ausschliesslich auf ein Ziel konzentrieren: die Planung und Ausführung von Anschlägen.

„Hybrid-Organisationen sind für gewöhnlich gross, verfügen über eine breite Basis sowie klare Führungs- und Kontrollsysteme. Normalerweise entwickeln sie neben militärischen Terrorsystemen politisch-zivile Systeme, die dafür verantwortlich sind, sich um die Bedürfnisse der unter ihrer Kontrolle stehenden Bevölkerung zu kümmern, wie etwa die Versorgung mit Nahrungsmitteln und Wasser, die Durchsetzung von Rechtsvorschriften, Schuldbildung und mehr“, so Ganor gegenüber der Nachrichtenagentur Jewish News Syndicate (JNS).

Hybrid-Terrororganisationen, wie die Hisbollah und die Hamas, denken weiter als klassische Terrororganisationen. Sie sind zudem sichtbarer auf dem Radar der Geheimdienste.

Der IS fällt nun zurück ins Stadium des klassischen Terrorismus. „Damit ist er zwar möglicherweise schwächer, aber gleichzeitig auch gefährlicher, da sich die verschiedenen Teile der Organisation ausserhalb des Erfassungsbereichs der Geheimdienste befinden“, warnte Ganor.

Dennoch sagte er: „Israel muss sich keine allzu grossen Sorgen wegen der Gefahr durch den IS machen … die wesentliche Sicherheitsbedrohung geht von einer anderen Terrororganisation aus – der Hisbollah, die über ein nie dagewesenes Arsenal von 150.000 Raketen und Flugkörpern verfügt, die das gesamte Hoheitsgebiet Israels abdecken.“

Laut einem aktuellen Bericht des in Tel Aviv ansässigen Meir Amit Intelligence and Terrorism Information Center gab es 2019 keine Aktivitäten eines IS-Netzwerks im Westjordanland und auch im Gazastreifen verhielten sich salafistisch-dschihadistische Organisationen weitgehend ruhig.

Vor einigen Jahren bestanden enge Verbindungen zwischen salafitischen Dschihadisten (die zum radikalen ideologischen Lager des IS zählen) im Gazastreifen und IS-Kräften auf der Sinai-Halbinsel. Diese Verbindung hat sich jedoch gelockert, „insbesondere wegen der intensiven Antiterrormassnahmen der ägyptischen Sicherheitskräfte“, laut dem Bericht. „2019 wurden auf der Sinai-Halbinsel keine Raketen von Dschihadisten auf Israel abgefeuert.“

Al-Qaida kehrt zu ihren ‚Tagen des Ruhms‘ zurück

Hinzu kommt, dass der IS offensichtlich auf der Suche nach einem neuen Gebiet ist, um sein nächstes Kalifat aufzubauen. Diese Suche hat ihn dazu veranlasst, sich auf Gebiete wie Nord- und Zentral-Afrika, Südostasien und Afghanistan zu konzentrieren, merkte Ganor an.

„Das durch den Untergang des IS entstandene Vakuum könnte durch die alte islamistische Strömung gefüllt werden – Al-Qaida, die versucht, ihre ‚ruhmreichen Tage‘ wieder aufleben zu lassen und die Lage ausnutzen könnte, um wieder auf die Bühne des internationalen Terrorismus zurückzukehren“, so Ganor weiter. „Dieses Vakuum könnte jedoch auch durch eine neue Strömung gefüllt werden – eine neue, globale Terrororganisation, die sich um eine radikale islamistische Figur bilden wird, die sich heute noch nicht im Zentrum der globalen Arena befindet.“

Er hob hervor, dass die Hauptgefahr im Nahen Osten im kommenden Jahr nicht von Seiten radikaler sunnitischer Organisationen wie dem IS ausgehen wird, sondern vielmehr von schiitischen Milizen und Organisationen: „Der Hisbollah im Libanon sowie rund 50 Milizen, die vom Iran geleitet und unterstützt werden und in Syrien und dem Irak aktiv sind.“

Unterdessen werden die Überbleibsel des IS sich weiterhin bemühen, über lokale Netzwerke, Schläfer-Zellen und Auslandskämpfer, die in ihre Heimatländer zurückkehren, weltweit Terroranschläge durchzuführen und durch Aufstachelung durch den IS zu Einzelgänger-Attentaten (sog. ‚lone-wolf-attacks‘) anzuregen.

Tausende IS-Unterstützer und Mitglieder der Organisation sind weiterhin in Ost-Syrien und auf irakischem Gebiet aktiv. Ganar zufolge könnten sie in diesen Gebieten Territorium zurückerobern und vom Sinai aus neue Angriffe starten.

