Schawuoth: Die Vorfahren von Boaz und die Nachkommen von Ruth

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Foto Daniel Majewski. CC BY-SA 3.0, Wikimedia Commons.
Lesezeit: 6 Minuten

Viele Kindheitserinnerungen hängen mit dem Fest Schawuoth zusammen: Geruch und Geschmack von Käsekuchen, eine schlaflose Nacht und die ersten Sonnenstrahlen auf den gelben Seiten alter Bücher, nachdem das feierliche Schacharit-Gebet im Morgengrauen vollendet wurde. Unvergesslich bleibt die wundervolle Erzählung über die Moabiterin Ruth, die barfuss über die sonnengetränkte Gerstenfelder geht und Ähren sammelt. „Ich habe aber keine Erinnerungen! Ich habe kein Schawuoth als Kind gefeiert!“ – Seufzt mancher Leser und wird neidisch auf diejenigen, die in den mächtigen Strom der dreitausendjährigen Überlieferung hineingeboren wurden.

Nicht doch, lieber Leser! Sie sollen nicht neidisch werden, sondern beneiden werden, weil ihnen vergönnt wurde, in die Fussstapfen von Ruth zu treten. David Melech Israel Chai weKajam – „der König David lebt ewig!“ Genauso unsterblich ist seine Grossmutter Ruth, die in jeder Person weiterlebt, die im erwachsenen Alter das Judentum entdeckt, bis eine Stimme aus ihrem Herzen ruft: „Dein Volk ist mein Volk. Dein G-tt ist mein G-tt!“

Der Weg zu etwas Höherem

„Was hat überhaupt die Ruth-Rolle mit dem Fest der Erstlingsfrüchte zu tun?“ – fragt der uralte Midrasch Ruth Rabba. Die Suche nach Antwort führt uns in die graue Vorzeit vor der Offenbarung am Berge Sinai, in die Epoche, in der die Vorfahren von Boaz genauso wie er Bauern waren, aber im Unterschied zu ihm noch nichts von der Knechtschaft in Ägypten, von dem Exodus und von der Offenbarung gehört haben. Die sogenannten drei Wallfahrtsfeste waren ursprünglich Erntedankfeste. Am Pessach dankte man G-tt für die erste Getreideernte, nämlich die Gerste. Am Schawuoth feierte man die Ernte der zweiten Getreideart, die später reif wurde, aber dafür nahrhafter war – den Weizen. Dieser landwirtschaftliche Aspekt der biblischen Feste ist in den 2000 Jahren Exil allmählich in den Hintergrund getreten. Ursprünglich war die religiöse Facette der Feste mit ihrer bodenständigen landwirtschaftlichen Facette untrennbar verbunden und erfüllte sie mit Geist. Am Pessach brachte man eine sehr einfache Opfergabe als Dank für die Ernte: geröstete Gerstenkörner, die eher als Futter für Vieh als Nahrung für Menschen geeignet waren. Dann zählte man sieben vollständige Wochen bis zum Fest Schawuoh, bis zur Ernte der Weizen, der Menschennahrung. Die sieben Woche zwischen Pessach und Schawuoth waren die intensivste, anstrengendste Zeitspanne im Bauernkalender: Die langen Sommertage waren voll mit der schwersten Feldarbeit. Wird der Bauer in den kurzen, heissen Nächten vergessen zu zählen, wie viele Tage seit Pessach vergangen sind? Zwischen seinem Vieh und seinen Feldern hin und her rennend, wird er vergessen, dass er, der Mensch, sich vom Vieh unterscheidet, indem er nicht nur an das Fressen denken soll, sondern den g-ttlichen Funken, den Geist in sich trägt? Nein! Wird er nicht vergessen! Nachdem er jede einzelne Nacht, physisch erschöpft und geistig erhaben, die Zählung von Omer (die Tage zwischen Pessach und Schawouth) als heilige Pflicht erfüllt hat, steht der Bauer am 50. Tag, am heiligen Wochenfest Schawuoth, als Mensch vor G-tt und bringt die aufwendigste aller Opfergaben: die süssen Chaloth – Hefebrote aus dem Weizenmehl, die perfekte Menschennahrung. Zwischen Pessach und Schawuoth, zwischen der Opfergabe der gerösteten Gerstenkörner und der Darbringung der Hefebrote liegt eine tiefe Kluft von sieben Wochen, gleichsam sieben Entwicklungsstufen – die tiefe Kluft zwischen Vieh und Mensch. Auf der religiösen Ebene wird die gleiche Kluft zwischen Exodus und der Offenbarung zu Sprache gebracht: Hat G-tt uns nur dafür aus der Knechtschaft Ägyptens herausgeführt, damit wir nur Felder bestellen, Vieh züchten und satt werden? Etwa dafür, dass ein Hebräer aus dem Knecht Pharaos zu dem Knecht seiner Herden, seiner Olivenhaine und Weinberge werde? Nein! Wir erinnern uns mitten in der schwersten Landwirtschaftsarbeit daran, dass der materielle Wohlstand kein Selbstzweck ist, genauso wie die Befreiung aus der ägyptischen Knechtschaft kein Selbstzweck war, sondern der Weg zu etwas Höherem. Dem Aufstieg aus dem Niltal zu dem Berg Sinai entspricht der Aufstieg aus der Gefangenschaft des Physischem, des Körperlichen hin zu dem Geistigen, zu der Tora.

