Welche Herausforderungen und Chancen warten im Jahr 2020 auf Israel? Analysten des Jerusalem Institute for Strategy and Security (JISS), einem Think Tank für Aussen- und Sicherheitspolitik, haben ihre Einschätzungen in einen Bericht gefasst, der diese Woche veröffentlicht wurde.
Dabei konzentrieren sie sich vor allem auf Bedrohungen aus dem Ausland und Sicherheitsaspekte, die sie in acht Kategorien einteilen:
- Iran: Der Iran werde sich der im sogenannten Atomabkommen (JCPOA) festgelegten Beschränkungen seines Nuklearprogramms entledigen und seine Urananreicherung beschleunigen, „vielleicht sogar dramatisch“. Die amerikanischen Sanktionen würden der iranischen Wirtschaft weiterhin zusetzen und „für die Ajatollahs eine bedeutende Herausforderung darstellen“, glauben die Autoren. Darauf werde das Regime mit weiteren „Provokationen“ reagieren. „Konfrontationen zwischen dem Iran und Israel in Syrien könnten zu einem grösseren Konflikt eskalieren.“ Auf der anderen Seite sei es auch denkbar, dass sich das Regime in der zweiten Jahreshälfte gesprächsbereit zeigen könnte. Das gelte insbesondere dann, wenn sich die Wirtschaftskrise zuspitze oder ein Sieg Donald Trumps bei den Präsidentschaftswahlen im November „sicher“ scheine. Die derzeitigen Proteste seien die grösste Herausforderung des Regimes seit 2009, und es werde weiterhin mit brutaler Gewalt reagieren. Für Israel bedeute das eine grosse Wahrscheinlichkeit weiterer iranischer Aggressionen oder sogar eines „grösseren Konflikts, wenn der Iran in der zweiten Hälfte von 2020 die Urananreicherung hochfährt“. Israel müsse darauf vorbereitet sein, das iranische Atomprogramm allein zu stoppen, wie auch für die schwierige Lage gerüstet, die entstehen werde, wenn es weitere Gespräche zwischen den USA und dem Iran geben sollte. In diesem Fall müsse die israelische Regierung sicherstellen, dass sie bei den Forderungen, die dem iranischen Regime gestellt werden, miteinbezogen werde.
- Syrien und Libanon: Aus wahltaktischen Gründen werde Trump das Engagement der USA in Syrien weiter reduzieren. Spannungen zwischen Syrien und der Türkei blieben, „trotz russischer Vermittlung“. Syrien werde wahrscheinlich in die Arabische Liga zurückkehren. Zudem erwarten die Experten, dass die EU mit dem Assad-Regime in Verhandlungen eintritt, zu Themen wie den Flüchtlingen und Terrorismus. Syrien werde aber weiter abhängig vom Iran bleiben. Der innere Konflikt in Libanon werde sich intensivieren. Die Wirtschaftskrise werde die Dominanz der Hisbollah nicht schwächen, sondern sie sogar stärken, „da Mitglieder anderer Gruppen auswandern“. Israel müsse sich auf eine mögliche Eskalation einstellen. Dazu gehöre auch die Möglichkeit eines Präventivschlags gegen die Hisbollah. Die Lage könne sich hingegen verbessern, wenn sich Syrien stabilisiere und weniger vom Iran abhängig werde, wenn Russland dem Iran Zügel anlege oder die Hisbollah durch die inneren Unruhen abgelenkt würde.
- Rolle Russlands: Die Stellung von Russlands Präsident Wladimir Putin sei durch die niedrigen Energiepreise – Öl und Gas sind Russlands Haupteinnahmequelle – geschwächt. Die „Erwartung des russischen Militärestablishments“, dass Israel in Washington für mehr Milde gegenüber dem Kreml sorge, könne Israel „nicht erfüllen“, so die Experten. Sie warnen davor, dass keineswegs sicher sei, dass Russland die israelische Luftwaffe über Syrien weiterhin ungestört gegen das iranische Militär vorgehen lasse. Für diesen Fall müsse Israel Pläne haben. Es sei für Israel wichtig, den Dialog mit Putin aufrechtzuerhalten und nach Wegen zu suchen, wie es „Russland an der amerikanischen Front entschädigen kann“.
- Türkei: Die türkische Wirtschaft sei „fragil“. Erdogans Koalition mit der nationalistischen MHP mache weitere „Angriffe auf die Kurden“ erforderlich (solange Washington nichts dagegen tue). Die Türkei werde eine „signifikante Zahl“ von Flüchtlingen in die von ihr besetzte Zone in Syrien deportieren. Die Experten rechnen mit einer Ausweitung türkischer Militärinterventionen, auch in Libyen. Implikationen für Israel: Trotz der Feindseligkeit der Türkei gegenüber Israel habe diese für Ankara „keine Priorität“. Israel solle sich revanchieren, indem es gute Beziehungen zu Zypern und Griechenland pflegt, ohne aber eine grosse Konfrontation mit der Türkei zu riskieren.
- Regionale Angelegenheiten: Die Experten rechnen damit, dass das Regime von Präsident al-Sisi in Ägypten stabil bleibt. Der Kampf gegen den Islamischen Staat im Sinai mache Fortschritte. Israels diplomatische Spannungen mit Jordanien könnten zunehmen, die Sicherheitskooperation werde aber intakt bleiben. Gleichzeitig könnte die Annäherung an die Golfstaaten – darunter vielleicht auch Katar – weitergehen. Sollte der Iran aber an Macht gewinnen, könnten sich mehr Golfstaaten auf seine Seite schlagen. Implikation für Israel: Gute Beziehungen zu Ägypten und Jordanien zu wahren, sei die „Toppriorität“. Gleichzeitig solle sich Israel „offen zeigen“ gegenüber anderen arabischen Staaten, die sich vor dem Iran fürchten.
