Ausschreitungen äthiopischer Demonstranten in Israel – „Anarchie“ in unbekanntem Ausmass

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Ausschreitungen in Tel Aviv am 2. Juli 2019. Foto Adam Shuldman/Flash90
Ausschreitungen in Tel Aviv am 2. Juli 2019. Foto Adam Shuldman/Flash90
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Erst gegen Mitternacht erhielten die Polizisten in Israel den Befehl, durchzugreifen und mit allen Mitteln die landesweiten Demonstrationen zu beenden. Heute Morgen gelang es dem Rundfunk, den Minister für innere Sicherheit, Gilad Erdan, zu erreichen und zu interviewen.

 

Alle wichtigen Kreuzungen, Autobahnen und Durchgangsstrassen waren derweil blockiert. Erdan sagte, dass er mit seiner Familie „stundenlang“ in den Staus feststeckte, als äthiopische Demonstranten den Verkehr landesweit lahmlegten.

Der Anlass war der Tod des18 Jahre alten äthiopischen Israeli, Salomon Tekah, im Norden des Landes. Gemäss noch nicht abgeschlossenen Ermittlungen hat ein nicht-uniformierter Polizist während seiner Freizeit versucht, streitende Jugendliche zu trennen. Er habe seine Pistole gezückt und einen Schuss abgegeben. Nach Angaben des Polizisten, der das Feuer eröffnete, wurde er, als er versuchte den Streit zu schlichten, von drei der jungen Männer angegriffen. Aus Angst um sein Leben, sagte der Polizist, habe er entgegen allen Regeln einen Warnschuss in Richtung Boden und nicht in die Luft abgegeben. Die Kugel sei abgeprallt und habe so den Äthiopier in die Brust getroffen. Daraufhin brachen spontan die Demonstrationen aus.

Gilad Erdan sprach von einer „Anarchie unbekannten Ausmasses“, die offenbar von niemandem gelenkt worden sei. In den sozialen Netzwerken seien Jugendliche aufgerufen worden, zu den Demonstrationen zu kommen und mit Gewalt gegen die Polizei vorzugehen. Es habe präzedenzlose Fälle von Gewalt gegeben. Israel werde keine Anarchie mehr zulassen, wie es sie seit Jahren nicht mehr gegeben habe. „Die Gesellschaft ist nicht rassistisch, aber es gibt rassistische Vorfälle“.

Mindestens 47 Polizisten verletzt

Erdan lobte die Polizei für ihre Zurückhaltung. Trotz zahlreichen Verletzten unter den Sicherheitskräften und sogar unter Sanitätern seien die aus Äthiopien stammenden Demonstranten teilweise sehr aggressiv vorgegangen.

Nach Angaben eines Sprechers der Rettungsorganisation MDA wurden 83 Menschen während der Unruhen Dienstagnacht und am frühen Mittwochmorgen behandelt. Zu den Verletzten gehörten 47 Polizisten, die medizinische Hilfe benötigten, 26 verletzte Randalierer, neun Passanten und ein Feuerwehrmann.

Obgleich Steine geworden, Feuerwerk gezündet und sogar Schüsse auf die Polizei abgegeben worden seien, habe es „zum Glück“ keine weiteren Todesopfer oder Schwerverletzte gegeben. Erdan äusserte Verständnis für den Anlas der Demonstrationen.

Die Äthiopier beklagten sich, von der Polizei wegen ihrer Hautfarbe wie „Freiwild“ behandelt zu werden. In dem Interview dementierte Erdan diese Darstellung. Der Tod des Salomon Taka durch den Warnschuss des bislang namentlich nicht genannten Polizisten sei ein „ungewöhnlicher und sehr bedauerlicher Zwischenfall“ gewesen, der weiter untersucht werde. Klar sei inzwischen, dass Taka nicht „gezielt erschossen“ worden sei.

Im Rundfunk kamen am Morgen auch Polizeioffiziere aus der Tel Aviver Gegend zu Wort. Es gebe ein delikates Abwägen zwischen „freier Meinungsäusserung“ und hartem Durchgreifen im Falle von gesetzwidrigem Verhalten. Unter Strassensperrungen und den Demonstrationen leide dann die gesamte Bevölkerung, doch das sei der Sinn der Ausschreitungen: den Bürgern des Staates eine klare Botschaft zu übermitteln. In einem demokratischen Land müsse das gestattet sein. Der Offizier beklagte sich über Steinwürfe, durch die sogar Pferde der berittenen Polizei verletzt worden seien. Der Offizier rief die äthiopische Gemeinde auf, jetzt die Lage wieder zu beruhigen.

Mehrere Stunden nach den Unruhen erklärte Premierminister Benjamin Netanyahu: “Wir alle trauern um den tragischen Tod des jungen Salomon Tekah. Wir schliessen die Familie in unsere Arme. Wir sind mit der äthiopischen Gemeinschaft verbunden. Es ist mir wichtig; es ist uns wichtig. Das sind keine blossen Worte.”

Familie und Freunde trauern während der Beerdigung von Solomon Tekah in Kiryat Haim am 2. Juli 2019. Foto Yonatan Sindel/Flash90
Familie und Freunde trauern während der Beerdigung von Solomon Tekah in Kiryat Haim am 2. Juli 2019. Foto Yonatan Sindel/Flash90

“Ich weiss, dass es Probleme gibt, die es zu lösen gilt. Wir haben hart gearbeitet und müssen noch mehr tun, um sie zu lösen. Aber ich bitte euch um eine Sache. Hört auf, die Strassen zu blockieren. Wir sind ein Rechtsstaat; wir werden die Blockade von Strassen nicht tolerieren. Ich bitte euch, lasst uns die Probleme gemeinsam lösen, aber gleichzeitig die Gesetze einhalten”, sagte Netanyahu.

Mehr als 135.000 Juden äthiopischer Herkunft leben in Israel. Die Einwanderer kamen in zwei Hauptwellen 1984 und 1991 an.

Über Ulrich W. Sahm

Ulrich W. Sahm, Sohn eines deutschen Diplomaten, belegte nach erfolgtem Hochschulabschluss in ev. Theologie, Judaistik und Linguistik in Deutschland noch ein Studium der Hebräischen Literatur an der Hebräischen Universität in Jerusalem. Seit 1975 ist Ulrich Sahm Nahost-Korrespondent für verschiedene deutschsprachige Medien und berichtet direkt aus Jerusalem.

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