Der „Krieg gegen den Islam“: Wie eine Verschwörungstheorie die islamistische Bewegung vorantreibt und prägt

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IS Schild in Ost-Mosul. Foto Voice of America / Public Domain, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=55377394
IS Schild in Ost-Mosul. Foto Voice of America / Public Domain, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=55377394
Lesezeit: 8 Minuten

Nachdem kürzlich bekannt geworden war, dass US-amerikanische Spezialeinheiten den Führer des Islamischen Staates (ISIS), Abu Bakr al-Baghdadi, getötet hatten, behauptete ein Kommentator der jordanischen Zeitung Al-Dustour: Al-Baghdadi sei ein israelischer Agent gewesen, vom israelischen Auslandsgeheimdienst Mossad für die Mission ausgebildet, das Image des Islam zu trüben. Diese Interpretation der Ereignisse ist Teil einer grösseren Erzählung, wonach sich der Westen und die Juden in einem „Krieg gegen den Islam“ befänden.

Demzufolge ist die Schaffung von ISIS nur der jüngste Schritt ihres Masterplans zur Zerstörung des Islam, von dem einige islamistische Denker – darunter Sayyid Qutb, der Ideologe der Muslimbruderschaft – glauben, dass er seit den Anfängen des Islam im Gange sei. In diesem sektenähnlichen Weltbild wird dem Westen und den Juden die Rolle der Angreifer gegen muslimische Opfer zugewiesen. Die Islamisten zitieren oft den Koran – „Niemals werden die Juden oder die Christen mit euch zufrieden sein, solange ihr ihrer Religion nicht folgt” [2: 120] – als Beweis dafür, dass dies ein ewiger Kampf sei, der nur mit der Vernichtung einer der beiden Seiten enden könne. Diese Verschwörungstheorie ist auch im Nahen Osten weit verbreitet. Obwohl es auch viele gibt, die sie ablehnen und kritisieren, bietet sie den Islamisten ein starkes Fundament, auf dem sie ihre Agenda aufbauen.

Die Ursprünge

Die Verschwörungstheorie eines „Kriegs gegen den Islam“ hat verschiedene Unterstränge. Erstens sind da die angeblichen jüdischen Pläne, die muslimischen heiligen Stätten in Jerusalem zu zerstören. Zweitens gibt es den Vorwurf, der Westen wolle dekadente Ideen unter den Muslimen verbreiten, um die geistige und moralische Grundlage der islamischen Gesellschaft zu untergraben. Drittens gibt es die Vorstellung eines koordinierten militärischen Kriegs gegen den Islam von Kaschmir bis Palästina unter der Führung der von Juden kontrollierten Vereinigten Staaten von Amerika. Darin eingewoben ist die Untererzählung, die die Schiiten als „inneren Feind“ beschreibt, der diese Verschwörung von aussen unterstütze, um den Islam zu zerstören. Diese These, die teilweise von den Regierungen der Region als Gegenmassnahme gegen die revolutionäre Regierung der Schiiten im Iran benutzt wurde, erfreut sich seit den 1980er Jahren wachsender Beliebtheit, insbesondere in salafistischen Kreisen. Es war dieses Erbe, das der Gründer von ISIS annahm, um die Terrorkampagnen gegen Schiiten zu rechtfertigen. Oft werden diese Erzählungen und Teilerzählungen unabhängig von einander verbreitet oder es werden nur Teile daraus genommen; zusammengenommen aber bilden sie eine grosse Erzählung, die beansprucht, die jüngste Geschichte und aktuelle Ereignisse zu erklären.

