Wikipedia der Gräber: Israelische App CemoMemo bringt Friedhöfe in die digitale Welt

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Grab auf dem Jüdischen Friedhof in Jerusalem. Foto Christopher Michel, CC BY 2.0, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=24814598
Grab auf dem Jüdischen Friedhof in Jerusalem. Foto Christopher Michel, CC BY 2.0, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=24814598
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In Israel, das eine jahrtausendealte Geschichte besitzt, befinden sich bedeutende religiöse Stätten, Wahrzeichen und einige der ältesten Friedhöfe der Welt. Einheimische ebenso wie Touristen besuchen die zahlreichen Friedhöfe des Landes, um Angehörigen ihre Reverenz zu erweisen oder über die Vergangenheit nachzudenken.

CemoMemo, eine kollaborative Dokumentationsplattform für Grabsteine, führt die Digitalisierung von Grabsteinen durch, um aus Friedhofsbesuchen einzigartige historische Entdeckungsreisen zu machen.

Das Projekt begann als Kollaboration zwischen den Fachbereichen Software Engineering und den Land of Israel Studies am Kinneret Academic College. „Die Idee war, eine online durchsuchbare Datenbank für Grabsteine auf Friedhöfen zu entwickeln”, erzählt Dr. Michael J. May.

Dr. Efrat Kantor, eine auf das Studium des kollektiven Gedächtnisses spezialisierte Historikerin, wandte sich mit dem Plan an Dr. May, die Gräber in Israel zur Unterstützung des Erinnerns, von Forschungsarbeiten und der Erhaltung digital zu erfassen.

Bei ihrer Beschäftigung damit, wie Gemeinden ihren Angehörigen gedenken, ist für Dr. Kantor jeder Grabstein von historischem Wert. „Man kann Erkenntnisse über die Sichtweise einer Gemeinde auf sich selbst, ihre sozioökonomische Ebene und ihre Weltanschauung erhalten aufgrund dessen, welche Inschriften sich auf den Grabsteinen der Menschen befinden, an die man sich erinnern möchte“, erklärt Dr. May. „Und aus diesem Grund spiegeln die Grabsteine häufig eher die Gemeinde wider, also die Menschen, die sich erinnern, als die Person, die tot ist.“

CemoMemo ist jedoch nicht nur ein nützliches Tool für Forscher. Der Wunsch ist auch, dadurch Friedhöfe zu zugänglicheren Orte für den „dunklen Tourismus“ zu machen, womit der Ansatz gemeint ist, an Orte zu reisen, die mit Tod oder Tragödien zu tun haben.

„Diese Idee ist nicht neu“, erklärt May. „Die Menschen gehen in den Ländern auf Tour, wo sich ihre Wurzeln befinden, und besuchen die Friedhöfe, wo grosse Anführer, Rabbiner oder Gründer der Kibbuzim bestattet sind.“ In Israel beispielsweise gilt die Holocaust-Gedenkstätte Yad Vashem als eines der Hauptziele des Landes.

Mit Dr. Uzi Einstein vom Fachbereich Tourismus hat CemoMemo einen weiteren akademischen Partner an Bord geholt und seither mit der Erweiterung des Systems um touristenfreundlichere Funktionen begonnen. Heute können Reisende anhand der Android-App zu bestimmten interessanten Gräbern navigieren und ihre Besuche arrangieren.

Die Betreiber verbinden den historischen und den touristischen Wert auf einer Plattform miteinander und behaupten, dass sie „viel mehr Felder und Forschungsmöglichkeiten bieten als jedes andere System auf dem Markt.“ Derzeit gibt es noch zwei weitere aktive Player im Bereich der Grabsteindigitalisierung. Eine davon ist die Genealogie-Plattform MyHeritage, die Anfang des Jahres behauptete, die Digitalisierung aller Gräber und Friedhöfe Israels abgeschlossen zu haben und in Partnerschaft mit der Anwendung BillionGraves insgesamt 1,5 Millionen Grabsteine auf 638 Friedhöfen in ganz Israel dokumentiert. Der zweite Player heisst Find A Grave und wird von dem kommerziellen Genealogie-Unternehmen Ancestry.com betrieben.

Screenshot CemoMemo
Screenshot CemoMemo

Beide sind wie CemoMemo Crowdsourcing-Plattformen, auf denen Nutzer Bilder von Gräbern hochladen können. Allerdings gibt es „grosse Unterschiede“, sagt May zu NoCamels. „Erstens ist unser System offener und die Nutzer können darin Informationen bearbeiten und ändern. Der zweite Unterschied besteht darin, dass diese Systeme für die Ahnenforschung entwickelt wurden und daher neben Namen und Daten keine weiteren Informationen liefern.“

Genealogie-Plattformen, die sich auf die Erforschung familiärer Abstammungslinien konzentrieren, machen die auf einem Grabstein eingeschriebenen Inhalte nicht vollständig bekannt. Für CemoMemo ist dies jedoch genau der Punkt, an dem es interessant wird.

