Brexit, Brexodus oder Jewxit?

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Foto Lloyd Davis, London, CC BY-SA 2.0, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=81890180
Foto Lloyd Davis, London, CC BY-SA 2.0, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=81890180
Lesezeit: 8 Minuten

Was er unseren jüdischen Lesern mitteilen wolle, frage ich Lance Forman, einen jüdischen Politiker der Brexit-Partei und Eigentümer von Londons ältester Lachsräucherei. „Shana Tova!“, lacht er. „Sag ihnen, dass es ein glückliches und süsses neues Jahr werden wird. Der Brexit wird passiert sein, wir werden raus sein und wir werden frei und unabhängig sein. Wenn man genau darüber nachdenkt, dann sollte das eigentlich an Pesach passieren, dann könnten wir über den Brexodus statt über den Exodus reden“, sagt das ehemalige Mitglied der Konservativen mit einem Lachen.

Im Mai wurde Forman für die Brexit-Partei, die Anti-EU-Partei, ins Europäische Parlament gewählt. Das Schiff der Konservativen verliess er nach über 40 Jahren Parteimitgliedschaft, von denen er zwei Jahre lang als Sonderberater des Aussenministers für Handel und Industrie tätig war. „Der Grund, warum ich mich der neugegründeten Brexit-Partei angeschlossen habe“, sagt er, „war, dass [die ehemalige Premierministerin] Theresa May Jeremy Corbyn [den Vorsitzenden der Labour-Partei] zu Gesprächen über unsere Zukunft einlud. Für mich war damit eine rote Linie überschritten. Dieser Mann sollte nirgends in der Nähe von Downing Street sein. Wir müssen alles tun, um Corbyn draussen zu halten. Sein Marxismus und Antisemitismus würden Grossbritannien an einen sehr, sehr gefährlichen Platz bringen.“

Auf ihrem letzten Parteitag in Brighton beschlossen die Labour-Delegierten – erstmals überhaupt – mit überwältigender Mehrheit, den Boykott von in den Siedlungen hergestellten israelischen Gütern zu unterstützen. Sie stimmten auch für die Ablehnung eines Handelsabkommens mit Israel, wenn es „nicht die Rechte der Palästinenser anerkennt“. Die Labour Friends of Israel nannten das Ergebnis in einem Tweet einen „weiteren schwarzen Tag in der Geschichte der Labour-Partei“. Doch die Co-Vorsitzende von Jewish Voice for Labour, Jenny Manson, seit 50 Jahren aktives Labourmitglied, widerspricht. Es gebe keinen Beleg dafür, dass in der Partei mehr antisemitische Ansichten gehegt würden als in anderen britischen Parteien. „Als Beschwerden über Antisemitismus untersucht wurden, haben sich nur sehr wenige davon bestätigt“, beteuert sie und weist darauf hin, dass Labour die einzige britische Partei sei, die das Thema sowohl intern als auch extern untersucht und dabei professionelle Unterstützung angeheuert habe. „Das Ergebnis des letzten periodischen Berichts war, dass es gegen 0,06 Prozent der Parteimitglieder Anschuldigungen des Antisemitismus gab. Heutzutage gibt es mehr Antisemitismus auf der Rechten als auf der Linken. Seit Corbyn gewählt wurde, haben wir die geballteste feindliche Kritik erlebt, die an einem Vorsitzenden einer britischen Partei geübt wurde. Ich bin keine Verschwörungstheoretikerin, doch ich glaube, das ist Teil eines grösseren Schocks, den Leute gespürt haben, als er Vorsitzender wurde. Was ihnen wirklich Sorgen bereitet, ist, dass er die politische Welt durcheinanderbringt. Die Bezichtigung des Antisemitismus hat einen enormen Klang und vereint die Leute“, sagt sie.

Forman und Manson sind beide jüdisch, und doch haben sie Ansichten, die einander diametral entgegengesetzt sind. Darin spiegeln sich die Debatte und die Vielzahl von Meinungen über den Brexit wider, die es innerhalb der weltweit fünftgrössten jüdischen Gemeinde gibt. Forman glaubt, dass der Brexit Jobs bringen werde. Manson ist besorgt, dass er arme Leute noch ärmer machen werde. Forman meint, der Brexit habe nichts mit Einwanderung zu tun. Manson glaubt, dass dies der wichtigste Faktor sei. Forman ist der Ansicht, dass sich die Leute mehr um Souveränität sorgen als um die negativen Folgen von Imperialismus. Manson befürchtet, dass der Brexit das Land politisch isolieren werde.

Es gibt Juden, die für den Brexit und solche, die dagegen gestimmt haben. Seit Monaten dominiert er Gespräche in jüdischen Familien überall im Land. Die Führung der jüdischen Gemeinde ist sehr darauf bedacht, keine Position einzunehmen.

