Vieles, was in unserer Industriegesellschaft in den vergangenen Jahrzehnten als unumstösslich galt, hat sich durch neue Techniken bereits verändert. Weitere umwälzende Innovationen bahnen sich gerade an. Häufig sind es israelische Firmen, die Entwicklungen massgeblich gestalten.
Ist Israel das Erfindungslabor der Welt? Unbeschwert durch hundertjährige Traditionen, die oft Innovation durch verkrustetes Denken blockieren, und herausgefordert durch eine allgegenwärtige Terrorbedrohung, hat sich Israel zu einem Zentrum erfolgreicher Forschung entwickelt.
Viele Belege illustrieren die These: Israel hat in den USA mehr Patente registriert als Russland, Indien und China. Deren Bevölkerung ist allerdings 300 bis 500mal grösser. Israels Innovationskraft hat mit USB-Stick, 3D-Drucker und IntelChips unsere Arbeitswelt verbessert, mit Waze und Mobileye das Autofahren revolutioniert, mit dem „Kindle“ das Lesen zum Mitnehmen geschaffen und mit der genveränderten Cherrytomate unseren Mittagstisch zumindest optisch verschönert. Es gibt weltweit keinen PC und kein mobiles Telefon ohne einen technologischen Baustein aus Israel.
Venture Capital Funds, Family Offices, Pensionskassen und Industriefirmen aus aller Welt haben in die seit mehr als zwei Jahrzehnten wachsende Innovationskraft Israels investiert. Der Erfolg hat die Investoren bestätigt. Sie sind allein im ersten Halbjahr 2019 mit Exits im Wert von 15,5 Milliarden USDollar belohnt worden.
Beispiele gibt es zuhauf: Die Firma Orcam, gegründet von Amnon Shashua und Zvi Amiram in Jerusalem, macht Sehbehinderte und Blinde wieder sehend. Genauer gesagt, können sie hörend erfahren, was sie nicht sehen können, weil eine 2.0 Kamera alle Produkte über Barcodes erkennt und in Sprache umsetzt. Das gilt auch für Farben, Geldscheine und gedruckte Texte.
Given Imaging (neu Medtronic) hat eine Minikamera entwickelt, die geschluckt wird wie eine Kopfschmerztablette. Sie liefert Bilder aus dem Darmtrakt des Menschen und erübrigt weitgehend operative Eingriffe. Ein anderes Beispiel: Mit einem Mundspray, das Kohlenhydrate simuliert, täuscht das israelische Startup Matok V’Kal das Gehirn von Sportlern und erzeugt mit sechs Kalorien 75 Minuten zusätzliche Energie. Das Produkt ist in Israel bereits auf dem Markt.
Neue Operationstechniken
Victor Guetta, Direktor der Invasiv und Interventionskardiologie Abteilung des Sheba Medical Center in Tel Aviv, hat zum ersten Mal ein Blutungsloch im Herzen eines 29jährigen Patienten geschlossen, ohne den Brustkorb zu öffnen. Das Ärzteteam griff, nachdem der Patient zugestimmt hatte, mit einem Standard Katheterisierungsverfahren auf das Herz zu, führte ein strohdickes Röhrchen in ein Blutgefäss ein und gelangte zum Herzen. Dort angekommen, verstopfte Guetta das Loch mit einem „Amplatzer Ventricular Septal Defect (VSD) Occluder“, einer sich selbst aufweitenden Doppelscheibe aus Drahtgeflecht.
Das Gerät wird häufig in Standardverfahren für Herzkatheter wie die Angioplastie verwendet, um verstopfte Arterien zu öffnen, wurde jedoch noch nie zum Verschliessen eines Arterienlochs verwendet. Guetta berichtet: „Innerhalb von zwei Tagen nach dem Eingriff ging der Patient nach Hause. Seine Prognose ist gut.“
Im August 2019 implantierten Alon Burg und sein südafrikanischer Kollege Graham McCollum im Beilinson Krankenhaus in Tel Aviv zum ersten Mal in der Geschichte der Orthopädie einen von einem 3D-Drucker produzierten Fussgelenkknochen. Die beiden Patientinnen, Tzofit Hod (16) und Dorit Tal (56), hatten zwei Jahre auf den Eingriff warten müssen. Nach der Operation konnten sie wieder gehen – statt für den Rest ihres Lebens im Rollstuhl zu sitzen.
Neben Investoren haben inzwischen auch Weltkonzerne das Potenzial der israelischen Forschung für sich entdeckt. So kaufte im März 2019 der weltgrösste Burgerbrater, McDonald’s, das Künstliche Intelligenz Startup Dynamic Yield für 300 Millionen USDollar. Der FastFoodKonzern, der weltweit täglich 68 Millionen Mahlzeiten verkauft, glaubt, dass „die Israelis das beste Produkt für unsere Firma geschaffen haben“. Mithilfe der Software aus Tel Aviv kann McDonald’s nun das Bestellverhalten seiner Kunden prognostizieren.
