Diese Woche ist es 23 Jahre her, dass Jitzchak Rabin ermordet wurde. Eine ganze Generation, die jungen Erwachsenen von heute, erinnert sich nicht mehr an diese Zeit und die damaligen turbulenten Ereignisse. Die alten und ermatteten Beteiligten am israelisch-palästinensischen Konflikt haben so viele Erschütterungen und Krisen in Folge erlebt, dass das Drama Mitte der Neunziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts den Anschein einer einzigartigen Tragweite verloren hat.
von Yaacov Lozowick
Israelis und Palästinenser waren nicht kurz vor dem Frieden, und Rabin’s Ermordung am 5. November 1995 hat ihn auch nicht verhindert. Den ganzen Sommer 2018 über waren Israel und der von der Hamas kontrollierte Gazastreifen nur um Haaresbreite von einer weiteren Welle der Gewalt entfernt – und sie sind es nach wie vor. Das wäre dann, je nach Zählart, ihre vierte oder achte innerhalb eines Jahrzehnts. Aber nichts von alledem ist das Resultat von Rabins Tod. Sich gedanklich diesen Ereignissen erneut zuzuwenden, ist dennoch aufschlussreich.
Rabin gewann die Wahl vom Juni 1992 nur um Haaresbreite. Es war der erste Wahlsieg des Mitte-links-Bündnisses Israels seit 1977. Kurz darauf begann eine Gruppe nicht autorisierter Professoren hypothetische Verhandlungsgespräche mit einigen Palästinensern. Nach und nach nahm das offizielle Interesse an ihren Gesprächen zu. Als sich Auslandsminister Shimon Peres sicher genug war, Premierminister Rabin davon zu unterrichten, war dieser bereits vom Schin Bet informiert worden und hatte entschieden, sich nicht weiter einzumischen. Im August 1993 wurde das Ganze an die Öffentlichkeit getragen, und im September wurde dann unter nahezu allgemeinem Beifall die als Oslo-Abkommen bekannte Grundsatzerklärung auf dem Rasen des Weissen Hauses unterzeichnet.
Von 1992 bis zu seinem Tod im Jahr 1995 musste Rabin nie wieder den Gang zur den Wahlurnen überstehen, daher verfügen wir nicht über die Aussagekraft von Wahlen, die uns sagen könnten, was damals in den Köpfen seiner Bevölkerung vorging. Dennoch kann man sagen, dass damals das Osloer Abkommen allgemein sehr populär war, auch weit jenseits der Grenzen seiner eigenen politischen Basis. Darüber hinaus sorgte die blosse Tatsache, dass er eher verantwortlich war als etwa andere, weniger vertrauenerweckende Politiker der Linken, dafür, dass seine Beliebtheit und die des Abkommens weiter gefestigt wurde. Ein Grossteil der Israelis wünschte sich unbedingt Frieden mit den Palästinensern. Sie waren bereit, einen hohen Preis dafür zu zahlen, und sie fühlten sich sicher in den Händen des skeptischen alten Generals.
Die Siedler waren entsetzt, ebenso wie Teile der politischen Rechten. Im Laufe des nächsten Jahres veranstalteten sie eine Reihe von Massendemonstrationen, in denen sie vor dem Leichtsinn und den Gefahren warnten, die Israel drohten, wenn es seine Kontrolle über die Palästinenser aufgeben und die Macht an sie selbst übergeben würde. Bis zu den sogenannten „Protesten für soziale Gerechtigkeit“ im Sommer 2011, die sich lediglich über sechs Wochen erstreckten, gab es keine vergleichbaren Demonstrationen. Die Anti-Oslo-Proteste gingen dagegen weiter und weiter. Mit Ende des Jahres 1995 und zu Beginn des Wahljahres 1996 hatte das politische Lager Rabins verstanden, dass es möglicherweise nicht gewinnen könnte und war fest entschlossen, den öffentlichen Raum wieder zurück zu gewinnen. Der erste Massenprotest fand am 5. November statt.
Aufgrund zweier wichtiger Entwicklungen war dies allerdings sehr aufschlussreich. Die erste dieser Entwicklungen war der steile Anstieg tödlicher palästinensischer Terroranschläge auf Israelis seit Beginn des Osloer Prozesses. Im Weissen Haus hatte sich Jassir Arafat öffentlich und explizit von der Anwendung von Gewalt gegenüber Israelis distanziert. Bis Ende des Jahres waren 21 Israelis getötet worden, eine bislang nie dagewesene Anzahl. 1994 war noch schlimmer, ebenso 1995. Die Demonstranten, die „Gebt ihnen keine Waffen!“ skandierten, schienen irgendwie Recht zu haben. Die zweite Entwicklung war Rabins Unfähigkeit, die Legitimität seiner Kritiker anzuerkennen.
