Israels Politik ist ein Beispiel für ein Problem vieler westlicher Demokratien: Die Parteienlandschaft splittert sich immer mehr auf. Ein Gesetz verhindert aber, dass Israel unregierbar wird.
Der Wahlkampf für die Parlamentswahlen am 9. April hat noch nicht einmal begonnen, und dennoch scheint es bereits als könne Israels Politik gar nicht mehr spannender werden. In nur wenigen Wochen wurde die politische Landkarte vollkommen neu gezeichnet, oder besser gesagt, auf verwirrende Weise zerstückelt. Zuerst gründete der ehemalige Generalstabchef Benny Gantz, eine der populärsten Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens, eine neue Partei der Mitte. Dabei gibt es bereits mindestens vier solcher Wahllisten.
Dann verliessen die beiden Führer der Partei „HaBajit haJehudi“ (Jüdisches Heim), einer der wichtigsten Koalitionspartner Benjamin Netanjahus, ihre eigene Partei, um ihre eigene Wahlliste „die neue Rechte“ zu gründen. Danach annullierte der Chef der Arbeiterpartei in einer live Übertragung völlig überraschend seine Partnerschaft mit der ehemaligen Aussenministerin Tzippi Livni, und spaltete so das linke Lager. Als wäre es damit nicht genug, trat kurz darauf einer der bekanntesten arabischen Politiker aus der arabischen Partei aus, um ebenfalls mit einer eigenen Liste anzutreten, während ein anderer Ex-General ebenfalls eine neue Partei ins Leben rief.
Israels Wahlen 2019 scheinen ein Meilenstein der Landesgeschichte zu werden. Schon heute fällt Israels Parlament im weltweiten Vergleich durch eine Vielzahl kleiner Parteien auf, die darin vertreten sind. Die beiden grössten Parteien zusammen verfügen nur über 45 Prozent der Mandate. Die Regierungspartei Likud ist eine Minderheit in ihrer eigenen Koalition. Doch jetzt eskaliert die Lage weiter.
Wird Israel unregierbar?
Noch nie war die politische Landschaft so zerklüftet. Ausser Netanjahus Likud Partei, die laut Umfragen mit 30 von 120 Sitzen in der Knesset zur grössten Fraktion im kommenden Parlament werden dürfte, wird keine politische Kraft mehr als ein Sechstel der Stimmen auf sich vereinigen können. Dafür werden in rund 90 Tagen wohl mehr kleine Splitterparteien denn je in die Knesset einziehen, wobei die meisten es nur knapp über die Prozenthürde schaffen dürften. Die Formierung einer Koalition wird so schwerer denn je. Wird Israel unregierbar? Führen die nächsten Wahlen ins Chaos?
„Was in Israel geschieht ist ein extremes Beispiel eines weltweiten Phänomens“, sagt Dr. Gayil Talshir, Politologin an der Hebräischen Universität in Jerusalem. Wie die meisten ihrer Kollegen sieht sie in einem alten Gesetz den Auslöser für die Entwicklung hier im Land: Nach Jahrzehnten politischer Instabilität, in denen Regierungen immer wieder vorzeitig stürzten, führte Israel in den 1990er Jahren die Direktwahl des Regierungschefs ein. So sollte der Premier mehr Macht erhalten und nicht mehr erpressbar sein.
Statt das System zu stabilisieren geschah jedoch das Gegenteil: „Israelis wählten mit ihrer zweiten Stimme nicht die Partei des Premiers, sondern kleine Nischenparteien, die besser zu ihren Überzeugungen passten. So atomisierte sich die Parteienwelt“, erklärt Talshir. Die Direktwahl wurde daraufhin 1999 wieder abgeschafft, doch „die Treue zu den grossen Parteien war gebrochen, das Wahlverhalten kehrte nicht mehr zu den alten Mustern zurück.“ Jetzt nehme die Wahlbeteiligung beständig ab, Wähler identifizierten sich nicht mehr mit den grossen, ideologischen Parteien. Ein ähnlicher Trend sei nun überall in der westlichen Welt zu beobachten, wenn auch aus anderen Gründen.
