Libermans Rücktritt und die naive Suche nach Frieden

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Der israelische Verteidigungsminister Avigdor Liberman trifft zu seiner Pressekonferenz in der Knesset ein. Foto Flash90
Der israelische Verteidigungsminister Avigdor Liberman trifft zu seiner Pressekonferenz in der Knesset ein. Foto Flash90
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In den 25 Jahren seit der Unterzeichnung des Osloer Abkommens im September 1993 hat nur eine der zehn seither amtierenden israelischen Regierungen ihre gesamte Amtszeit vollendet.

 

von Efraim Karsh

Es ist schon eine Ironie der Geschichte, dass der Rücktritt von Verteidigungsminister Liberman in der vergangenen Woche kurz auf den 23. Jahrestag der Ermordung von Jitzchak Rabin folgte – kann dies doch eindeutig als das letzte Opfer des „Friedensvermächtnisses“ des ermordeten Premierministers angesehen werden. Nicht nur, weil die politische Entscheidung Libermans durch den jüngsten Flächenbrand im Gazastreifen ausgelöst wurde – der Gazastreifen, der sich durch den Osloer „Friedensprozess“ in eine unausrottbare terroristische Einheit verwandelt hat, die Tausende von Israelis ermordet, verstümmelt und unzähligen anderen das Leben zur Hölle gemacht hat – sondern auch, weil der Prozess das politische System Israels destabilisiert und den Launen der palästinensischen Führung unterworfen hat.

In den 25 Jahren seit der Unterzeichnung des Osloer Abkommens im September 1993 hat nur eine der zehn seither amtierenden israelischen Regierungen ihre gesamte Amtszeit vollendet. Eine Amtszeit endete dabei mit der beispiellosen Ermordung des damals amtierenden Premierministers. Inzwischen ist die durchschnittliche Lebensdauer des Parlaments von dreieinhalb Jahren auf drei Jahre gesunken. Eine nie zuvor dagewesene Anzahl von Parteien wurde bislang gebildet, auseinandergerissen und wieder aufgelöst.

Da der Konflikt mit den palästinensischen Arabern fast ein Jahrhundert lang die Wiedergeburt der jüdischen Nation erschwert hatte, war es nur natürlich, dass die vermeintliche Verheissung seiner bevorstehenden Lösung unter den israelischen Juden eine Welle der Euphorie auslöste. Über ein Jahr lang ignorierten sie die lange Spur von Blutvergiessen und Zerstörung, die auf das Oslo-Abkommen folgte und deren unzählige Opfer von Rabin auf infame Weise als „Opfer des Friedens“ bezeichnet wurden. Erst Ende Januar 1995 wurden sie von den ausgelassenen Feierlichkeiten anlässlich eines Selbstmordattentats, bei dem 19 Israelis ermordet wurden, aus ihrer Selbsttäuschung herausgerüttelt. Der Vorsitzende der PLO, Jassir Arafat, widersetzte sich öffentlich Rabins Bitte, die Gräueltat zu verurteilen.

Am 4. November 1995, dem Tag seiner Ermordung, lag Rabin in den meisten Umfragen hinter Benjamin Netanjahu. Während dieser Trend durch das Attentat und die anschliessende landesweite Entrüstung sofort wieder umgekehrt wurde, wurde er Anfang März 1996 durch eine Reihe von Terroranschlägen wiederhergestellt, bei denen innerhalb einer Woche 58 Israelis ermordet wurden und die Netanjahu zwei Monate später in das Amt des Premierministers katapultierten.

Die Sehnsucht der Israelis nach Frieden war jedoch so gross, dass viele von ihnen die sich häufenden Beweise für die Niedertracht der PLO weiterhin ignorierten und Netanjahus Beharren auf die Einhaltung der PLO ihrer Verpflichtungen als Hindernis für den „Frieden“ betrachteten. Und so kam es, dass trotz des drastischen Rückgangs terroristischer Todesfälle unter seiner Verantwortung – von 210 während der Regierungen von Rabin-Peres auf 72 – genau drei Jahre nach Erreichen der Amtszeit als Premierminister, auf dem Gipfel der Ernüchterung über den palästinensischen „Friedenspartner“, Netanjahu infolge einer neu aufkeimenden Hoffnung auf die Wiederherstellung dieser „Partnerschaft“ aus dem Amt gedrängt wurde. Dass eine von mörderischen Terroranschlägen geprägte Periode (Rabin-Peres, 1993–1996) erneut als „Friedensprozess“ missverstanden wurde, während eine durch verminderten Terrorismus und verbesserte sozioökonomische Umstände in den palästinensischen Autonomiegebieten geprägte Zeit (Netanjahu 1996–99) als friedensfeindlich empfunden wurde, war ein bedauerliches Zeugnis der kognitiven Dissonanz der meisten Israelis zu dieser Zeit.

