Jom Kippur: Die Umkehr

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Foto Blake Campbell/ Unsplash
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Ein alter Rabbiner reitet auf dem Pferd und redet. Ein Schüler läuft keuchend neben ihm und hört zu. Auf den ersten Blick scheint es, dass der Schüler, wie ein Schwamm, alles gierig aufsaugt. Nur die wenigsten wissen, dass er filtert: Er nimmt die Weisheit und das Wissen auf und wirft jedes g-ttlose Wort fort.

Es gibt viele g-ttlose, mit Zynismus und Hybris erfüllte Worte. Der Lehrer darf nicht reiten, weil es Schabbath ist. Darum drehen sich viele Juden von ihm weg und manche spucken voller Verachtung und Zorn auf den Boden, wenn sie ihn sehen. Die Passanten flüstern voller Angst, Entrüstung und Bewunderung: „Acher, Acher!“ Wenn das Reiten am Schabbath seine einzige und seine grösste Sünde wäre! Warum nennen sie ihn Acher, d.h. „der andere, der Ketzer?“ Er hat doch einen schönen Namen: Elischa der Sohn von Abuya. Alles, was Rang und Namen hat, bewundert und fürchtet ihn. Selbst ein vornehmer römischer Beamter, an dem Acher vorbeireitet, nickt ihm hochachtungsvoll zu. Acher, ein imposanter Greis, schaut ihm in die Augen. Der Römer senkt den Blick. Fast niemand kann dem Acher in die Augen schauen, nachdem er mit seinen drei Kollegen den Verbotenen Garten betreten und dort seinen Glauben verloren hatte. Der gebildete Römer versteht Hebräisch und Aramäisch. Er versteht jedes Wort, das Acher zu seinem Schüler Meir sagt, aber der Römer versteht nicht den Sinn. Sogar nicht alle Rabbiner können dem Acher folgen, wenn er über die Tora spricht: ein hochkomplexes, assoziatives Denken voller Sprachbilder und Wortspiele, erhabene Poesie und bitterer Sarkasmus – eine immens reiche und tiefe Gedankenwelt… Meir kann dem Acher folgen.

Plötzlich bleibt das Pferd stehen. Acher sagt zu Meir: „Ich habe die Schritte des Pferdes gezählt. Wir sind jetzt 2000 Ellen von der Stadt entfernt. Wenn du mir weiter folgst, wirst du den heiligen Schabbath entweihen. Kehre um, Meir!“ Der Schüler ist verblüfft: Während dieser hochkomplexen Auslegung der Tora hat sein Lehrer gleichzeitig die Schritte des Pferdes gezählt!? Nicht zu fassen! Meir schaut dem Acher tief in die Augen. Nur er kann das. Mit zitternder Stimme und mit Tränen in den Augen flüstert Meir: „Mein lieber Lehrer, kehren Sie auch um?!“ Acher begreift, was Meir meint: Die Teschuwa, d.h. die Umkehr bedeutet: die Sünden bereuen und den Weg zurück zu G-tt finden. Jetzt zittert die Stimme von Acher: „Ich kann das nicht mehr tun. Ich habe mich zu weit entfernt!“ Warum sagt er das? Alle wissen doch, dass ein Mensch immer, jeden Tag die Möglichkeit hat, die Teschuwa zu machen? Alle wissen, dass ein besonderer Tag von G-tt erschaffen wurde, an dem das Licht der Teschuwa durch die Welt strömt und alles erwärmt und erleuchtet. An diesem Tag wurde sogar die Sünde des Goldenen Kalbes vergeben. Die Kraft des Versöhnungstages, des Jom Kippur, ist die Kraft der g-ttlichen Vergebung. Ein kleiner Schritt G-tt entgegen – und die warme Welle der Vergebung strömt entgegen, hebt einen Sünder hoch und trägt ihn sanft zu G-tt zurück. Meir weiss das. Er weiss aber noch nicht, dass der verzweifelte Aufstand von dem todesmutigen Bar Kochba („Der Sohn des Sternes“) bald ausbrechen wird. Rabbi Akiwa wird grausam zu Tode gefoltert, Rabbi Chananija ben Tradion wird in eine Schriftrolle gewickelt und mit ihr lebendig verbrannt. Man wird einen nassen Schwamm auf sein Herz legen, damit er länger leidet. Das Pergament verbrennt. Die Buchstaben steigen zum Himmel empor. Tausende von Juden werden an die Kreuze genagelt, verbrannt, vergewaltigt, auf den Sklavenmärken verkauft, – für Groschen, weil das Angebot an Sklaven sehr hoch steigt, während die Nachfrage konstant bleibt.

