„Der Schock der Kristallnacht öffnete meinen Eltern die Augen“

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Meine Mutter, Grete Moschytz-Felstenstein mit Michael, Hannelore und George, Freiburg i.Brsg. Foto George Moschytz
Meine Mutter, Grete Moschytz-Felstenstein mit Michael, Hannelore und George, Freiburg i.Brsg. Foto George Moschytz
Lesezeit: 8 Minuten

Kristallnacht, Freiburg im Breisgau am 9. November 1938

 

von George Moschytz

Ich war damals vier Jahre alt, meine drei Geschwister zwischen zwei und neun.

Die vergangenen Monate und Wochen waren von einer zunehmenden Anspannung geprägt gewesen, doch meine Eltern erklärten uns dazu kaum etwas.

Wir wohnten in Freiburg im Breisgau, einer kleinen ‘friedlischen’ Universitätsstadt im Süden Deutschlands, in der von der Kaiserstrasse umgetauften Adolf Hitler Strasse Nr. 29. Mein Vater praktizierte als Lungenspezialist zu einer Zeit, wo die Bevölkerung sich noch vor der Tuberkulose fürchten musste, und er führte eine erfolgreiche Privatpraxis. Seine hauptsächlich nicht-jüdischen Patienten hatten schon lange den vorgeschriebenen gelben Stern neben seinem Namen am Eingang des Hauses weggerissen, damit sie trotz der seit 1935 geltenden Nürnberger Gesetze weiter von ihm behandelt werden konnten. Von unserem Balkon aus konnten wir Militärparaden und die Märsche der Hitlerjugend beobachten. Ich kann mich nur an wenige Details erinnern – das meiste kommt von späteren Berichten meiner Mutter – aber an die straffen, flotten, uniformierten und trommelnden Hitlerjungen kann ich mich noch gut erinnern; sie liessen beim damaligen naiven Vierjährigen einen starken Eindruck zurück.

Mein Vater wurde 1895 in Berlin geboren und führte dort in den ‘guten’ Jahren danach, als orthodoxer deutscher Jude, ein glückliches Leben. Berlin sei das tolerante ‘New York Europas’ gewesen. Noch im Jahre 1938 hatte er das Vertrauen in  die Ur-Vernunft des Volkes von Goethe und Schiller (‘ein guter Mensch in seinem dunklen Drange….’). Er war überzeugt, dass dieser Albtraum in einem halben Jahr oder so vom Volk überwunden werden würde. Und sowieso – wohin hätte er mit seiner Familie auswandern sollen? Deutsch war seine Sprache und seine säkulare Kultur, mit der er sich identifizierte. Er hatte sich unter anderem in die Lehren von Kant und Nietzsche vertieft und war neben seinem Arztberuf auch Schriftsteller und Dramatiker. In Deutschland hatte er im behüteten Schlupfwinkel Freiburgs eine gute mittelständische Existenz für sich und seine Familie aufgebaut. Wie bei so vielen jüdischen Veteranen des ersten Weltkrieges hatte auch er sich im Jahre 1914, gerade mal achtzehn Jahre alt, als loyaler deutscher Bürger freiwillig der Wehmacht des Vaterlandes gestellt. Er wurde darauf im Krieg mit einem Lungenschuss und einer Gasvergiftung schwer verwundet, und mit der Würdigung des Eisernen Kreuzes für seine Kriegsdienste ins deutsche Krieger Sanatorium, im Schweizerischen Davos, zur Genesung geschickt. Es war für ihn und für so viele andere undenkbar, dass das Deutsche Volk ihm oder seiner Familie je etwas antun würde. Diese Illusionen ermöglichten es ihm zuversichtlich zu bleiben und das Grauen einer Auswanderung ins Unbekannte herauszuschieben und sogar ganz zu verwerfen.

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Mein Vater, Norbert Moschytz, Davos. Foto George Moschytz

Meine Mutter, deren Familie seit Generationen in Deutschland lebte, wurde in Leipzig geboren und wuchs dort auf. Sie erlebte ihre Jugend ganz anders als mein Vater. Leipzig war kein tolerantes New York, und sie musste sich bereits in der Primarschule anhören, wie sie und ihre Zwillingsschwester unter anderem als ‘dreckige Judenmädel’ von der Lehrerin beschimpft wurden. Ihr fehlte ganz und gar das unzerstörbare Vertrauen in die Ur-Anständigkeit des Deutschen Volkes; ihre Jugenderinnerungen ausserhalb des Familienkreises waren von Antisemitismus geprägt und erschreckend. Sie hatte keine Illusionen, hinter welchen sie sich vor der unaufhaltsam und offensichtlich näherkommenden Katastrophe hätte verstecken können.