Keine Kippa auf der Strasse

Es ist Freitagabend, und ich bin in Golders Green, einem Vorort im Nordwesten Londons, der eine grosse orthodoxe Gemeinde beherbergt. Rote Backsteinhäuser mit gepflegten Gärten reihen sich entlang den Anwohnerstrassen hinter den Hauptstrassen auf. Avi Mizrachi rezitiert das Challa-Gebet, während seine Kinder nach vorne drängen, um ihren Teil des süssen Brotes zu erhalten. Der 50-jährige Einwanderer aus Jerusalem kann seine ausländische Herkunft nicht verbergen. Obwohl er mit einer britischen Frau verheiratet ist und seit mehr als 30 Jahren in Grossbritannien lebt, verrät ihn sein starker Akzent. „Kunden fragen immer, woher ich komme“, gesteht er. „Und ich sage niemals Israel, wenn ich nicht zu tausend Prozent sicher bin, dass es für mich kein Problem darstellt. Ich könnte Italien oder Frankreich sagen. Ich trage draussen auf der Strasse keine Kippa und bedecke stattdessen meinen Kopf mit einer Mütze.“

Avi verdient seinen Lebensunterhalt als Schlosser und viele der Anrufe, die er erhält, kommen aus arabischen Vierteln wie Whitechapel. Einst das Zentrum des jüdischen Lebens in London, beherbergt der Bezirk heute die grösste muslimische Gemeinde Grossbritanniens. „Wenn ich Kunden dort erzähle, dass ich Jude oder Israeli bin, könnten sie grob gegen mich werden. Das passierte einige Male in den Anfangsjahren, als Muslime mich aufforderten, ihr Haus zu verlassen, nachdem ich meine Identität enthüllt hatte. Ich habe gelernt, den Mund zu halten und einfach meine Arbeit zu tun“, sagt er.

„Wenn Sie nicht an Nationalismus glauben, warum glauben Sie dann an Israel?“

Wie andere britische Juden mit Migrationshintergrund befürchtet Avi, dass der Brexit fremdenfeindliche Tendenzen wecken und Hassverbrechen provozieren könnte. Gleichzeitig macht er die Politik der offenen Grenzen für die hohe Zahl von Muslimen im Land verantwortlich. Seine Frau Amanda ist wütend. „Die britische Öffentlichkeit muss dasitzen und abwarten, während Premierminister Boris Johnson mit unserer wirtschaftlichen Stabilität und der Zukunft unserer Kinder spielt“, schimpft sie. „Vielleicht werden wir fünf Minuten vor dem 31. Oktober [dem Datum, an dem Grossbritannien gemäss dem derzeit gültigen Termin die EU verlassen soll] den Deal unseres Lebens bekommen, aber um ehrlich zu sein: Ich und Leute in Grossbritannien die ich kenne, leben in erster Linie von der EU, und mit dieser Unsicherheit leben zu müssen, ist beschämend. Ich bin verzweifelt über das, was einst ein tolerantes Land war, bereichert durch all jene, die sich entschlossen haben, hier ihr Leben zu gestalten. Fakten sind verschwunden und wurden durch eine kultähnliche emotionale Gefolgschaft ersetzt, die die meisten Menschen nicht einmal begründen können“, sagt sie.

Neun Meter grosses Hakenkreuz

Als der Pro-Brexit-Abgeordnete Lance Forman im Mai eines Morgens zu seiner Fabrik kam, fand er ein neun Meter grosses Hakenkreuz, das auf die Aussenwand gesprüht war. Er glaubt, dass er nicht als Zielscheibe ausgewählt wurde, weil er Jude ist, sondern weil er den Brexit unterstützt. Er macht die Medien zum Teil dafür verantwortlich, dass diejenigen, die den Brexit unterstützen, als „rassistische Idioten“ dargestellt würden. Im Gegenteil, sagt er: Warum würde jemand Teil des heutigen Europas sein wollen? „Es gibt eine massive Jugendarbeitslosigkeit, Deutschland geht auf eine Rezession zu, Italien ist in den letzten zehn Jahren nicht gewachsen. Die einheitliche Währung tötet Europa und verursacht eine grosse Kultur der Abhängigkeit, die Ressentiments und Extremismus nährt“, sagt er. Anhand seiner eigenen Beobachtungen geht Forman davon aus, dass etwa 55 Prozent der britischen Juden für einen Verbleib in der EU seien, gegenüber 45 Prozent, die die EU ohne Abkommen verlassen wollten. Doch er glaubt, dass viele die Situation oberflächlich sehen; statt den Brexit aus wirtschaftlicher Sicht zu betrachten, schauten sie auf ihn unter dem Gesichtspunkt des Wunsches nach Frieden in Europa und der Vermeidung von Antisemitismus.