Als die Anzahl der Toten Israelis zunahm, versicherten uns Rabin und seine politischen Verbündeten, bei den Toten habe es sich im Gegensatz zu früheren Israelis, die Opfer von palästinensischem Terrorismus geworden waren, um „Opfer des Friedens“ gehandelt. Schliesslich begannen die Menschen, sich zu fragen, ob Friede tatsächlich so eine gute Idee war. Rabin, der anfänglich bei dem Prozess von Oslo ein eher zögerlicher Partner gewesen war, liess seine Skepsis hinter sich und wurde ein eifernder, wahrer Gläubiger. In einer Reihe öffentlicher Kommentare verhöhnte er seine Kritiker, insbesondere, indem er sich auf sie als „drehende Propeller“ bezog, deren Meinung ihm egal wäre, und dies sollte sie uns auch sein. Die hitzige Rhetorik war auf Seiten der Demonstranten noch schlimmer und endete schliesslich in illegaler Aufstachelung. Mit seiner Sturheit und respektlosen Rhetorik machte Rabin das Ganze nicht besser. Ich erinnere mich an eine Reihe von Unterhaltungen mit Freunden und Kollegen in diesen ersten Tagen des November 1995, in denen wir uns fragten, warum die Regierung ein Jahr vor den Wahlen eine Massenkundgebung organisierte: Unsere Meinung war, dass es die Aufgabe der Opposition ist, auf öffentlichen Plätzen zu opponieren, während die Regierung Punkte mit guter Politik macht. Dabei war ich, wohlgemerkt, auf Seiten der Regierung.
Das Trauma der Ermordung war tiefgehend, intensiv und anhaltend. Mit der Zeit ergaben sich jedoch eine Reihe unvorhersehbarer Folgen. Die erste war, dass die Siedler zum Schweigen gebracht wurden. Fassungslos durch das Mordattentat an sich sowie durch die allgemeine Wut, die sie hervorgerufen hatte, gingen sie danach nie wieder in grossen Mengen auf die Strassen, um sich der Regierungspolitik entgegenzusetzen. Selbst 2005, als Ariel Sharon 26 israelische Siedlungen im Gazastreifen und dem nördlichen Westjordanland aufgab, zügelten sie sich und brachten ihren Einspruch nur gedämpft zum Ausdruck. Keine Massen anderer Israelis schlossen sich ihnen an.
Die zweite Entwicklung war noch überraschender. Anfang 1996, als die Wahlen kurz bevorstanden, berief Benjamin Netanyahu eine Reihe geschlossener Treffen mit allen führenden Persönlichkeiten seiner Likud-Partei ein. Als sie vorbei waren, hatte die Likud zähneknirschend eine politische Marschrichtung festgelegt, welche den Prozess von Oslo akzeptierte. Ohne diese Aktion hätte Netanyahu die Wahl von 1996 vermutlich verloren.
Hat Rabins Ermordung demnach die Chance auf Frieden zwischen Israel und Palästina vernichtet? Natürlich nicht. Diese Chance – falls sie überhaupt jemals existiert hat – wurde fünf Jahre später zerstört, als der nächste (und bislang letzte) linksgerichtete Premierminister, Ehud Barak, Angebote an die Palästinenser machte, die weit über das hinausgingen, was man je von Rabin erwartet hatte, und die mit der zweiten Intifada beantwortet wurden. Aber das ist eine andere Geschichte.
Der Historiker Dr. Yaacov Lozowick ist Dozent an der Abteilung für Informationswissenschaften an der Bar Ilan Universität. Von 2011-2018 war er israelischer Staatsarchivar und von 1993 bis 2007 Direktor des Archivs in Yad Vashem.
Der Historiker Yaacov Lozowick bringt dankenswerterweise Nüchternheit in einen Fall, um den sich alle möglichen Behauptungen und Legenden ranken. Ich glaube, die Menschen in Israel waren zermürbt von dem ständigen Terror der „Palästinenser“. So konnte ein Vertrag, der nur wenig mehr wert war als das Papier, auf dem er geschrieben stand, eine so große Hoffnung wecken. Über Ehud Barak muss man keine weiteren Worte verlieren. Interessant wäre, zu wissen, was Jitzchak Rabin bei seinen Handlungen geritten hat. Trotz aller menschlichen und politischen Schwächen Rabins darf aber eines nicht vergessen werden: Er hat wenigstens geglaubt/gehofft, dass seine Handlung den Durchbruch bringt. Ein Einschätzung, die einmal mehr an den sogenannten Palästinensern scheitern musste, denen es in ihrer großen Mehrheit nicht um Kompromisse oder eine pragmatische Lösung geht, sondern schlicht um die Vernichtung Israels. Daran hat sich nichts geändert – außer dass sie dabei noch nie so viele Helfershelfer aus dem europäischen Raum hatten.
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