Während der genaue Zeitpunkt der Entstehung dieser Verschwörungstheorie nicht genau bestimmt werden kann, lässt sich ihre Entwicklung zumindest bis ins späte 19. Jahrhundert zurückverfolgen. Damals wurden europäische Verschwörungstheorien, die Freimaurer und Juden bezichtigten, durch geheime Machenschaften zu versuchen, die bestehende Ordnung zu stürzen, ins Arabische übersetzt und verbreiteten sich in der gesamten Region. Dies geschah vor dem Hintergrund der Entstehung der berüchtigten antisemitischen Fiktion Die Protokolle der Weisen von Zion, die erstmals 1903 veröffentlicht wurde. Im ersten Jahrzehnt des zwanzigsten Jahrhunderts begannen diese Ideen Auswirkungen auf die intellektuelle und politische Landschaft des Mittleren Ostens zu entfalten. Die ägyptische Zeitung Al-Manar, die von Muhammad Rashid Rida herausgegeben wurde, spielte eine entscheidende Rolle bei der Verbreitung dieser Verschwörungstheorien. Rida war der führende panislamische Aktivist dieser Zeit, von ihm ging ein bedeutender intellektueller Einfluss auf Hassan al-Banna aus, den Gründer der Muslimbruderschaft. In seinen Artikeln behauptete Rida, die Juden stünden hinter der Revolution der Jungtürken im Osmanischen Reich von 1908 und hätten auch die Französische Revolution von 1789 und den Aufstand von 1905 in Russland eingefädelt. Rida glaubte zudem, die Juden hätten vor, die Al-Aqsa-Moschee zu übernehmen und die muslimischen und christlichen Bewohner des Heiligen Landes zu vertreiben. Ridas Mischung aus europäischem Verschwörungsdenken und politischem Islam hat bleibende Spuren hinterlassen.

Wie der Historiker James P. Jankowski gezeigt hat, entstand bald darauf die Idee, der Westen sei in einen kulturellen und spirituellen „Krieg gegen den Islam“ verwickelt. Sie wurde zum ersten Mal in der ägyptisch-islamischen Literatur in den 1920er Jahren populär. Polemiker behaupteten, es gäbe eine Kampagne zur Verleumdung des Islams, die von christlichen Missionaren und westlichen Gelehrten, die zu dieser Zeit als Orientalisten bekannt waren – ein Wort, das sich später Leute aneigneten, die daraus einen Schmähbegriff machten. Wie ahistorisch es ist, das Wort„Orientalisten“ auf diese Weise zu gebrauchen, könnte nicht deutlicher sein: Es gab kaum jemanden, der mehr Sympathie für die Araber zeigte und begieriger war, den Islam und seine verschiedenen Strömungen zu verstehen, als die westlichen Orientalisten. Damals hatten die Missionare im Übrigen ihre Pläne zur Bekehrung der muslimischen Bevölkerung weitgehend aufgegeben und konzentrierten sich auf die Verbesserung der Bildung in der Region. Bis heute sind die besten Bildungseinrichtungen der Region wie die American University of Beirut Produkte der Missionare. Nichts davon hinderte die aufkeimenden islamistischen Bewegungen daran, ihre Verschwörungstheorien aufzustellen und die Rhetorik so weit zu treiben, die Missionare und Orientalisten jener Zeit seien die Kreuzritter jener Zeit.

Die Idee einer unvermeidlichen Konfrontation zwischen dem Christentum (heute: der Westen) und dem Islam trug zweifellos zur Eskalation des arabisch-jüdischen Konflikts in Palästina in den 1920er und 1930er Jahren bei – mehr als sechzig Jahre, bevor der amerikanische Politikwissenschaftler Samuel Huntington sein Traktat The Clash of Civilizations veröffentlichte, das manchmal für diesen Zusammenstoss verantwortlich gemacht wird. In dieser Zeit nach dem Ersten Weltkrieg und der Abschaffung des osmanischen Kalifats begann die islamistische Bewegung, die Interaktion zwischen dem Westen und dem Islam als einen Religionskrieg darzustellen und unternahm zunehmend Anstrengungen, einen solchen auszulösen.

Die Muslimbruderschaft vertrat die Auffassung, die Juden hätten nicht nur territoriale Ambitionen in Palästina, sondern führten überdies aus freien Stücken einen grösseren Krieg gegen den Islam, zu dem auch die Verbreitung subversiver „jüdischer“ Ideen wie Freimaurerei und Kommunismus gehöre. Amin al-Husseini, der Führer der arabischen Nationalbewegung in Palästina, der später mit Hitler zusammenarbeitete, um zu versuchen, die Juden zu vernichten, war ein Anhänger solcher Theorien und benutzte sie, um für Unterstützung der muslimischen Welt zu werben. Die angebliche Bedrohung der Al-Aqsa-Moschee wurde zu seinem bevorzugten Schlachtruf. In den späten 1930er Jahren hatte sich die Idee eines jüdisch-westlichen „Krieges gegen den Islam“ weit über Splittergruppen der muslimischen Bevölkerung des Nahen Ostens hinaus verbreitet, und die deutsche Propaganda während des Zweiten Weltkriegs nutzte dies erfolgreich aus. Es waren diese Überzeugungen, die dazu beigetragen haben, einen territorialen Kompromiss in Palästina unmöglich zu machen.