„Meine Analyse ist das Gegenteil. Juden sagen, dass sie Angst vor Nationalismus hätten und dass dieser zu Antisemitismus führe, aber ich sage: Wenn Sie nicht an Nationalismus glauben, warum glauben Sie dann an Israel? Ich glaube nicht, dass sich die Geschichte wiederholen wird, weil Israel existiert. Wenn Israel in den 1930er Jahren existiert hätte, dann hätte es keinen Holocaust gegeben, weil die Juden einen Ort gehabt hätten, an den sie hätten gehen können. An einem Nationalstaat ist nichts auszusetzen, solange es sich um eine freiheitliche Demokratie handelt. Das nationalsozialistische Europa war nicht freiheitlich.“

Forman ist fest davon überzeugt, dass der Brexit Arbeitsplätze schaffen und der Wirtschaft helfen werde. „Die einzigen Unternehmen, die davon betroffen sind, werden Import- und Exportunternehmen sein, die zwischen Grossbritannien und der EU Handel treiben. Sobald sie herausgefunden haben, wie sie die neuen Unterlagen auszufüllen haben – und das wird ungefähr eine halbe Stunde dauern –, werden die Dinge so ziemlich sein wie jetzt. Ja, einige Preise können sich ändern, wenn es Zölle gibt, aber die Preise ändern sich ständig und die Leute passen sich an. Die Sache ist, dass alle im selben Boot sitzen. Wenn Sie also unternehmerisch tätig sind und Ihre Preise steigen, steigen ja auch die Preise Ihrer Konkurrenten. Ich habe überhaupt keine Bedenken. Die Leute müssen sich beruhigen. Was mich beunruhigt, ist, dass wir uns an dieses ‚Backstop’-Abkommen binden könnten, das unsere Souveränität an die EU übergibt. Ich würde sogar lieber in der EU bleiben, als dass Johnson den Vertrag unterschreibt, der jetzt auf dem Tisch liegt.“

„Für mich ist die Sprache des Brexit äusserst unangenehm“

Für die Anti-Brexit-Labour-Aktivistin Manson hingegen ist der wichtigste Faktor, dass „alles, was Freizügigkeit von Menschen Hindernisse entgegenstellt, falsch ist“. Wie so viele britische Juden, die nach dem Ersten Weltkrieg nach Grossbritannien kamen oder in den 1930er Jahren vor der Verfolgung durch die Nazis ankamen, war auch die Familie von Mansons Mutter eine Familie von Einwanderern (die Familie ihres Vaters war schon in einer viel früheren Zeit der Verfolgung gekommen). Es ist diese Erfahrung, die in hohem Masse dafür verantwortlich ist, dass sie wie Forman glaubt, dass die Mehrheit der britischen Juden für ein Verbleiben in der EU ist. „Es ist eine gewisse universalistische Sicht auf die Welt und die Verbindung zu Europa. Juden haben kulturelle und historische Beziehungen zu Ländern wie Österreich, Deutschland und Ungarn. Für mich ist die Sprache des Brexit äusserst unangenehm, insbesondere die Anti-Einwanderungs-Sprache. Dass Menschen hin- und herziehen, ist ein natürliches Phänomen. Es ist nichts Besonderes, Engländer zu sein und in Grossbritannien zu leben, und die Menschen ziehen natürlich dorthin, wo sie arbeiten und können ihre Religion ausüben.“

Im Gegensatz zu Forman ist sie sehr besorgt über die Auswirkungen, die ein Austritt aus der EU hätte. „Importe werden teurer werden, und die Regierung wird weniger Geld zur Verfügung haben. Wohlhabende Menschen werden weiterhin wohlhabend sein, aber arme Menschen werden arm bleiben und sehr leiden“, sagt sie.

Während unklar bleibt, welche wirtschaftlichen Auswirkungen der Brexit haben wird, waren Zeiten finanzieller Not nie gut für Juden, da sie oft alte Vorurteile über Juden und Geld aufkommen lassen. Jüngsten Umfragen zufolge hat bereits einer von drei britischen Juden erwogen, Grossbritannien wegen des zunehmenden Antisemitismus zu verlassen. Vergessen Sie die Begriffe Brexit und Brexodus, ein unheilvollereres Schlagwort, das kürzlich aufkam, ist Jewxit – es bezeichnet ein Weltuntergangsszenario, in dem die gesamte 300.000-köpfige jüdische Gemeinde nach einem Sieg Corbyns aus Grossbritannien flieht.

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Über Paula Slier

Paula Slier ist eine südafrikanische Journalistin und Kriegsberichterstatterin die im Nahen Osten lebt. Sie ist als Chief Executive des Middle East Bureau für RT sowie als Gründerin und CEO von Newshound Media International tätig.

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