Kurze Zeit vor Mittwoch dem 9. November 1938, hatte meine Mutter ein ungutes Gefühl. Sie spürte, dass etwas Schreckliches auf sie und ihre Familie zukam, und dass, wenn „es“ so weit kommen würde, die Männer zuerst betroffen sein würden. Ich kann mir bis heute nicht erklären, was der Auslöser für diese so richtige, und für uns schicksalshafte Intuition war, welche schliesslich unsere sechsköpfige Familie vor dem sicheren Tod bewahren würde.

Meine Mutter forderte meinen Vater auf, nach Davos zu fahren um sich ‘einer angeblichen medizinischen Kontrolle‘ in Folge seiner im Krieg erleideten Verwundung zu unterziehen.

Er folgte ihren Rat.

Am Abend des neunten Novembers klopften prompt zwei Gestapo-Schergen an unsere Haustür. Sie suchten meinen Vater. Meine Mutter beteuerte, dass er abwesend sei und sich in der Schweiz aufhielte. Das hinderte die SS-Männer nicht daran, sich an ihr vorbei in die Wohnung zu drängen und Zimmer für Zimmer rücksichtslos und grob zu durchsuchen. Vor unserem Zimmer stellte sich meine Mutter vor die Tür und versperrte ihnen den Eintritt: ‘Hier gehen Sie nicht rein, hier schlafen meine vier Kinder’. Meine Mutter, selber eine zierliche und eher schüchterne Frau –  sie war durch eine Kinderkrankheit schwerhörig und zart geblieben – muss wie eine Tigerin vor der Tür gestanden haben. Oder aber waren etwa die SS-Leute in der südlichen Kleinstadt in 1938 noch etwas zurückhaltender als z.B in Berlin oder München? Ich weiss es nicht. Jedenfalls schlugen die Verfolger nicht zu und machten vor meiner entschlossenen Mutter, welche uns schlafenden Kinder schützte, eine Kehrtwende.

Wir Kinder müssen während des Gestapobesuches ruhig weitergeschlafen haben.

Am darauffolgenden Tag kam mein älterer Bruder Michael in Tränen aufgelöst nach Hause gerannt:  die Synagoge stehe in Flammen. Er war damals neun Jahre alt und wie die anderen jüdischen Schüler schon lange aus der öffentlichen Schule herausgeworfen worden. Er kam  an jenem Tag von der spontan und notdürftig in einer Privatwohnung von einer jüdischen Familie organisierten  ‘Schule’  nach Hause – denn sie war angesichts der Ereignisse der Pogromnacht geschlossen geblieben.

Mein Bruder hatte nach dem Krieg sein Leben lang alles Deutsche vermieden. Er hatte den Deutschen die brennende Synagoge und die uns auferzwungene Familientrennung, und vor allem die Trennung des Vaters, nie verziehen. Umso interessanter ist es, dass er vor einigen Jahren gerade am 9. November starb.

Meinem Vater war zu diesem Zeitpunkt endlich die ernste Lage der Juden Deutschlands klar geworden. Noch hatten wir einen gültigen deutschen Familienpass, d.h. ohne das für Juden obligate, eingestempelte ‘J’. Und ohne die von den Deutschen befohlenen Namenszusätze in den Pässen für jüdische Männer und Frauen – „Israel“ für Männer, „Sara“ für Frauen. Mein Vater hatte den Familienpass gerade in der Zeit nach Davos mitgenommen, als die Pässe in Deutschland von jüdischen Bürgern eingesammelt und mit dieser ‘genialen’ SS- Zierde erweitert worden waren.

Michael und meine ältere Schwester – die damals siebenjährige Hannelore, wurden auf Initiative meiner Mutter innert Tage über die naheliegende Schweizer Grenze von einer ehemaligen deutschen Angestellten gebracht. Die Haushilfe und unsere Nachbaren durften später nach Belieben unsere Wohnung samt Arztpraxis ausplündern. Meine Mutter folgte mit mir und der zweijährigen Anita mehrere Wochen später – vermutlich im Februar 1939. Sie schloss die Tür der intakten Wohnung hinter sich. Ob sie dabei wusste , dass sie diese Tür, diese Wohnung, und alles, was darin war, nie wieder sehen würde, weiss ich nicht. Sie reiste als Winter-Touristin gekleidet mit dem gültigem deutschem Pass, den mein Vater ihr irgendwie hatte zukommen lassen, und dem zeitlich begrenzten Schweizer-Ferienvisa autorisiert. In ihrem ‘Feriengepäck’ trug sie die wenigen Wertgegenstände, die sie versteckt hatte, und die sie ohne aufzufallen in die Koffer hineinstopfen konnte: etwas Silberbesteck, samt Schabbat-Leuchter ;möglichst viel Schmuck; ein Paar Fotoalben; und das wenige Bargeld, das sie kurzerhand in der Wohnung auffinden konnte.

