Die drei Wochen, die Jahrtausende dauern

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Gefangene und die Zerstörung des ersten Tempels. Bild James Tissot, https://thejewishmuseum.org/collection/26577-the-flight-of-the-prisoners Jacques Joseph Tissot, Public Domain, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=8860276
Gefangene und die Zerstörung des ersten Tempels. Bild James Tissot, https://thejewishmuseum.org/collection/26577-the-flight-of-the-prisoners Jacques Joseph Tissot, Public Domain, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=8860276
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Im Abendland sind die Monate Juli und August der Höhepunkt der Sommerpracht, die Ferienzeit mit Badespass sowie mit Ausflügen in Wälder und auf Wiesen bei schönem Wetter. Ein orientalischer Mensch denkt und fühlt anders: „Schönes Wetter? Nur wenn es regnet!“

Durch das Klima und durch die Landschaft wurde im Morgenland ein uraltes Narrativ geprägt. Der hochpoetische Mythos über Tammus / Dummuzi besingt und betrauert den Tod der männlichen Gottheit, die in die Unterwelt herabsteigen muss. Die gesamte Vegetation vermisst ihn, leidet und stirbt mit ihm: Alles wird gelb, trocken, durch sengende Sonne ausgebrannt, bis die treue Gattin des Tammus, die orientalische Venus namens Ischtar zu ihm herabsteigt, um ihn aus der Totenwelt zu retten und auf den Antlitz der Erde heraufzubringen, damit die Natur wieder aus dem Tode der Dürre auferstehen und neu aufblühen kann. Die uralte weise Dichtung über den Kreislauf von Trauer und Freude in der Welt… Ein Epos der Treue…

Wie kommt es nun, dass unser jüdischer Monat Tammus den Namen eines mesopotamischen Götzen trägt? Die Suche nach der Antwort auf diese Frage führt uns in die graue Vorzeit, in den Alten Orient, ein Bestandteil von dem das kleine Volk Israel war. Wie ein verwundbares, wehrloses, zartes Schäfchen unter dem Schutz des ewigen Hirtens weidete es zwischen mächtigen, alten und weisen Raubtieren, dem Altägyptischen Imperium und dem grossen Imperium Mesopotamiens. Ungefähr in der gleichen Zeit, in der die Helden von Homer gelebt haben sollen, wurde das Volk der Hebräer sesshaft und liess sich im Lande Kanaan nieder, das fortan Israel heissen sollte.

Damals war vieles anders: Die meisten Israeliten lebten in ihrem eigenen Land, dessen Weinberge, Olivenhaine und Dattelpalm-Plantagen von Generation zu Generation innerhalb einzelner Sippen der 12 Stämme vererbt wurden. Die Monate des hebräischen Kalenders hiessen anders: Siw, Aviv, Bul, Etanim… Die Schrift war anders. Der Alltag des Volkes war anders: Viehzucht und Ackerbau der bodenständigen Bauern, statt Finanzgeschäfte, Handel und vielseitige Gelehrsamkeit der entwurzelten Kosmopoliten– die später entstandenen Klischees über die Juden in der Diaspora. Begann die Misere des Exils mit dem Sieg Roms über Judäa im Jahre 70 nach unserer Zeitrechnung? Früher? Mit der Zerstörung des Ersten Tempels am 9. Aw durch die Babylonier im Jahre 586? Noch früher? War es der Erste oder der Zweite Tempel, der am 9. Tag des Sommermonats Aw zerstört wurde? Oder die beiden? Aus Entfernung von Jahrtausenden wird unser Blick in die Vergangenheit getrübt. Wir sehen alles verschwommen. Ereignisse verschmelzen miteinander. Oder wissen wir ganz genau, dass beide Tempel am demselben Tag zerstört wurden?

Das Zeitalter des Eisens kam im 8. Jahrhundert vor unserer Zeitrechnung in die Welt, die Epoche des Schwertes. Aschur (Assyrien) eroberte eine alte Kulturlandschaft des Orients nach der anderen und vereinigte uralte Königreiche in einem neuen, kosmopolitischen Imperium, in dem kaum noch jemand im Schatten der Weinberge und der Olivenhaine seiner Urahnen sass. Alle wurden zu Exilanten. Völker wurden entwurzelt. Bevölkerungen wurden deportiert. Unsere Vorfahren wehrten sich verzweifelt dagegen.

Der tapfere Achaw, der g-ttlose König Israels, schmiedete durch seine weise Aussenpolitik eine Koalition mit dem Königreich Aram und führte eine stolze Kavallerie von 1000 eisernen Streitwagen, den damaligen Panzern, in den Kampf gegen die grausamen assyrischen Eroberer. Der todesmutige Joschijahu, der fromme judäische König, versuchte die Koalition zwischen Aschur und Ägypten zu verhindern, indem er die riesige Armee des Pharao Necho aufhalten wollte, die dem Aschur zur Hilfe eilte. Unser grosser, tapferer König wird durch einen feindlichen Pfeil getroffen. Er steht dennoch stolz und aufrecht auf dem blutüberströmten Streitwagen… Bis er zusammenbricht und dem Lenker sagen muss: „Kehre um, weil ich tödlich verwundet bin!“ War es der böse und tapfere König Achaw? Oder der gute und tapfere König Joschijahu? Die beiden? Aus Entfernung von Jahrtausenden wird unser Blick in die Vergangenheit getrübt. Wir sehen alles verschwommen. Ereignisse und Könige verschmelzen miteinander. Oder wissen wir ganz genau, dass beide Könige auf die gleiche Art gefallen sind? Fest steht: Weder Achaw noch Joschijahu konnten die Katastrophe abwenden. Assyrer zerstörten das mächtige Königreich Israel im Jahre 722 und verwüstete das kleine Königreich Jehuda im Jahre 701. Die zehn Stämme Israels werden ins Exil geführt und gelten bis heute als verschollen.