Innert Kürze hatte Premierminister Ehud Barak von der Arbeiterpartei (1999-2001) jedoch seinen Nutzen für Arafat verloren und war gezwungen in die unglücklichen Fussstapfen seines Vorgängers zu treten. Es folgte der vierte von den Palästinensern ausgelöste Premierministerwechsel in Israel innerhalb von sechs Jahren.

Als Ehud Barak im Juli 2000 auf dem von den Vereinigten Staaten einberufenen Friedensgipfel in Camp David praktisch das gesamte Territorium des Westjordanlandes und des Gazastreifens an den aufstrebenden palästinensischen Staat abgab und in Bezug auf Jerusalem spektakuläre Zugeständnisse machte, war Arafats Reaktion ein totaler Terrorkrieg, der sich in einer Welle lokaler Gewalt entlud, die in ihrem Umfang und ihrer Intensität seit dem Versuch, die Gründung eines jüdischen Staates im Jahr 1948 zum Scheitern zu bringen, unübertroffen gewesen war.

In einem verzweifelten Versuch, seine wankende Herrschaft zu retten, akzeptierte Barak die vorgeschlagenen Zugeständnisse von Präsident Clinton (Dezember 2000), die Arafat von vornherein ablehnte. Auf dem Gipfel im Januar 2001 im ägyptischen Erholungsort Taba am Roten Meer machte Barak weitere Zugeständnisse, die, nach palästinensischer Darstellung, die Anerkennung des „Rückkehrrechts“ – das palästinensische Schlagwort für die Zerstörung Israels durch demographische Subversion – beinhalteten. Die Lage war dadurch allerdings nicht zu retten: am 6. Februar 2001 erlitt Barak die schlimmste Wahlniederlage in der Geschichte Israels und wurde im Amt des Premierministers durch den Vorsitzenden des Likud, Ariel Sharon, ersetzt.

Der kontinuierliche Rückgang der Arbeiterpartei
Diese Niederlage war in erster Linie ein Misstrauensvotum gegen Baraks Fähigkeit, den Konflikt mit den Palästinensern zu bewältigen, so wie sein überwältigender Sieg zwei Jahre zuvor eine Anklage für Netanjahu gewesen war. Zugleich war es ein Zeichen für den unaufhaltbaren Niedergang der Arbeiterpartei. So wie das Versäumnis der Partei, den Oktoberkrieg von 1973 vorauszusehen, zum ersten Mal seit der Gründung des Staates Israel zu Machtverlust geführt hatte, versetzte der blutige Zusammenbruch des Osloer Prozesses ihrem Streben nach nationaler Führung einen tödlichen Schlag.

1992 hatte die Arbeiterpartei unter dem Vorsitz von Rabin die Wahlen mit einer grossen Mehrheit von 44 Sitzen gewonnen, während der Likud auf lediglich 32 Sitze gekommen war. Bis 1999 war die parlamentarische Vertretung der Arbeiterpartei auf 26 zurückgegangen (obwohl der Likud infolge der ausgedehnten Ernüchterung in Bezug auf Netanjahu einen ähnlichen Rückschlag erlitten hatte). Die Arbeiterpartei schrumpfte 2003 auf 19 Sitze (die Hälfte der Likud-Sitze) und 2009 auf nur noch 13 Sitze. Und obwohl es der Arbeiterpartei durch den Zusammenschluss mit einer neu gegründeten Partei gelang, sich bei den Wahlen im Jahr 2015 teilweise wieder zu erholen, hat sie seit der Niederlage von Barak im Jahr 2001 die nationale Führung nicht zurückerobern können. Im Gegensatz dazu hat der Likud im Laufe der Zeit vier Wahlsiege erzielt (2003, 2009, 2013 und 2015).

Selbst die einzige Wahlniederlage des Likud in diesen Jahren – im Jahr 2006, als er auf lediglich 12 Sitze in der Knesset reduziert wurde – war eher eine formale als eine inhaltliche Angelegenheit, die auf die Trennung Sharons und zahlreicher anderer Spitzenpolitiker von der Partei sowie die Gründung der Kadima-Partei (dt. Vorwärts) zurückzuführen gewesen war. Sharon war kurz vor den Wahlen von 2006 durch einen Schlaganfall ausser Gefecht gesetzt worden. Dennoch reichte seine aufstrebende Popularität, die er für die Niederschlagung von Arafats Terrorkrieg erlangt hatte, aus, um Ehud Olmert (2006-2009), seinen zufälligen Nachfolger, ins Amt des Premierministers zu katapultieren und der Kadima zu ermöglichen, die folgenden Wahlen im Jahr 2009 mit nur minimalem Vorsprung zu gewinnen (obwohl es der Likud war, dem die Regierungsbildung gelang), nur, um bei den Wahlen von 2013 wieder in Vergessenheit zu geraten.

