Warum wir die jüdischen Flüchtlinge aus arabischen Ländern nicht vergessen dürfen

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Jüdische Flüchtlinge im Transitlager Ma'abarot, 1950. Foto Von Jewish Agency for Israel - https://www.flickr.com/photos/jewishagencyforisrael/4068140175/in/set-72157622639806938?edited=1, Gemeinfrei, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=9641908
Jüdische Flüchtlinge im Transitlager Ma'abarot, 1950. Foto Von Jewish Agency for Israel - https://www.flickr.com/photos/jewishagencyforisrael/4068140175/in/set-72157622639806938?edited=1, Gemeinfrei, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=9641908
Lesezeit: 4 Minuten

Linda Hakim brach 1970 aus dem Irak nach London auf. Aber sie konnte sich nie von der Furcht befreien, die sie spürte, während sie als Jüdin aufwuchs. Sie hörte den Mob in Bagdad nach dem Sieg Israels im Sechstagekrieg schreien: „Tod Israel, Tod den Juden“. Sie entkam einem Lynchmob nur dadurch, dass ihr Schulleiter schnell reagierte und sie und eine Gruppe von jüdischen Schülern in seinem VW Käfer versteckte.

von Lyn Julius

Sie wird nie die Fernsehübertragung von neun unschuldigen Juden vergessen – einige davon noch Teenager – deren Leichen 1969 auf dem Hauptplatz Bagdads am Galgen hingen, während Hundertausende sangen und rund um die Toten tanzten.

Selbst als ihre Familie in das Flugzeug nach London stieg und ihr Zuhause und ihre Besitztümer zurückliess, konnten sie ihre Wachsamkeit nicht aufgeben. Die irakische Polizei verhaftete einen Klassenkameraden von Linda und führte ihn aus dem Flugzeug. Noch heute beginnt Lindas Herz jedes Mal zu rasen, wenn sie eine Polizeiuniform sieht.

Linda fand in England einen Zufluchtsort und ihre Kinder wuchsen in einem Umfeld der Freiheit, Toleranz und Akzeptanz auf. Aber in ihrer Besessenheit für palästinensische Flüchtlinge, hat die Welt nie das Trauma erkannt, das eine grössere Zahl jüdischer Flüchtlinge aus 10 arabischen Ländern und dem Iran nach 1979 durchlebt hat – Verstösse gegen Menschenrechte, Raub in organisierter Form, Beschlagnahmung von Eigentum, Internierung und sogar Hinrichtungen. Der ethnischen Säuberung der Juden in der arabischen Welt ging der Verfolgung ihrer Christen, Jesiden und anderer voraus.

Am 23. Juni 2014 verabschiedete die israelische Knesset ein Gesetz, in dem der 30. November (oder ein möglichst nahegelegenes Datum) als offizielles Datum für einen Gedenktag für die Vertreibung von fast einer Million jüdischer Flüchtlinge aus arabischen Ländern und dem Iran in den letzten 70 Jahren festgelegt wurde.

Ruinen der Zentralsynagoge von Aleppo nach dem Aleppo-Pogrom 1947. Foto Public Domain, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=17934349

Das Datum wurde ausgewählt, um an den Tag nach dem Beschluss des UN-Teilungsplans für Palästina im Jahr 1947 zu erinnern. Es kam infolge der blutrünstigen Drohungen von arabischen Führern zu Gewaltausbrüchen gegen jüdische Gemeinden. Die Unruhen führten zur Massenflucht von Juden aus der arabischen Welt, zur Beschlagnahme ihres Eigentums und ihres Vermögens und zur Zerstörung ihrer tausendjährigen, vorislamischen Gemeinschaften. 1979 führte die islamische Revolution dazu, dass vier Fünftel der iranisch-jüdischen Gemeinschaft den Iran verliessen.

Wahrheit und Versöhnung

Heutzutage sind Flüchtlinge oft ein Thema in den Medien. Bis zur massenhaften Vertreibung ganzer Bevölkerungsgruppen durch die Kriege im Irak und in Syrien dachte die Welt jedoch, dass ein „Flüchtling aus dem Nahen Osten“ ein Synonym für einen „palästinensischen Flüchtling“ sei. Jedoch wurden mehr Juden aus arabischen Ländern vertrieben als Palästinenser (850.000 im Vergleich zu 711.000 laut den Statistiken der UN).

