Israel zu Beginn des Jahres 5780: Die Unordnung ist die Ordnung

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Tel Aviv-Jaffa. Foto Anna Marinicheva / Unsplash
Tel Aviv-Jaffa. Foto Anna Marinicheva / Unsplash
Lesezeit: 6 Minuten

Wer sich Sorgen macht, was aus Israel ohne eine Mehrheits-Regierung nach zwei Wahlen wird und ob Benyamin N. vor Gericht muss oder nicht, kann sich getrost weiterhin Sorgen machen. Der Kern Israels ist am Beginn des Jahres 5780 gesund.

In Berlin schreien arabische Verbal-Terroristen getarnt als Rapper „Verbrennt Tel Aviv“ (eine Demo am Brandenburger Tor konnte verhindert werden) und Muhammad Saud schickt aus der saudischen Hauptstadt Riad klangvoll-sympathische Rosh-Hashana-Lieder an seine Freunde in Israel. Zu Beginn des Neuen Jahres 5780 fällt auf: die Fronten verändern sich, Israel kann auf ein erfolgreiches Jahr zurückblicken. Die Nachbarn müssen sich jedenfalls mehr Sorgen machen.

Die westlichen Medien – Israel eingeschlossen – überschlagen sich in ihren Kommentaren wegen zweier Parlaments-Wahlen, die keinen Ausweg aus dem politischen Patt vorgeben. Israel sei gespalten und zerrissen, konstatieren die Krawattenträger in TV-, Radio-Studios und Zeitungsredaktionen mit sorgenvoller Miene und prophezeien Schlimmes. Na, was haben sie erwartet?

Etwas anderes als in israelischen Büros, Supermärkten, Kneipen, Schulen und Fussball-Stadien täglich Usus ist? Die wortreich laut-gelebten Gegensätze sind Ausdruck der 4.000-jährigen jüdischen Geschichte, die Israel stolz schultert. Die Unordnung ist die Ordnung. Oder wie es Albert Einstein, dem 1948 das Amt des israelischen Staatspräsidenten angetragen wurde, formuliert hat: ein unordentlicher Schreibtisch ist Zeichen eines unordentlichen Gehirns. Was ist dann ein leerer Schreibtisch?

Die 6.421 Start-ups, 1.785 wissenschaftlichen Projekte und 376 multinationalen R&D-Labors (Quelle: SNC) sind im israelischen Chaos gewachsen, das von Juden aus 70 Ländern mit Jahrtausende alten Kulturen, Sprachen und Mentalitäten dirigiert wird. Die derzeit interessanteste Frage lautet nicht „Benyamin oder Benny“ (Netanyahu oder Gantz), sondern, wieso sind sündteure Restaurants in Tel Aviv, Jerusalem und Haifa sieben Tage die Woche ausgebucht und warum zahlen im abgelaufenen Jahr über 4 Millionen Besucher mitunter 300 US-Dollar für ein Hotelzimmer pro Nacht mit gewöhnungsbedürftigem Service. Für das gleiche Geld bekommen sie eine Woche Mallorca oder Ibiza, manchmal Flug inklusive.

Was lockt sie nach Israel trotz der Polizei-Kontrollen wie zum Beispiel am Flughafen München, die Menschen und Gepäck einzeln durch ein CT schieben und erlebnishungrigen Touristinnen 103 ml Eau de Cologne gnadenlos aus der Handtasche reissen, weil laut Amts-Verordnung nur 100ml erlaubt sind. Dennoch, sie kommen alle: Geschäftsleute, Politiker, Priester und Nonnen, Bi- und Homosexuelle, Wanderer und Radfahrer, Surfer, Sonnenhungrige, Weintrinker und Investoren. Sie kommen mit Fragen und kehren mit mehr Fragen als Antworten nach Hause zurück.

Mehr Baukräne als Wolken

Wie kann es sein? Ein Land, umgeben von Feinden, die lieber heute als morgen das verwirklichen würden, was vermeintliche Rapper am Brandenburger Tor in bereitgestellte Mikrophone rufen wollen. Wie kann es sein, dass in Nachrichtensendungen (Nechemya Shtrassler, Channel13) gestritten wird, wieso das Wachstum des Bruttoinlandsprodukts (BIP) 2019 nur noch 3,1 Prozent beträgt. 2014 waren es noch fünf Prozent. Von solchen Sorgen können selbst EU- und OECD-Länder nur träumen. Wer in Tel Aviv und Jerusalem in diesen Tagen in den Himmel schaut, sieht mehr Baukräne als Wolken. Israels Bruttoinlandsprodukt (BIP) ist höher als das der Nachbarländer Libanon, Syrien, Jordanien und Ägypten zusammengerechnet, immerhin die 15fache Bevölkerung. Das 370 Milliarden US-Dollar-BIP wird in Israel erwirtschaftet. Die US-Militär- und Wirtschaftshilfe liegt unter drei Milliarden und die Spenden der Juden weltweit sind für Universitäten und Museen wichtig. Wirtschaftliche Bedeutung haben diese Beträge so gut wie keine.

Neun Millionen Israeli, Juden, Araber, Drusen, Beduinen, Christen, Ungläubige und kaukasische Tscherkessen sind im Durchschnitt gut gebildet und fleissig, den Rest macht der Wettbewerb in einer lebendigen Marktwirtschaft. Auch für links-grün Angehauchte und unpolitische Frauen hat Israel etwas im Angebot: 60 Prozent des Weltmarktes für hochwertige Majoul-Datteln, die grösste Thermo-Solar-Anlage der Welt sowie die weltweit ertragreichsten Meerwasser-Entsalzungsanlagen und jede Menge Jojoba-Öl gegen Altersfalten. Ein soziales Netz ist vorhanden, aber es ist grossmaschig, zum Ausruhen mit 55 plus lädt es nicht ein. Arbeiten unter Zeitdruck bringt Leistung und die ist in Israel an jeder Ecke zu spüren.