Und genau darin liegt das grösste von Oslo ausgelöste politische Debakel. Während das vielfältige politische System Israels von der ersten Stunde seiner Gründung an den Aufstieg und Abstieg der sektoralen Parteien erlebte, erfuhr die Verbreitung von „Stimmungsparteien“ – die von der allgemeinen Sehnsucht nach Veränderung lebten, während sie gleichzeitig den politischen Ambitionen ihrer Gründer dienten – in den Osloer Jahren, in denen Israels einst führende Likud-Partei rasch in die Bedeutungslosigkeit verfallen war, bislang unbekannte Höhenflüge.

Die kognitive Dissonanz zwischen der Erkenntnis der palästinensischen Perfidie und der anhaltenden Sehnsucht nach Frieden trieb viele Israelis dazu, sich an die neuesten prominenten Hoffnungsträger zu klammern, welche die politische Bühne betraten. So gab es die aufstrebende HaDerech HaSchlischit-Partei (dt.Der Dritte Weg), die 1996 vier Sitze gewann und sich dann drei Jahre später in Luft auflöste. Ihr folgte die Zentrumspartei, die 1999 sechs Sitze gewann, bevor sie bei den Wahlen von 2003 ebenfalls wieder von der politischen Bildfläche verschwand, als eine weitere Partei – Am Echad, (dt. Ein Volk) – für nur eine Amtsperiode ein kurzes und unauffälliges Schattendasein erlebte. Die Shinui-Partei (dt. Partei des Wechsels), ein Ableger der Demokratischen Bewegung des Wandels (DASH), die nur eine Amtsperiode überstand und eine wichtige Rolle im Aufstieg der Likud von 1977 spielte, gewann bei den Wahlen von 1999 und 2003 sechs bzw. 15 Sitze, ehe sie 2006 wieder in der Versenkung verschwand.

Die Kadima-Partei schnitt, wie gesagt, mit dem Sieg als stärkste Partei im Jahr 2006 viel besser ab, erlitt dann bei der Parlamentswahl von 2013 allerdings massive Verluste. Ebenso erging es der Ha-Tnu’a-Partei (dt. Die Bewegung), die von der aus der Likud ausgetretenen und der neugegründeten Kadima-Partei beigetretenen Tzipi Livni gegründet wurde und die bei den Wahlen von 2015 zur Bildung der gemeinsamen Wahlliste Zionistische Union mit der Arbeiterpartei zusammengeschlossen worden war.

Die Jesch Atid-Partei (dt. Es gibt eine Zukunft) unter dem Vorsitz der ehemaligen TV-Persönlichkeit Jair Lapid, die 2013 ein beeindruckendes Debüt gab (19 Sitze, 2015 gesunken auf 11 Sitze), und die Kulanu-Partei (dt. Wir alle), angeführt von Likud-Überläufer Mosche Kachlon, die sich 2015 ins politische Getümmel stürzte (10 Sitze), werden die Wahlen von 2019 vermutlich heil überstehen. Sie werden jedoch sicherlich von den (noch zu gründenden) Stimmungsparteien um Politikerin und Knessetmitglied Orly Levy und den Ex-Generalstabschef der Israelischen Verteidigungsstreitkräfte, Benny Gantz, Hiebe einstecken müssen.

Was besondere Verwirrung hervorruft, ist Gantz‘ zunehmende Beliebtheit obwohl sich die Öffentlichkeit seiner politischen Ansichten und seiner wenig beeindruckenden Militärgeschichte (nach der technischen Disqualifikation des ausgewählten Kandidaten, wurde er automatisch zum Stabschef ernannt) absolut nicht bewusst ist. Wenn überhaupt, erinnert dies an den spektakulären Aufstieg des blauäugigen Chauncey Gärtner in Jerzy Kosińskis Roman „Willkommen Mr. Chance“ (von Peter Sellers in der Filmversion von 1979 verewigt), der die Köpfe der amerikanischen Wirtschaft und des politischen Establishments durch längeres Schweigen, unterbrochen von stumpfen, aber scheinbar bedeutungsvollen Äusserungen für sich gewinnen konnte.

Die nicht ganz unrealistische Möglichkeit, dass einer dieser „stimmungsstiftenden“ Prominenten ins Amt des Premierministers gelangen könnte, ist eine Aussicht, die die Israelis alarmieren sollte und ein trauriges Zeugnis für die Abgründe, in die der Osloer Prozess den israelischen Staat und das politische System getrieben hat.

Der Autor ist Direktor des Begin-Sadat Center for Strategic Studies an der Bar-Ilan-Universität, emeritierter Professor für Nahost- und Mittelmeerstudien am King’s College London und Herausgeber von The Middle East Quarterly. Auf Englisch zuerst erschienen bei The Jerusalem Post. Übersetzung Audiatur-Online.