Channukkah – Lichtinsel im eiskalten Ozean der Dunkelheit

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Foto slb535 / Pixabay
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Schön sind warme Lichter in der kalten Finsternis des Abendlandes! Kerzenlicht, Kaminfeuer, Weihnachtsbeleuchtung… Die gesamte Atmosphäre von Weihnachten strahlt den Geist der Gemütlichkeit, des Zusammenhaltes der Familie, der stillen Freude an kleinen Lichtinseln im eiskalten Ozean der Dunkelheit.

Wird an Weihnachten nicht warmes, in Öl gebratenes Gebäck gegessen? Erinnern die Lichter auf einem Weihnachtsbaum nicht an die Lichter auf dem goldenen Menora-Baum? Weltoffene Juden können nicht leugnen: Weihnachten ist unserem Lichterfest zum Verwechseln ähnlich. Schon der Name „Weihnachten“ entspricht buchstäblich dem hebräischen Begriff Channukkah „die Einweihung“.

Eine alte jüdische Legende (Midrasch) giesst sprichwörtlich noch mehr Öl ins Feuer, indem sie berichtet, dass die Idee des Lichterfestes nicht partikularistisch, sondern universalistisch sei: Adam, der Vorfahre aller Menschen, feierte ein Lichterfest, als er im ersten Kreislauf der Schöpfungs-Spirale merkte, dass die Kraft der Sonne schwand und die kalte Finsternis erstarkte. Feierte Adam „Weihnukkah“? War die Welt vor der „mosaischen Unterscheidung“ (Jan Assmann) noch in Ordnung? Es wäre doch ein Anachronismus zu behaupten, dass Adam Channukkah feierte, weil die historischen Ereignisse unseres Festes erst in der Epoche des Zweiten Tempels stattfanden, als Hellenisten und gesetzestreue Juden zuerst in einen Kulturkampf gerieten und dann die Waffengewalt ausbrach.

Wer kämpfte gegen wen? Juden gegen Griechen? Man öffne die „Makkabäer-Bücher“ sowie die Werke des jüdisch-hellenistischen Historikers Josephus Flavius – historische Abhandlungen über unseren heldenhaften Kampf gegen politische und geistige Unterdrückung der bösen Heiden… sehr schöne Texte, die von jüdischen Patrioten in der eleganten griechischen Sprache der „bösen Heiden“ verfasst wurden. Das simple, heile, schwarzweisse Weltbild zerfällt in viele Farbfacetten, wie es immer passiert, wenn ein Lichtstrahl in die Finsternis fällt. Ein Kulturkampf der Juden gegen Juden führte zur blutigen Gewalt. Kämpften die „gesetzestreuen Juden“ gegen die „jüdischen Hellenisten“, die sich mit dem heidnischen Gegner verbündeten?