Die Mutationen

Die Fehlkalkulation der ägyptischen Muslimbruderschaft in den 1950er Jahren im Umgang mit dem neuen starken Mann Gamal Abdel Nasser, der die liberale Monarchie verdrängt hatte, führte dazu, dass die Organisation jahrzehntelang lahmgelegt wurde. Selbst diese Schwächung der Bruderschaft und der Aufstieg von Nassers säkularem arabischen Nationalismus haben die Verschwörungstheorie indessen nicht beendet; wie der Antisemitismus in Europa mutierte sie einfach von einem streng religiösen Konzept zu einem rassistischen.

Qutb hasste die Juden noch mehr als den Westen, und seine Ansichten, wie er sie in der Broschüre von 1950 Unser Kampf mit den Juden aufgeschrieben hatte, liessen sich leicht von arabischen Säkularisten aufgreifen. Qutb behauptete, dass die Juden seit der Zeit des Propheten Mohammed die Erzfeinde des Islam gewesen seien und hinter allen historischen Ereignissen stünden, die die Einheit des Islam untergraben hätten – von der Entstehung der schiitischen Sekte im achten Jahrhundert bis hin zur Abschaffung des Kalifats durch Mustafa Kemal Atatürk im Jahr 1924.

Die Islamisten waren nicht traurig darüber, dass Nasser durch den Krieg gegen Israel von 1967 beiseite geräumt wurde und trauerten auch nicht um den Panarabismus. Sie machten sich jedoch schnell daran, auszunutzen, dass diese rivalisierende Ideologie den Todesstoss erlitten hatte. Der pakistanische Gründer der einflussreichen Jamaat-e-Islami-Bewegung, Abul Ala Mawdudi, war ein Wortführer des islamistischen Trends, als er den Import westlicher Ideen in die Welt des Islam – Teil des angeblichen spirituellen Krieges der Juden gegen den Islam – für die Niederlage der Araber verantwortlich machte .

Die Generationen von Islamisten, die nach dem Sechs-Tage-Krieg entstanden sind, glaubten mehr als ihre Vorgänger daran, dass das Endziel eines islamischen Staates durch Gewalt und Terrorismus zu erreichen sei, was nicht erstaunt, da ja ein solches Gebilde im Iran nach dem Sturz des Schahs im Jahr 1979 entstand.

Die prominenten Figuren, die auf die Verwirklichung dieser Version hinarbeiteten, waren, was ebenfalls nicht überraschend ist, alle Anhänger der gleichen verschwörungsgläubigen Denkschule.

Abdullah Azzam, der massgeblich an der Gründung der Hamas beteiligt war und eng mit Osama bin Laden und anderen „afghanischen Arabern“ zusammenarbeitete, die Al-Qaida gründeten, glaubte fest an antisemitische Verschwörungstheorien. In seinem Buch „Der rote Krebs“ macht er „jüdische“ Ideen wie den Kommunismus für die Schwäche des palästinensischen nationalen Kampfes verantwortlich. Es ist wahrscheinlich kein Zufall, dass die Hamas-Charta, die 1988 geschrieben wurde (ein Jahr bevor Azzam auf mysteriöse Weise getötet wurde) direkt aus den Protokollen der Ältesten von Zion zitiert. Azzam wollte eine panislamistische Eliteeinheit aufbauen, die weltweit in Konflikte zwischen Muslimen und Nichtmuslimen eingreifen sollte.

Viele der Veteranen des afghanisch-sowjetischen Krieges sollten dem von Azam vorgeschlagenen Weg folgen, indem sie in Algerien, Ägypten, Bosnien, Tschetschenien und sogar in Teilen der Philippinen kämpften und glaubten, einem globalen „Krieg gegen den Islam“ entgegenzutreten. Für die Dschihadisten waren alle Westler Komplizen dieser vermeintlichen Bestrebungen gegen den Islam, und Al-Qaida präsentierte sich als Vorreiter dieser Bewegung, wobei Bin Ladens Fatwa von 1996 zu Gewalt „gegen Juden und Kreuzfahrer” überall auf der Welt aufrief. ISIS hat diese Idee etwas modifiziert und sogar Al-Qaida dafür kritisiert, dass sie vom Westen übernommene Verschwörungstheorien übernommen habe, führt dafür aber eine eigene Version des „Krieges gegen den Islam” auf, bei der die Schiiten – denen unterstellt wird, als Verbündete der Juden die Religion von innen heraus zerstören zu wollen – eine zentrale Rolle einnehmen.