- Jerusalem: In Ostjerusalem haben die Experten zwei gegenläufige Trends ausgemacht: Auf der einen Seite integriere sich die arabische Bevölkerung besser, durch Bildung, Beschäftigung, im Gesundheitssystem und auf andere Weise. Dies stärke die israelische Souveränität. Auf der anderen Seite versuchten die Türkei und radikale islamische Gruppen, immer stärker, in Jerusalem zu intervenieren. Die Empfehlung: Israel solle mehr „in alle Teile der Stadt“ investieren. Dies werde zu einem stärkeren Zuzug von Juden führen und gleichzeitig die arabische Bevölkerung besser integrieren.
- Palästinenser: Abbas klammere sich an die Macht, doch die Zukunft der Palästinensischen Autonomiebehörde stehe in Frage. Die Wahrscheinlichkeit, dass seine Fatah und die Hamas ein Abkommen erzielen, sei gering. Die Kooperation der PA und israelischer Sicherheitskräfte werde weitergehen. Doch die PA werde sich der Friedensinitiative des amerikanischen Präsidenten Trump energisch widersetzen – allerdings, solange sich die wirtschaftliche Lage nicht verschlechtert, vor allem auf dem internationalen diplomatischen Parkett, weniger durch direkte Gewalt. Die Schlagkraft der israelischen Armee und die schwierige wirtschaftliche Lage im Gazastreifen werden die Hamas mittelfristig zu einem stillschweigenden Übereinkommen mit Israel treiben, erwarten die Experten. Der vom Iran unterstützte Islamische Dschihad werde aber danach trachten, dies zu verhindern. Implikationen für Israel: „Konfliktmanagement“ bleibe die Basis von Israels Beziehungen zu den Palästinensern. Auf den Trump-Plan solle Israel „positiv“ reagieren, damit, wenn er scheitert, die andere Seite die Schuld daran trägt. Auf die Krise, die es geben werde, wenn ein Nachfolger für Mahmud Abbas gesucht wird, müssten Israels Geheimdienste vorbereitet sein. Was den Gazastreifen betreffe, müsse Israel sowohl auf „härtere Militäraktionen denn je“ vorbereitet sein, um die Hamas abzuschrecken – als auch auf wirtschaftliche Deals, die „grosszügiger denn je zuvor“ sind, um die Ruhe mit der Hamas zu bewahren.
- In der internationalen Arena: Ein Damoklesschwert, das seit langem über der israelischen Politik schwebt, ist, dass die überparteiliche Unterstützung, die Israel über viele Jahrzehnte im US-Kongress genoss, bröckelt. Dieser Trend könnte sich bei den amerikanischen Wahlen im Herbst verstärken. Mehrere demokratische Bewerber für die Präsidentschaftskandidatur haben gedroht, Militärhilfen für Israel an Bedingungen zu knüpfen. Wenn der demokratisch-republikanische Konsens sich auflöst, so warnen die Experten, werde auch die Beziehung zwischen Israel und dem amerikanischen Judentum komplizierter (traditionell stimmen 80 Prozent der amerikanischen Juden für die Demokraten). Was den Trump-Plan betrifft, so werde die US-Regierung Israels Zustimmung erwarten – selbst, wenn dieser schmerzhafte Konzessionen erhalte. Gleichfalls werde sie die Zustimmung der arabischen Staaten erwarten – auch wenn der Plan Punkte enthalte, die gut für Israel sind. In dieser Situation, so die Experten von JISS, habe Israel „keine andere Wahl, als ‚ja, aber…’ zu sagen“, und müsse alles dransetzen, die parteiübergreifende Unterstützung der amerikanischen Politik zurückzugewinnen. Bei der Politik der EU erwarten die Experten keine Veränderung. Um dem Druck aus Brüssel zu begegnen, empfehlen sie, weiter an den Beziehungen zu osteuropäischen Staaten und Mittelmeerländern zu arbeiten. Mit Indien verbinde Israel enge bilaterale Beziehungen (auch in der Rüstungsindustrie), jedoch seien die Interessen nicht kongruent, was den Iran betreffe. Israel, so die Empfehlung, solle Indien dabei helfen, für seine Ölimporte Beziehungen zu anderen Golfstaaten aufzubauen.
In einem zweiten Teil beschreibt der Bericht elf „unerwartete Wendungen“, die das Potenzial hätten, die strategische Lage völlig zu verändern: von einer grossen Konfrontation mit der Hamas, über Bürgerkrieg in den Palästinensischen Autonomiegebieten bis hin zu einem atomaren Wettrüsten unter Beteiligung Ägyptens oder der Türkei. „Angesichts erheblicher regionaler und globaler Unsicherheiten, die das strategische Umfeld Israels bestimmen, muss Israel sicherstellen, dass es über nationalen Zusammenhalt verfügt, um sich den bevorstehenden Herausforderungen zu stellen“, sagte JISS-Präsident Prof. Efraim Inbar gegenüber der Jerusalem Post. Zudem müsse Israel seine „militärische Bereitschaft verbessern“, „insbesondere die Bereitschaft seiner Bodentruppen für entscheidende Manöver auf feindlichem Gebiet“. Auch müsse es die diplomatischen Bündnisse stärken, insbesondere das mit den USA.