Auch diese Schwarz-Weiss-Malerei zerfällt in alle Farben des Regenbogens! Ausgerechnet die „treuen Juden“ verbündeten sich mit einer aufstrebenden heidnischen Macht, die ca. zweihundert Jahre später den Tempel zerstörte und uns Juden in das zweitausendjährige Exil deportierte. Einem ultra-orthodoxen Leser wird es spätestens jetzt vermutlich „zu bunt“. Der modern-orthodoxe Autor dieser Zeilen und erst recht die liberalen, die reformierten und die gar keine Version des Judentums praktizierenden Juden seien „moderne Hellenisten“. Er, der Ultra-Orthodoxe, will mit den „Verrätern“ nichts gemeinsam haben. Schliesslich habe seine Tracht (Kaftan und Streimel bzw. schwarzer Hut) mit der osteuropäischen Mode des 17.-18. Jahrhunderts nichts gemeinsam! Ebenso wenig wie seine jiddische Sprache mit dem Mittelhochdeutschen gemeinsam habe. Seien wir doch ehrlich: wir alle sind Hellenisten, ob wir das zugeben oder nicht! Solche Gedanken beschäftigen einen aufgeklärten Juden, der mit seinen Kindern durch einen malerischen Weihnachtsmarkt spaziert, nach Hause zurückkehrt und zum 100-mal über „Kevin allein zu Hause“ oder einen anderen Weihnachtsfilm lacht. Nachdem die Channuka-Lichter gezündet und die Kinder ins Bett gebracht worden sind, blättert man in dem 1962 erschienenen, revolutionär-geistreichen Buch von dem französischen Juden Claude Levi-Strauss La Pensée sauvage, (englisch The Savage Mind 1966) und man begreift: Channukkah sei nicht nur älter als Weihnachten, sondern auch älter als das Judentum. Das Bedürfnis nach Licht und Wärme sei weder christlich noch jüdisch, sondern menschlich. Die kleinen Öl-Leuchten auf der Mikro-Ebene sollen dem grossen Licht auf der Makro-Ebene, im Himmel zur mehr Kraft verhelfen. Die kreisförmige Bewegung im Kosmos darf nicht wie eine kaputte Schalplatte klemmen- und steckenbleiben, und zwar (nach dem Murphy-Gesetz) ausgerechnet in der dunkelsten und der kältesten Phase des Kreises, – überlegt man, nachdenklich mit dem Sewiwon spielend. Die Channukkah-Lichter brennen immer noch auf der Mikro-Ebene der Fensterbank. Auf der Makro-Ebene der winterlichen Strasse schneit es. Weihnachtsmusik ist von der Wohnung der christlichen Nachbarn zu hören. Ist es „Freue dich, Tochter Zions!“ aus „Judah Makkabäus“ von Händel? Oder unser Channukahlied Hawa Narima? Plötzlich horcht man auf, macht das Buch zu und lässt den Sewiwon aus der Hand. Aus der Wohnung der frommen jüdischen Nachbarn ertönt Maoz Tzur – eine Channukkah-Hymne aus dem Mittelalter. Oder stammt die Melodie von einem lutheranischen Choral? Die Gedanken wechseln ihre Richtung: Haben unsere Vorfahren das Vermächtnis des Judentums durch Verfolgung und Elend der finsteren Jahrtausende immer weiter getragen, bis zu uns, damit wir es wegen Strukturalismus von Levi-Strauss oder wegen einem anderen -ismus fallen lassen? Unser Familienkreis ist ein Bestandteil der Spirale der Generationen, genauso wie Jahreskreise die Spirale der Zeit bilden. Auch der Kreislauf des Judentums darf nicht „klemmen“. Ergreifend ist die Idee des geistigen Widerstandes gegen die imperiale Übermacht einer Leitkultur, die uns verschlingen und in sich restlos „integrieren“ will. Wunderschön ist die Metapher des Olivenöles, das im Ozean der hellenistischen Ökumene nicht aufgelöst werden will. Fast unheimlich ist die Weitsicht der Weisen des Talmuds, als ob sie wissen könnten, dass Channukka uns ausgerechnet in der bunten, warm-umarmenden, verlockenden Atmosphäre von Weihnachten zur Besinnung auf jüdische Werte aufruft. Die talmudischen Weisen wären von der Idee einer Weihnukkah oder einer Ramadanukkah entsetzt. „Bis zu welchem Grad sind wir Hellenisten? Wo liegt die rote Linie, die überschritten werden muss, damit in meiner Seele ein innerer Aufstand gegen die Assimilation erwacht?“ – denkt man, mit dem Blick durch Bücherregale streifend – von dem einsamen Band des Heraklit aus Ephesos bis zu den vielen Bändern der Mischna. Dort heisst es lakonisch: Nerot Channuka – Ner Isch uWejto. Buchstäblich heisst es: „Die Lichter von Channukah – das Licht eines Menschen und seines Hauses.“ Sehr frei übersetzt bedeutet dies vielmehr: „Nicht auf einem Schlachtfeld, sondern zu Hause, innerhalb des Familienkreises wird der Kampf gegen die totale Auflösung gewonnen. Nicht der militärische Sieg, sondern das stille Ölwunder im Haus der Heiligkeit wird gefeiert. Seit der Tempelzerstörung ist jede jüdische Wohnung ein Haus der Heiligkeit!“ Die Worte der Channuka-Gebete machen nachdenklich: baJamim ha-hem baSman haSe – „an jenen Tagen, in dieser Zeit.“

Channukah ist mehr als eine alte Legende, mehr als eine Erzählung aus dem antiken Geschichtsbuch, sondern unser Schicksal in dieser Zeit, hier und jetzt – im Abendland des 21. Jahrhunderts. Ist unsere innere Zerrissenheit, unser ambivalentes Selbstbild, unser Schwanken zwischen Partikularismus und Universalismus ein Fluch der Postmoderne? Oder ist es eher die Fortsetzung eines uralten inneren Kulturkampfes, diesmal sogar nicht zwischen einzelnen jüdischen Gruppierungen, sondern vor allem innerhalb jeder jüdischen Persönlichkeit? Sind wir wie die Israeliten des 9. Jahrhunderts v.u. Z., der Epoche des Königs Achaw, die zwischen dem Ewigen und Baal unentschlossen schwankten? Oder in dem Sprachbild dem Propheten Elijahu: wie ein Vogel von einem Zweig zu dem anderen hüpfend, unentschlossen, auf welchem Zweig man sein Nest bauen würde (1. Könige 18:21 עַד מָתַי אַתֶּם פֹּסְחִים עַל שְׁתֵּי הַסְּעִפִּים )? Fest steht nur: der Eiferer Elijahu hat seinen Kulturkampf verloren, weil er ihn auf einem Schlachtfeld, mit spektakulären pyrotechnischen „special effects“ führte und nicht durch stilles In-Sich-Kehren (1. Könige 19:12  דַקָּה דְּמָמָה  קוֹל). Der Sieg im stillen Kampf mit sich selbst sei die grösste Heldentat, sagt der Weise Ben Soma. Awot 4:1, Übersetzung von Rabbiner Dr. S. Bamberger: „Wer ist ein Held? Wer seine Leidenschaft bezwingt. Denn es ist gesagt (Sprüche 16:32): Besser ist ein Langmütiger als ein Held und der seinen Willen Beherrschende als ein Städteeroberer“. Lautet die Botschaft der „zeitlosen, friedlichen Channukkah“: Unsere Leidenschaft für die europäische Kultur überwinden? Mehr als das! Ritterlich und grossmütig ist vor allem: Den Besiegten leben lassen und mit ihm Frieden schliessen!

Über Elijahu Tarantul

Rabbiner Elijahu Tarantul hat Erfahrung als Gemeinderabbiner, Lehrer und Dozent und ist zur Zeit unter anderem als Maschgiach (Aufsicht über koschere Lebensmittel) in einer Pflegeresidenz in der Schweiz tätig.

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