Vom Niedergang der Parteien profitieren andere, neue Hoffnungsträger, sagt Professor Gideon Rahav vom Israel Democracy Institute, ein liberaler Thinktank: „Wähler stimmen inzwischen für Einzelpersonen, meistens Prominente, die in die Politik wechseln.“ Einst brauchte man Parteien, um Wähler zu mobilisieren. Doch moderne Technologien haben diese Abhängigkeiten aufgehoben. „Man braucht weder Parteiapparat noch Aktivisten, um das Volk zu erreichen“, so der Politologe, und zieht als Beweis Zahlen aus dem im Internet heran: „Netanjahus Facebookseite hat mehr als 1,8 Millionen Likes, seine Partei nur 19.152. Daraus ergibt sich die Frage: Was wäre der Likud ohne Netanjahu?“
Die Einführung kostspieliger und aufwendiger Vorwahlen in vielen israelischen Parteien, die in den neunziger Jahren als Demokratisierungsprozess bejubelt wurde, trug ebenfalls zur Atomisierung der Parteienlandschaft bei. Statt sich innerhalb der Parteien hoch zu kämpfen, gründen Prominente neue politische Parteien „um nach den Wahlen eine bessere Verhandlungsposition zu haben wenn es um Ministerposten oder staatliche Gelder geht“, sagt Rahav. Diese neuen Wahllisten der politischen Mitte sind im Gegensatz zu den alten Parteien nicht demokratisch strukturiert: „Dort gibt es keine Wahlen, alles wird vom prominenten Parteigründer allein bestimmt. Sie sind Instrumente zur Machtergreifung.“
Rahav und Talshir besorgt dieser Trend aus mehreren Gründen: „Die Debatte über komplexe politische Themen wird immer flacher. Es geht nur noch um Personen, nicht Sachlagen. Und bei den meisten Politikern weiss man gar nicht mehr, für was sie eigentlich stehen“, so Talshir. Das beste Beispiel ist der Ex-General Gantz, der nach Netanjahu in Umfragen der zweitbeliebteste Politiker. Dabei gab er bislang kein einziges Interview, noch veröffentlichte er ein Parteiprogramm.
Sicherheit dank konstruktivem Misstrauensvotum
Die Personalisierung der Politik hat einen weiteren, bedrohlichen Nebeneffekt. Sie bedrohe Rechtstaatlichkeit und Demokratie, vor allem im Falle von Premier Netanjahu, der in drei Korruptionsaffären angeklagt werden könnte, meint Rahav: „Es ist ihm gelungen, seine Anhänger zu überzeugen, dass ihr Einfluss an sein Schicksal geknüpft ist. Sollte er fallen, verlöre das rechte Lager die Macht.“
Trotz alldem glauben aber Talshir und Rahav, dass Israel regierbar bleiben wird. Das hat das Land einem einzigen Gesetz zu verdanken: das konstruktive Misstrauensvotum. Will die Opposition die Regierung stürzen, kann sie das nur wenn sie am selben Tag eine alternative Regierung präsentiert, oder Neuwahlen herbeiführt. „Es ist aber extrem schwierig, alternative Koalitionen zu bilden. Und da die Parteien so klein sind, wollen die meisten Abgeordneten keine Neuwahlen, weil sie fürchten müssen, an der Prozenthürde zu scheitern“, erklärt Rahav.
Und so gelang Netanjahu diesmal etwas, was vielen Vorgängern seit Jahrzehnten verwehrt blieb: fast die vollen vier Jahre seiner Amtszeit an der Macht zu bleiben. Daran, so schätzen die Experten, wird sich in absehbarer Zukunft wohl nichts ändern – allen Schwierigkeiten zum Trotz.
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