Nach Auskunft von Shaul Shay, Leiter der Forschungsabteilung des Instituts für Politik und Strategie am Interdisziplinären Zentrum in Herzliya, ist der IS-Zweig im Sinai nach wie vor einer der schlagkräftigsten der Welt.

Der IS im Sinai baute auf dem Al-Qaida-Zweig auf, der schon vorher dort vorhanden war und „besteht hauptsächlich aus beduinischen Rekruten aus dem Nord-Sinai“, erklärt Shay, ehemaliger stellvertretender Vorsitzender des Nationalen Sicherheitsrats Israels, gegenüber JNS.

Es gibt Behauptungen, dass auch „IS-Flüchtlinge“ aus dem Irak und Syrien nach Sinai gekommen seien, um den dortigen Reihen des IS beizutreten.

Ägypten hat zwar eine massive Militäraktion gegen den IS im Sinai gestartet, aber Shay erklärte, dass die Stammesidentität der Beduinen vom Sinai sowie deren Gefühl der Diskriminierung durch die ägyptische Regierung dazu beitrug, dass sich nach wie vor Kämpfer aus ihren Reihen rekrutieren lassen.

„Die Aktivitäten des ägyptischen Militärs sind zwar einerseits sehr effektiv, da sie die Infrastruktur des IS nachhaltig schädigen, andererseits ist jedoch dadurch ein Teufelskreis entstanden. Das Militär verursacht Schäden, diese führen zur immer mehr Rekrutierungen, die wiederum weitere militärische Aktionen auslösen. Somit sehen wir, dass trotz aller ägyptischen Bemühungen, der IS im Sinai noch immer aktiv ist“, stellte Shay fest.

Libyens Rolle bei der Unterstützung des IS

Die ägyptische Regierung unter der Führung von Präsident Abdel Fatah el-Sisi hat das Problem erkannt und ein Investitionsprogramm gestartet, um die Lebensqualität der Bewohner des Sinai zu verbessern, auch wenn dies nur sehr langsam greift.

Dennoch hat die ägyptische Kampagne den IS im Sinai geschwächt und die Terrororganisation ist nicht länger in der Lage, Gebiete zu übernehmen, wie dies in der Vergangenheit der Fall war. Nach wie vor verübt sie regelmässig Bombenanschläge entlang der Strassen, greift ägyptische Kontrollpunkte und Militäranlagen an und attackiert Christen und Sufi-Muslime.

Den bislang schwerwiegendsten Terroranschlag erlebte Ägypten 2017, als 40 Bewaffnete des IS eine Sufi-Moschee im Sinai stürmten und dabei 305 Menschen ermordeten. 2015 verursachte der IS im Sinai durch eine an Bord gezündet Bombe den Absturz einer russischen Passagiermaschine über dem Sinai. Dabei wurden 224 Menschen getötet. Seither hat Ägypten hohe Investitionen im Bereich der Luftsicherheit getätigt und der Flugverkehr mit Touristen an Bord zum Ferienort Sharm el-Sheikh wurde wieder aufgenommen, erklärte Shay.

Darüber hinaus ist es dem IS laut Shay gelungen, seine Anschläge auch auf das Zentrum Ägyptens, einschliesslich Kairo und Oberägypten, auszuweiten.

Shay rief dazu auf, ein besonderes Augenmerk auf die Rolle Libyens zu legen, wenn es um die Unterstützung des IS geht. Libyen befindet sich seit dem Sturz seines Diktators Muammar al-Gaddafi im Jahr 2011 in einem Zustand des Chaos und ist heute Schauplatz zweier Regierungen – einer östlichen und einer westlichen –, die miteinander im Krieg liegen und von unterschiedlichen Staaten unterstützt werden.

Libyen ist eine Hauptquelle für die Sicherheitsprobleme Ägyptens und anderer Staaten Nordafrikas, so Shay, da von dort her nicht nur Waffen kommen, sondern auch, weil es ein sicherer Zufluchtsort für Dschihadisten ist.

In Libyen ansässige Terrorzellen reisen in andere Länder, wie Ägypten, Tunesien, Algerien und den Tschad, um dort Anschläge zu verüben.

Shay bestätigte, dass es „ein sehr zentrales Operationsgebiet für Dschihadisten ist.“

Yaakov Lappin ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Begin-Sadat Center for Strategic Studies Dies ist eine überarbeitete Version eines Artikels der am 17. Januar 2020 beim Jewish News Syndicate (JNS) veröffentlicht wurde. Übersetzung Audiatur-Online.