Das Licht der Vergebung

Vater und Sohn stehen am Jom Kippur in einer Synagoge in Europa knapp 1800 Jahre später. Die beiden sind nur 3-4 Male im Jahr in der Synagoge, weil sie moderne, weltliche Juden sind, aber Jom Kippur ist ihnen heilig. Sie essen und trinken an diesem Tage nicht; sie baden und duschen nicht; sie benutzen keine Salben und Cremen; sie tragen keine bequemen Lederschuhe; der Vater schläft nicht bei der Mutter, sondern auf dem Sofa im Wohnzimmer. „Nicht nur in dieser Nacht, sondern schon seit langem!“ – denkt der Sohn. Die Sonne geht bald unter. Sobald die Sterne im Himmel erschienen sind, dürfen Vater und Sohn wieder essen und trinken. Den brennenden Durst zu ertragen ist dem Jungen besonders schwer. Er fastet zum ersten Mal im Leben. Die Strahlen der untergehenden Sonne werfen goldenes Licht auf Herbstlaub vor dem Fenster der Synagoge. Der Vater streichelt den Sohn am kurzen Haar und sagt: „Siehst du die Sonnenstrahlen auf dem Laub? So strahlt das Licht der Vergebung auf uns alle. Diesem Licht entgegen müssen wir nur einen Schritt machen! Uns dorthin stellen, wo dieses Licht uns erreicht!“ Der Sohn fragt: „Verzeiht G-tt auch, dass ich zu meinem Freund Jonathan so gemein war?“ Der Vater nickt: „David, renn schnell zu Jonathan, bevor die Sonne untergegangen ist! Bitte ihn um Verzeihung! Schnell! Erst dann sollst Du G-tt um Vergebung bitten!“ David wundert sich: „Wird G-tt nicht zornig, wenn ich wegen Jonathan das Gebet unterbreche?“ Der Vater lacht: „Genau das will ER und wartet nur darauf, dass du jetzt zu Jonathan rennst!“ Der Sohn macht ein Schelmengesicht: „Wirst Du auch die Mama um Vergebung bitten?“ Der Vater schluckt, wird noch blasser, nickt.

Man sieht nicht die Sterne wegen den Wolken, aber man weiss aus einem jüdischen Kalender, wann der Ausgang von Jom Kippur ist. Die blassen Gesichter von Vater und Sohn leuchten immer noch mit einem besonderen Licht, während sie vor einer warmen Suppe im Esszimmer sitzen. Der Vater erzählt über Juden und Römer, über Acher und Meir, über Rabbi Akiwa und Bar Kochba. „Hat Acher wirklich keine Teschuwa gemacht? Hat G-tt ihm nie verziehen?“ – fragt der Sohn. „Was denkst Du?“ – Weicht der Vater aus. Dann erzählt er: „Acher hat bitter geweint, als er im Sterben lag. Er betete. G-tt hat nur darauf gewartet. Aber das war knapp!“ Der Sohn sagt nachdenklich und traurig: „Sie haben sich zu Tode foltern lassen, um das weiterzutragen, was du und ich fallen gelassen haben und mit den Füssen treten! Wir haben das verkauft! Für Groschen!“ Der Vater denkt nach und sagt leise: „Wir haben uns zu weit entfernt… Es kann auch für uns knapp werden… Wir gehen ab jetzt öfter in die Synagoge! Ich rede mit der Mama, ob wir ab jetzt auf das Schweinefleisch verzichten können. Wir machen es langsam. Schritt für Schritt. Ich rede ab jetzt öfter mit der Mama…“ „Kein Schweinefleisch? Öfter in die Synagoge gehen?! Wir sind doch moderne, aufgeklärte Juden!“ – Wundert sich der Sohn. „Eben deswegen!“ – Erwidert der Vater lachend und schlägt plötzlich vor: „Bauen wir eine Laubhütte!?“

Über Elijahu Tarantul

Rabbiner Elijahu Tarantul hat Erfahrung als Gemeinderabbiner, Lehrer und Dozent und ist zur Zeit unter anderem als Maschgiach (Aufsicht über koschere Lebensmittel) in einer Pflegeresidenz in der Schweiz tätig.

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1 Kommentar

  1. Die Umkehr zu Gott – Teschuwa – zu Jom Kippur wirkt auf mich als JesusAngehörigen archaisch und ist deswegen so grundlegend überwältigend. Es kommt zwar nicht auf die äußeren Zeichen an sich an, doch sie ermöglichen und erleichtern sichtbar das unsichtbare Geschehe, “wenn wir diesen Schritt machen, wo uns das Licht der Gnade Gottes, der Vergebung uns erreicht”:
    „Und doch vermag kein Bruder den anderen zu erlösen; er kann Gott das Lösegeld nicht geben — zu teuer ist die Erlösung ihrer Seelen, er muss davon abstehen auf ewig! —,“ ‭‭Psalmen‬ ‭49:8-9‬

    „Missetaten überwältigen mich; unsere Übertretungen — du wirst sie sühnen.“ Psalmen‬ ‭65:4‬ ‭

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