Diese Menschen und deren Nachkommen machen mehr als die Hälfte der heutigen jüdischen Bevölkerung Israels aus. Um des Friedens willen ist es wichtig, dass alle glaubwürdigen Flüchtlinge gleich behandelt werden, doch die Rechte der jüdischen Flüchtlinge wurden nie hinreichend thematisiert. Der Gedenktag im November ist in erster Linie eine Forderung nach Wahrheit und Versöhnung.

“Die Menschen vergessen nur allzu leicht, dass die Juden die ersten Verfolgten waren”

Doch das Problem der jüdischen Flüchtlinge ist nicht einfach nur eine Frage, die es am Verhandlungstisch zu klären gilt. Es ist ein Symptom der tiefen Psychose der arabischen und muslimischen Welt – eine Unfähigkeit, den nicht-arabischen, nicht-muslimischen anderen zu tolerieren.

Heute werden sowohl muslimische Religionsgemeinschaften als auch nicht-muslimische Minderheiten in der arabischen und muslimischen Welt verfolgt, doch die Menschen vergessen nur allzu leicht, dass die Juden die ersten Verfolgten waren. Ein arabisches Sprichwort besagt:„Zuerst die Samstagsleute, dann die Sonntagsleute.“. Und damit hört es noch nicht auf. Ein Staat, der seine Minderheiten verschlingt, verschlingt am Ende sich selbst.

Diese arabische/muslimische Psychose ist das Produkt fundamentalistischer Ideologien, viele davon inspiriert von den Nazis, die sich in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts etabliert haben. Diese ideologischen Kräfte hinterliessen ein Erbe des staatlich sanktionierten Fanatismus und religiös-motivierten Terrorismus.

Heute gibt es keine jüdischen Flüchtlinge – sie wurden erfolgreich in Israel und den Westen integriert. Sie haben ihr Leben still wieder aufgebaut. Sie haben keine hohen Erwartungen bezüglich Entschädigungen. Doch die ehemaligen Flüchtlinge fordern ihren Platz in der Erinnerung und der Geschichte.

Diesen November finden überall auf der Welt Gedenkfeiern statt – in Genf, Oslo, London, Tel Aviv, New York – mit Konferenzen, Filmvorführungen und Diskussionen.

Es ist das Mindeste, was wir für Linda tun können.

Die in Grossbritannien geborene Tochter irakisch-jüdischer Flüchtlinge, Lyn Julius, gründete Harif, die britische Vereinigung der Juden aus dem Nahen Osten und Nordafrika. Die Journalistin und Bloggerin ist Autorin des neu erschienenen Buches: “Uprooted: How 3000 Years of Jewish Civilization in the Arab World Vanished Overnight”

2 Kommentare

  1. Ein guter, ein wichtiger Artikel!

    Gut und wichtig für die Opfer
    und diejenigen, die mit ihnen fühlen wollen.

    Gut und wichtig aber auch für die Diskussion
    mit denjenigen,
    die sich entschieden haben, die Juden zu ihrem Feindbild machen zu wollen.

    Der Artikel befasst sich ausdrücklich mit den Juden,
    die aus arabischen Ländern fliehen mussten
    – vor und nach dem 2. Weltkrieg.
    Erinnern möchte ich aber auch an die Juden,
    die aus ihren Heimatorten im damaligen Britisch-Palästina
    vor dem Hass der Araber fliehen mussten.
    Aus Hebron beispielsweise:
    die Briten sagten noch zu, sie würden auf die Häuser und die Synagogen
    der Juden achten;
    zu ihrer Sicherheit aber sollten sie erst einmal in andere Städte gehen.
    Anschließend liessen die Briten zu,
    dass die Araber sich über Hab und Gut und Immobilien der Juden,
    die von den Briten fortgewiesen worden waren, hermachen konnten.

    Viele junge Juden halten Israel für eine Selbstverständlichkeit,
    für etwas, wovon man Teile verschenken oder die man
    “für den Frieden” opfern sollte/könnte.
    Niemand neben den Opfern der Vertreibung benötigt
    den Gedenktag mehr als diese Gutmenschen unter den Juden!

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