Drahtlose Energieübertragung
Im Frühjahr überraschte eine Meldung aus Schweden gleichermassen die Automobilindustrie und Kommunen weltweit. Smart Road Gotland kündigte den testweisen Bau von 1,6 Kilometer Landstrasse mit Kupferdrahtspulen unter dem Asphalt an, die dafür sorgen sollen, dass die darauf rollenden Elektrobusse und Elektro-Lkw sich während der Fahrt wieder aufladen. Diese „Dynamic Wireless Power Transfer Technology“ stammt aus Beit Yanai, einer 1933 von jüdischen Einwanderern aus Litauen und Polen genossenschaftlich angelegten Kommune nördlich von Tel Aviv. Allein in Schweden wird das Marktpotenzial auf drei Milliarden Euro geschätzt.
Im Herbst schliesslich erregte eine ziemlich grosse Transaktion die internationale Finanzwelt. Der kanadische PaypalKonkurrent Nuvei übernahm für 889 Millionen USDollar den israelischen Softwareanbieter SafeCharge. Stolz verkündet Nuvei Vorstand Philip Fayer, dessen Firma in den USA und Kanada breit aufgestellt ist: Mit der technologischen Plattform von SafeCharge „können wir Händlern und Wiederverkäufern wirkungsvolle Zahlungsmodalitäten anbieten“.
Auch ein drängendes grundsätzliches Problem der Menschheit kann mit israelischer Hilfe gelöst werden: Israel hat die Wiederaufbereitung von Brackwasser nahezu perfektioniert. 80 Prozent des in der Landwirtschaft verwendeten Wassers sind recycelt. Das ist Platz 1 weltweit. Auf dem zweiten Platz liegt Spanien mit knapp 20 Prozent.
Wiederaufbereitung von Wasser
Bereits in den 30erJahren des vorigen Jahrhunderts verstanden zionistische Vordenker, dass ausreichend Wasser die Grundlage für einen zukünftigen Staat Israel ist. Die Aufgabe erschien damals unlösbar. Ein Besuch bei Hagihon, der Firma, die den Wasserbedarf der Hauptstadt Jerusalem regelt, zeigt, dass sie mittlerweile auch das Leitungsproblem im Griff haben.
Wie in allen Ballungsgebieten weltweit sind die Lecks in den Wasserleitungen eines der Hauptprobleme für die Versorgungssicherheit. Während in den meisten Grossstädten rund um dem Erdball der Wasserverlust durch unkontrolliertes Auslaufen 20 bis 40 Prozent des Gesamtverbrauchs ausmacht, konnte er in der heiligen Stadt insgesamt auf elf Prozent, in manchen Stadtteilen Jerusalems sogar auf sechs Prozent reduziert werden.
Die Rede ist von Millionen Kubikmetern Trinkwasser – dem kostbarsten Rohstoff des Menschen. Hagihon hat fähige Köpfe unter seinem Dach versammelt, die Sensoren und Software entwickelt haben. Sie kontrollieren, in überschaubare Abschnitte aufgeteilt, das Wasserrohrsystem Jerusalems. In der Zentrale von Hagihon meldet ein ausgefeiltes Alarmsystem punktgenau, wenn irgendwo überdurchschnittlich viel Wasser austritt. So konnte ein besonders spitzfindiger Jerusalemer umgehend dingfest gemacht werden, der eine öffentliche Wasserleitung für seinen privaten Pool angezapft hatte.
Hagihon hat sein Wissen und Können inzwischen zu einem Exportschlager gemacht, unter anderem für die 20Millionen Metropole Neu Delhi. Der Umsatz gemeinsam mit den israelischen Startup Partnern im Ausland spült jedes Jahr mehr als zwei Milliarden US-Dollar in die Kassen.

Dass Israel heute langfristig über ausreichend Trinkwasser verfügt und selbst die arabischen Nachbarn mitversorgen könnte, grenzt an ein Wunder. Umso mehr, als Israels Fläche zu 60 Prozent Wüstenland ist. Dieses Wunder hat in Israel zwei Namen: Simcha Blass und Sidney Loeb.
Blass entdeckte, dass Tröpfchenbewässerung Pflanzen aller Art bei geringerem Wasserverbrauch besser wachsen lässt. Mit dem Aufkommen von Computersteuerungen gründete er Netafim. Das Unternehmen hilft heute nicht nur fränkischen Winzern im Weinberg, sondern installierte auch Präzisionsbewässerungssysteme in Hunderten Dörfern in Indien und Afrika. Netafim ist heute in über 110 Märkten tätig. Seit Februar 2018 firmiert es als Tochtergesellschaft des mexikanischen Rohr und Chemieunternehmens Mexichem SAB de CV, das 1,9 Milliarden US-Dollar für einen 80prozentigen Anteil bezahlte.
Sidney Loebs Name wiederum ist eng mit der Erfindung der „Reverse Osmosis“ (RO) verbunden, die Grundlage der Meerwasserentsalzung ist. 2005 wurde die erste Anlage an der Küste Israels eröffnet. Heute gibt es fünf solcher Werke, die langfristig 60 Prozent des Trinkwasserbedarfs Israels decken. Die erfolgreiche und auch energiesparende Technologie steht inzwischen ganz oben auf der Exportliste Israels.
Auf Deutsch zuerst erschienen bei „Tichys Einblick“.