Diejenigen, die sich um Israels Demokratie sorgen, sollten sich bei aller Kritik vor Augen halten, dass sie wochenlang von Tel Aviv aus mit ihrem SUV in Richtung Osten fahren müssten (wenn sie dürften), ohne ein Land anzutreffen, das das Wort „Demokratie“ in ihrem Wortschatz führt. Unter dem Radar vieler westlicher Medien und Politiker findet eine wachsende Annährung zwischen Israel und ölexportierenden arabischen Regierungen statt, die sich auf eine Zukunft ohne sprudelnde Ölquellen einstellen. Sie verstehen inzwischen die Sinnlosigkeit der „Tod Israel“-Rufer, deren Smartphones ohne Algorithmen, die in Israel entwickelt werden, nutzlose Teile aus Plastik, Alu und Glas wären.

In gleichem Mass, in dem sich Saudis, Quataris, Kuwaitis, Omanis und Emiratis Israel annähern, entfernen sich Palästinenser von ihren selbsternannten Führungen wie PLO, Hamas und Hisbollah. Sie erkennen immer mehr, dass Milliarden Hilfsgelder in die Taschen einiger Weniger fliessen. Die Zwei-Staaten-Lösung ist nur Vorwand und dient als Leerformel. Für Terror reicht es allemal. Aber es ist ein Terror, der ihren Förderern wenig Früchte bringt, wie aktuelle Zahlen belegen. In diesem Jahr beklagt Israel rund 20 Opfer (2002: 400). Für die Betroffenen und ihre Familien eine Katastrophe, politisch eher unbedeutend. Israel erfreut sich an 196.000 Neugeborenen, einem Wachstum von zwei Prozent. Auch hier ist Israel führend im Vergleich zu EU- und OECD-Ländern. Es sind israelische Frauen, die eine durchschnittliche Geburtenrate von 3,1 aufweisen. Dazu tragen auch säkulare Frauen bei, die nicht selten drei bis vier Kinder haben.

Wissen ist die Basis des Glaubens

Woher kommt die Kraft im erfolgreichen Land der Juden? Bedrohung macht erfinderisch, erklärt die veröffentlichte Meinung. Bedroht sind auch Irak, Iran und Syrien, seit Jahrzehnten bekriegen sich nicht nur Sunniten und Schiiten. Aber eine der grössten High-Tech-Messen weltweit, die vom Münchner BURDA-Verlag initiierte Digital-Life-Design-(DLD)-Messe kommt seit Jahren regelmässig neben München, New York und Singapur auch nach Tel Aviv. Damaskus, Bagdad oder Teheran ist auf der High-Tech-Landkarte keine Adresse. Oder hat schon jemand gehört, dass ein zielstrebiger Student der Computer-Wissenschaften Interesse an einem Sommersemester irgendwo in Syrien, Irak oder Iran anmeldet?

Woher kommt die Kraft in Israel? Juden sind ein Volk des Lernens, neugierig und gierig nach Wissen. Nur so konnten sie überleben. Allen voran die Schwarzhut- und Bartträger, die man vorwiegend in Jerusalem und Bnei Brak antrifft. Sie werden von Säkularen als Hinterwäldler oder Restposten einer untergegangenen Welt belächelt. Tatsache ist, durch das lebenslange, unermüdliche Lernen sind sie seit 3.000 Jahren das Rückgrat des Judentums, geben stets neue Antworten auf die Fragen des Lebens. Einer ihrer grössten Denker, Maimonides, hat es im 12. Jahrhundert aufgeschrieben: Wissen ist die Basis des Glaubens. Deshalb hatte im Judentum nie einer eine Chance überzeugend zu verkünden, die Welt sei eine Scheibe.

Wer sich Sorgen macht, was aus Israel ohne eine Mehrheits-Regierung nach zwei Wahlen wird und ob Benyamin N. vor Gericht muss oder nicht, kann sich getrost weiterhin Sorgen machen. Der Kern Israels ist am Beginn des Jahres 5780 gesund. Kein Grund sich geruhsam zurückzulehnen. Aber: macht euch mehr Sorgen um die Nachbarn Israels und den Rest der Welt, die ein 16jähriges Mädchen anhimmelt, das sehr viel glaubt, aber ziemlich wenig weiss.

Auf Deutsch zuerst erschienen bei „Tichys Einblick“.

Über Godel Rosenberg

Journalist, Autor, High­techunternehmer. Godel Rosenberg war Pressesprecher der CSU und von Franz Josef Strauß, Fernsehjournalist, TV­-Moderator und Repräsen­tant des Daimler­-Konzerns in Israel. Von 2009 bis 2018 war Godel Rosenberg der Repräsentant Bayerns in Israel.

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2 Kommentare

  1. Mein ganzes langes erwachsenenleben lang bange ich um die juden und den staat Israel ! Der obige bericht hat mich ein klein wenig beruhigt . Oder doch nicht ? Wenn ich nach Halle schaue , ist meine besorgnis doch nicht umsonst . Und Halle ist ja nur das letzte einer ganzen reihe von verbrechen in D und Europa .

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