Werden wir, die Menschen des 21. Jahrhunderts, in der Hektik zwischen unserem PC und Smartphone, zwischen unserem Bankkonto und Auto, zwischen Arbeit und Haushalt vergessen, dass diese Dinge kein Selbstzweck, sondern nur Werkzeuge sind, mit denen wir ein höheres Ziel erreichen können? Um dieses Ziel in den Augen zu behalten, müssen wir nicht nur Nachkommen des mächtigen Grossbauern Boaz sein, sondern auch geistige Nachfahren der Moabiterin Ruth.

Es wird nicht darüber berichtet, wie Ruth betete oder Tora studierte. Es wird nur erzählt, wie sie Getreideähren sammelte, um ihre alte Schwiegermutter zu ernähren – ein Sinnbild des Materiellen, das mit Geist erfüllt wird. Ruth sagte zu Naomi „Dein Volk ist mein Volk und dein G-tt ist mein G-tt!“ Mutige Worte aus dem Munde einer Moabiterin. Aber auch die Menschen, die von der jüdischen Mutter geboren wurden, stehen immer wieder vor einer mutigen, persönlichen Entscheidung: Ist es wirklich mein Volk? Werde ich mit diesem Volk jede Entbehrung und jede Gefahr teilen? Und ist es mein G-tt, dem ich bedingungslos diene werde? Werde ich IHM treu bleiben in der Welt, die mit kleinen Göttern aus Gold und Silber voll ist?

Die Kraft der Erneuerung

Wer ist wirklich jüdisch? „Wessen Mutter jüdisch ist!“ – sagt die Halacha, das jüdische Gesetz. „Wessen Urenkelkinder immer noch jüdisch sind“ – sagt der Geist der jüdischen Geschichte. Wer in das Judentum hineingeboren wurde, ohne ähnlich wie Ruth, die persönliche Offenbarung, die persönliche Übergabe der Tora innerlich zu erleben, zehrt von alten Vorräten. Diese Vorräte reichen vielleicht für ein Paar Generationen, bis die Assimilation siegt. Die Urenkel der Menschen, die sich heute nicht um das Judentum bemühen, werden vielleicht nicht mehr wissen, dass ihre Urgrosseltern jüdisch waren. Die Urenkel der Menschen, die heute zum Judentum übertreten, werden nicht mehr wissen, dass die Urgrosseltern ursprünglich Moabiter waren… Oder werden sie es doch, wissen, weil die weise rabbinische Tradition dieses Wissen sorgfältig weiterträgt? Das Wissen darüber, dass die Grossmutter des König David dasselbe getan hatte, was das ganze Volk Israel am Fusse des Berges Sinai tat: Die Tora empfangen.

In unseren Täglichen Gebeten sagen wir zu G-tt: Elokejnu we Eloke Awotenu „Unser G-tt und G-tt unserer Vorfahren.“ Das sind zwei Seiten der Medaille, zwei grosse Säulen des Judentums: Die Kraft der Tradition und die Kraft des freien Willen, der persönlichen Entscheidung. Auch diejenigen, deren Vorfahren seit unzähligen Generationen jüdisch sind, haben die Pflicht, sich um das Judentum so zu bemühen, als ob sie das erste Glied in der Kette wären und die Zukunft der kommenden Generationen nur von ihrem Denken, Glauben, Fühlen und Handeln abhängt. Auch diejenigen, die keine jüdischen Vorfahren haben, erhalten die Möglichkeit, ein Teil des Volkes Israel zu werden und tatsächlich zu solch einem ersten Glied einer langen Kette zu werden.

Das sind die zwei Seiten des Festes, die in einfachen, aber unendlich weisen Sitten und Bräuchen verkörpert werden: Der unvergessliche Käsekuchen von der Grossmutter- die Kraft der Tradition. Das Lernen der Tora bis zum Sonnenaufgang – die Kraft der Erneuerung.

Chag Sameach!

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Über Elijahu Tarantul

Rabbiner Elijahu Tarantul hat Erfahrung als Gemeinderabbiner, Lehrer und Dozent und ist zur Zeit unter anderem als Maschgiach (Aufsicht über koschere Lebensmittel) in einer Pflegeresidenz in der Schweiz tätig.

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