Das System dokumentiert zusätzlich zu Fotos den Text auf dem Grab sowie dessen Merkmale und Standort. „Wir nehmen den Grabstein als historisches Dokument, sodass man nach Details und sogar nach Antworten auf komplizierte Fragen suchen kann“, sagt May.

Die Datenbank von CemoMemo will den Nutzern die Möglichkeit geben, sich ein Bild von einer früheren Gemeinde zu machen. Sie hat umfassende Support- und Suchfunktionen. „Wenn man wissen will, wie viele Kinder unter elf Jahren vor 1950 im Kinneret ertrunken sind, kann man sie finden, weil man davon ausgehen kann, dass die Leute die Todesursache einer Person auf den Grabstein geschrieben haben.“

Für CemoMemo war es wichtig, ein Community-basiertes System aufzubauen, das Menschen dabei hilft, ihre eigene Geschichte zu entdecken. Heute hat die Plattform rund 650 aktive Nutzer, die mehr als 1.200 Gräber auf 75 israelischen Friedhöfen dokumentiert haben.

„Wir haben beschlossen, uns auf Friedhöfe zu konzentrieren, die nicht in grossen Städten wie Haifa oder Tel Aviv liegen“, sagt May. „Wir haben mit den kleineren Friedhöfen angefangen, mit denen in Kibbuzim oder Kleinstädten, die nicht aktiv von der Gemeinde gepflegt oder unterstützt werden.“ Dadurch erreicht CemoMemo das, was es „digitale Erhaltung“ nennt.

Einer der ersten in der Datenbank dokumentierten Friedhöfe war laut May einer in Rosh Pina im Norden Israels. „Er hat viel Geschichte, aber er liegt an einem Berghang und hat in den letzten Jahren unter physischem Zerfall gelitten. Durch die Erosion hat sich der Friedhof verschoben und viele Gräber stürzen ganz allmählich ab. Also sind wir dorthin gegangen und haben angefangen aufzuzeichnen, was in 30 Jahren nicht mehr da sein wird.“

Die Plattform ist auch in der Lage, mehrere Bilder pro Grab zu speichern, so dass nicht nur der Verfall, sondern auch die Wiederaufarbeitung im Laufe der Zeit aufgezeichnet werden kann.

Um nicht vom wissenschaftlichen Wert des CemoMemo abzulenken, sind die Gründer bestrebt, dass CemoMemo ein nicht-kommerzielles Vorhaben bleibt, und wollen es weiterhin mit Forschungsstipendien unterstützen. „Hierbei handelt es sich nicht um den Versuch, ein Unternehmen aufzubauen – es ist ein Versuch, ein Forschungsprojekt aufzubauen, das allen Nutzen bringt“, so May. „Wir nennen es ‚Wikipedia der Gräber‘.“

Um eine aktive Community von Grabdigitalisierern aufzubauen, wendet sich CemoMemo an Städte, Kommunen, lokale Geschichtsinteressierte und Gymnasien, die die Plattform bereits für Unterrichtszwecke mit Schülern nutzen.

Zur Erweiterung des Anwendungsbereichs des Systems will CemoMemo seine Plattform für andere Länder und auch Religionen öffnen. Das Team sagt, es habe begonnen, mit jüdischen Gemeinden in Mazedonien und Litauen zu korrespondieren.

Langfristig sei geplant, so CemoMemo, die Ortungsdienste zu verbessern, damit die Nutzer ihre Besuche an bestimmten Gräbern auf ordentlichen Laufwegen durchführen können. Kurzfristige Ziele sind u. a. die Implementierung von OCR (Optical Character Recognition) zur automatischen Erkennung der Inschriften auf einem Grabstein sowie die Verbesserung der Suchfunktionen.

Seitdem CemoMemo als Senior-Student-Projekt gestartet und im Juni der Öffentlichkeit vorgestellt wurde, wurde das Team aus akademischen Mitarbeitern und Studenten um zwei Web-Entwickler und einen Android-Entwickler, einen ehemaligen Studenten, der kontinuierlich daran arbeitet, das System zu verbessern, erweitert.

Auf Englisch zuerst erschienen bei NoCamels.com. Übersetzung Audiatur-Online.