Im Jahre 587 vor unserer Zeitrechnung erobern die Babylonier das kleine Königreich Jehudah – nur noch ein Schatten von sich selbst und ein miserables Überbleibsel aus der glorreichen Vergangenheit Israels. Am 17. Tag des Sommermonats Tammus gelingt es den Babyloniern, eine Bresche in der Stadtmauer von Jeruschalaim zu schlagen. Oder waren es die Römer im Jahre 70 nach unserer Zeitrechnung? Fest steht: Der 17. Tammus ist seitdem ein trauriger Tag. Oder war es schon immer ein trauriges Datum? Zerbrach etwa nicht Mosche Rabbenu an diesem Tag die Bundestafel als er das Goldene Kalb sah? Wurde etwa nicht an diesem Tag ein Götzenbild im Tempel aufgestellt? Durch wen? Durch den hellenistischen König Apostomus oder viel früher durch den israelitischen König Menasche? Aus Entfernung von Jahrtausenden wird unser Blick in die Vergangenheit getrübt. Wir sehen alles verschwommen. Ereignisse verschmelzen miteinander. Fest steht: Mit dem 17. Tammus beginnt die dreiwöchige Trauerzeit, die am 9. Aw, dem traurigsten Tag unserer Geschichte, ihren Tiefpunkt erreicht und endet. Oder war 9. Aw schon immer ein finsterer Tag? Wurde nicht etwa dem Volk Israel an diesem Tage in der Wüste angekündigt, dass es noch 40 Jahre zu wandern habe? Oder ist es ein trauriger Tag in allen Epochen? Ist nicht etwa am 9. Aw der todesmutige Rebell Bar Kochba im aussichtslosen Kampf gegen Rom gefallen? Wurde etwa nicht die letzte stolze Bastion des jüdischen Widerstandes, die Festung Betar, an diesem Tage durch die Römer gestürmt? Aus Entfernung von Jahrtausenden wird unser Blick in die Vergangenheit getrübt. Wir sehen alles verschwommen. Ereignisse verschmelzen miteinander. Völker verschmelzen miteinander. Erinnerungen an grosse Imperien verblassen. Fest steht: Unsere Erinnerung, unser Stolz, unser Schmerz verblassen nicht. Wir selber verschmelzen nicht vollständig mit anderen Völkern in Schmelztiegeln der grossen Imperien.

In grossen Imperien sollen die kleinen, rückständigen Völker zu einer neuen, fortschrittlichen Gemeinschaft vereinigt werden – mit Feuer und Schwert, wenn es nicht anders geht, das heisst wenn die kleinen Völker so undankbar sind, dass sie ihre lächerliche, lokale Identität nicht aufgeben wollen. Die lächerlichen Monatsnamen im regionalen Dialekt wie Siw und Etanim werden durch fortschrittliche Namen aus der geistigen Schatzkammer der grossen Leitkultur ersetzt. Tammus ist mehr als ein Monatsname. Es ist ein Bekenntnis der Zugehörigkeit zur imperialen Leitkultur Babyloniens. August ist mehr als ein Monatsname. Es ist die Verewigung des Kaisers, unter dem die Welt zur neuen römischen Ordnung erzogen werden sollte. Thermidor ist mehr als ein Monat. Es ist ein radikaler Bruch mit der feudalen Vergangenheit und eine utopische Rückkehr zu den vermeintlich humanistischen Idealen der griechisch-römischen Antike. Ewige Wanderer und Kosmopoliten mit Erinnerungen an viele Imperien lächeln nur müde darüber: Déjà-vu. Auch dieses Imperium werden wir überleben, wobei ihre Existenz tiefe Spuren in unserer Kultur hinterlassen wird. Dennoch werden wir unsere Identität nicht aufgeben. So machen wir Urlaub im schönen Sommermonat August, aber unterbrechen unsere Freude am Baden und Picknicken im traurigen Monat Aw.

Ein kleiner Mann führt eine riesige Armee durch Europa im Jahre 1812. Er will den unterdrückten Völkern Freiheit bringen. Mit Kanonen und Bajonetten, wenn es nicht anders geht. In Polen sieht er eine Gruppe von Juden, die mitten in der herrlichen Sommerpracht fasten, weinen und Klagelieder rezitieren. Er schickt seinen Adjutanten, um zu erfahren, wie er den Juden helfen kann. Der Adjutant kommt mit Hohn und Spott zurück: Den Juden sei nicht mehr zu helfen! Sie weinen über einen Tempel, der vor 2000 Jahren zerstört wurde! Der kleiner Mann mit einem grossen Herz belehrt seinen Adjutanten: Ein Volk, dass die Erinnerung, den Schmerz, den Stolz und die Hoffnung über die Jahrtausende des Exils tragen kann, wird seinen Tempel wieder aufbauen!

Über Elijahu Tarantul

Rabbiner Elijahu Tarantul hat Erfahrung als Gemeinderabbiner, Lehrer und Dozent und ist zur Zeit unter anderem als Maschgiach (Aufsicht über koschere Lebensmittel) in einer Pflegeresidenz in der Schweiz tätig.

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