Nach Ablauf des genehmigten Ferienaufenthaltes in der Schweiz, und trotz Versuchen der Davoser Behörden eine Verlängerung zu erzielen, hiess es von Bern aus, meine Mutter – die Frau mit dem abgelaufenen Ferien-Visa – und die vier Kinder, müssten sofort die Schweiz verlassen: zurück nach Deutschland – oder wohin auch immer. „Der Vater, als ehemaliger Patient, kann vorläufig bleiben“, hiess es weiter.

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Meine Mutter mit ihren vier Kindern in England während dem Krieg. Foto George Moschytz

Dabei offenbarte sich ein neues Problem: meine zweiundsiebzigjährige Grossmutter väterlicherseits war noch in Berlin. „Ich bin eine alte Frau, mir macht man nichts“, behauptete sie. Mein Vater, der älteste von vier Brüdern, fühlte sich für sie verantwortlich und wollte zurückbleiben, bis sie Deutschland verlassen würde. Doch als dies endlich, und nur durch eine Notlüge erreicht wurde („Ihr Sohn liegt in Davos am sterben, Sie müssen ihn sofort besuchen“), war der Krieg kurz vor Ausbruch. Meine Mutter und wir vier Kinder konnten Dank der Unterstützung von Verwandten, die rechtzeitig Deutschland verlassen hatten, in England untergebracht und versorgt werden. Für meinen Vater war es zu spät. Er musste hinter geschlossener Grenze in der Schweiz bleiben und verbrachte mit seiner Mutter den Krieg in Davos.

Erst zehn Jahre später, also Anfang 1949, konnte sich unsere zu jener Zeit entfremdete Familie in der Schweiz wieder vereinen – aber unter enormen existenziellen und emotionalen Strapazen – vor allem für meine Eltern. Paradox war, dass die Kristallnacht unser Leben gerettet hatte, denn nur durch jene Schreckensnacht wurden wir gezwungen, das Ausmass des Wahnsinns und der Grausamkeit der Deutschen in der „Judenfrage“ zu erkennen, und waren nur dadurch bereit, Deutschland endgültig zu verlassen.

Doch im Vergleich zu allzu vielen Anderen hatten wir Glück. Gemäss Prof. Meier Schwarz wurden vom 7. bis 13. November 1938 etwa 400 Menschen ermordet oder in den Suizid getrieben. Über 1400 Synagogen, Betstuben und sonstige Versammlungsräume sowie tausende Geschäfte, Wohnungen und jüdische Friedhöfe wurden zerstört. Etwa 30’000 jüdische Männer – zu denen mein Vater auch gehört hätte – wurden in Konzentrationslager inhaftiert, und Hunderte wurden ermordet oder starben an den Folgen der Haft. Gemäss Saul Friedländer waren es diese Pogrome der euphemistisch genannten „Kristallnacht“, welche den Übergang signalisierten von der Diskriminierung der deutschen Juden seit 1933, zur systematischen Verfolgung, die knapp drei Jahre später im organisierten Vernichtungsprozess der europäischen jüdischen Männer, Frauen und Kinder mündete.

GG
Meine Mutter, Grete Moschytz-Felstenstein, mit George, in Freiburg i.Brsg. Foto George Moschytz

Es ist mir ein Anliegen, die vielen eigentlichen und meist ungenannten Heldinnen dieser Zeit zu erwähnen. Da sind die unzähligen zurückgebliebenen Frauen, die einerseits zum Teil erfolgreich, sich kollektiv organisierten um ihre abtransportierten Männer aus den Konzentrationslagern zu befreien. Dazu kommt die grosse Anzahl von Frauen, meine Mutter unter ihnen, dessen intuitive Vorahnung und Mut ganze Familien zur Flucht ermutigten und dadurch, unter schwierigsten Bedingungen, das Leben ihrer Familien retteten. Tausende von heute lebenden Menschen haben diesen Frauen ihr Leben zu verdanken.

Die jüdischen Freiburger wurden am 22.Oktober 1940, dem jüdischen Laubhüttenfest, ins französische Konzentrationslager Gurs verschleppt, von wo aus sie später in den Vernichtungslagern ermordet wurden.

3 Kommentare

  1. Unaufgeregt, persönlich und berührend:
    Danke, lieber George Moschytz, für den Einblick in Ihr Familienalbum.
    Remo D. Walder

  2. Lieber Herr Moschytz,
    vielen vielen Dank für das (Mit-) Teilen dieser bei aller Traurigkeit und Tragik dennoch „gut“ ausgegangenen Familiengeschichte, die mich sehr berührt. Ihre Mutter muss eine bemerkenswerte Frau gewesen sein – mutig, klug und liebenswert. Und schön dazu!

  3. Dear Grandpa,
    Thank you so much for writing this and posting it. My web browser translated it, so I can now read the story we heard from you (albeit in bits and pieces) in its full form. I’ll print it out as well.
    Love you and miss you!
    Yehuda, Michelle, and the kids

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