Fazit

Die Erzählung „Krieg gegen den Islam“ bleibt eines der mächtigsten Werkzeuge, die den Islamisten zur Verfügung stehen. Anspielungen darauf finden sich unschwer in Predigten von Hinterhofmoscheen in Europa, die auf Youtube hochgeladen werden, ebenso wie in Cartoons islamistischer Facebook-Gruppen und in zeitgenössischer Rap-Musik. Der Glaube an einen globalen „Krieg gegen den Islam” wurde erfolgreich eingesetzt, um bei jungen Muslimen ein Gefühl der Diskriminierung und Marginalisierung zu erzeugen, die oft eher Folge denn Ursache der islamistischen Radikalisierung sind. Diese verschwörerische Denkweise ist daher eine Schlüsselkomponente, mit der sich Programme gegen gewalttätigen Extremismus befassen müssen. Diese Erkenntnis ist besonders wichtig angesichts der bedauerlichen Tendenz einer Reihe westlicher Regierungen, mit vermeintlich „gemässigten“ Islamisten aus Gruppen wie der Muslimbruderschaft zusammenzuarbeiten, um gewalttätigen Islamisten entgegenzuwirken, obwohl die Bruderschaft und ihre Ableger zu den Hauptverbreitern dieser und anderer Verschwörungstheorien gehören und, wie es ein Analyst einmal ausdrückte, die „Stimmungsmusik bestimmen, zu der die Dschihadisten tanzen“. Erfolgreiche Deradikalisierungsbemühungen müssen daher bereit sein, den verschwörungstheoretischen Kern der islamistischen Denkweise anzugehen.

Auf Englisch zuerst erschienen bei European Eye on Radicalization. Übersetzung Audiatur-Online.

Über Daniel Rickenbacher

Dr. Daniel Rickenbacher ist Kreitman Postdoctoral Fellow an der Ben Gurion Universität in Israel, wo er zur Geschichte des Pan-Islam während der Mandatsperiode forscht. Zuvor arbeitete er als Research Associate am Concordia Institute for Canadian Jewish Studies in Montreal und als wissenschaftlicher Assistent am Lehrstuhl für Strategische Studien an der Schweizer Militärakademie (MILAK) der ETH Zürich.

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2 Kommentare

  1. Der Export der wahabitischen Ideologie ist eine Reaktion auf die islamistische Revolution im Iran und die Besetzung der Grossen Moschee durch Extremisten. er wurde durch die saudischen Profite aus dem Öl-Geschäft finanziert, aber inspiriert wurde er durch die Muslimbrüder, die vor Nasser nach Saudi Arabien geflohen waren, weil sie dort einen Asyl bekommen hatten. Unter ihnen auch der Bruder Sayyid Qutbs, Mohammed. Sie waren in großer Zahl aus Ägypten nach Saudi Arabien geflohen und arbeiteten vor allem als Islamlehrer an Schulen und Universitäten, was ihren starken Einfluß auf die saudische Gesellschaft erklärt. Abduallah Assam, der Lehrer Osama bin Ladens war ein Muslimbruder aus dem Westjordanland.

    Es sind die Muslimbrüder aus Ägypten gewesen, die Ideen wie einen weltweiten Djihad, die Islamisierung nicht islamischer Gesellschaften und die Unterwanderung ziviler Institutionen salonfähig machten und die konservative Ulema Saudi Arabiens radikalisierte und nach 1979 die geschwächte Position des Herrscherhauses nutzte seine eigenen Extremisten weltweit zu exportieren. Es ist höchst unwahrscheinlich, dass diese Entwicklung ohne die Muslimbrüder hätte statt finden können.

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  2. Leider fehlt in diesem Artikel der Einfluss der von Saudi-Arabien seit den späten 60er-Jahren weltweit verbreiteten wahabistischen Ideologie. Diese Saat ist schon lange aufgegangen und aus meiner Sicht massgebender als die hier erwähnten Hintergründe, um die Radikalisierung junger Muslime – insbesondere im Westen – verstehen zu können. Und was bei solchen Betrachtungen meist vergessen wird: diese Ideologien haben sich ausnahmsweise in nah- und mittelöstlichen Stammeskulturen entwickelt; in hierarchisch, am männlich definierten Ehrbegriff orientierten Gesellschaften, die infolge dieser Prägung sich Modernisierungsbestrebungen weitgehend widersetzen.

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