Die Auslöschung der christlichen Minderheit im Irak

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Vom IS zerstörte Kirche in Mossul. Foto Screenshot Preemptive Love / Vimeo
Vom IS zerstörte Kirche in Mossul. Foto Screenshot Preemptive Love / Vimeo
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„Eine weitere Verfolgungswelle wird nach 2.000 Jahren das Ende der Christenheit [im Irak] sein“, war vor Kurzem aus dem Munde eines Führers der irakischen Christen zu hören. In einem Anfang des Monats geführten Interview erläuterte der chaldäische Erzbischof Habib Nafali von Basra, wie mehr als ein Jahrzehnt gewaltsame Verfolgung die christliche Minderheit im Irak nahezu ausgelöscht hat.

 

von Raymond Ibrahim

Seit der US-geführten Invasion im Jahr 2003 sank die christliche Bevölkerung von 1,5 Millionen auf rund 250.000 – eine Verringerung um 85 %. In diesen fünfzehn Jahren wurden Christen entführt, versklavt, vergewaltigt und massakriert, mitunter gekreuzigt; im Durchschnitt wurde alle 40 Tage eine Kirche oder ein Kloster zerstört, so der Erzbischof.

Auch wenn häufig davon ausgegangen wird, dass der Islamische Staat (IS) die Quelle dieser Verfolgung war, hat sich die Situation der Christen seit deren Rückzug aus dem Irak kaum verbessert. Nach Aussage des Erzbischofs werden Christen weiterhin Opfer „systematischer Gewalt“, die darauf abzielt, „ihre Sprache zu zerstören, ihre Familien auseinander zu reissen und sie dazu zu drängen, den Irak zu verlassen.“

Laut dem Bericht „World Watch List 2018“ (von Open Doors, Anm.d.Red.) erfahren Christen im Irak – der sich auf Rang 8 der Liste der schlimmsten Nationen für Christen in der Welt befindet – „extreme Verfolgung“ und dies nicht nur durch „Extremisten“.

Obwohl „gewaltbereite religiöse Gruppen“ (wie der Islamische Staat) „in sehr hohem Masse“ dafür verantwortlich sind, sind zwei weitere gesellschaftliche Klassen, die nur selten mit der Verfolgung von Christen im Irak assoziiert werden, ebenfalls „in sehr hohem Masse“ verantwortlich, so der Bericht: 1.) „Regierungsvertreter auf allen Ebenen, sowohl lokal als auch national“ und 2.) „nicht-christliche Religionsführer auf allen Ebenen, sowohl lokal als auch national.“ Drei weitere gesellschaftliche Gruppen – 1.) „Führer ethnischer Gruppen“, 2.) „Normale Bürger (Menschen aus der allgemeinen Bevölkerung), einschliesslich Mobs“ und 3.) „Politische Parteien auf allen Ebenen, sowohl lokal als auch national“ – sind allesamt „in hohem Mass“ verantwortlich für die Christenverfolgung im Irak. Mit anderen Worten, es sind praktisch alle daran beteiligt.

Weiter heisst es in dem Bericht:

„Gewaltbereite religiöse Gruppen, wie der IS und andere radikale Kämpfer, sind bekannt dafür, dass sie Christen und Angehörige anderer religiöser Minderheiten kidnappen und töten. Weitere Urheber der Verfolgung sind islamische Führer auf allen Ebenen, hauptsächlich in Form von Hasspredigten in den Moscheen. Es wird berichtet, dass Regierungsvertreter aller Ebenen Christen bedrohen und ihnen die Auswanderung „nahelegen“. Weiterhin wird angemerkt, Berichten zufolge hätten normale Bürger im Norden öffentlich gefragt, warum sich immer noch Christen im Irak befänden.“

Mehrere regionale christliche Amtsträger bestätigen diese Ergebnisse. Der syrisch-orthodoxe Bischof George Salib äussert sich dazu wie folgt:

„Was in Irak geschieht, ist eine befremdliche Sache, aber für Muslime ist es normal, da sie die Christen zu keiner Zeit gut behandelt haben und sie stets einen offensiven und diffamierenden Standpunkt gegenüber den Christen vertraten … Früher haben wir mit den Muslimen zusammengelebt, aber dann haben sie ihre Zähne gezeigt … [Sie haben kein] Recht, Häuser zu stürmen, sie auszurauben und die Ehre der Christen anzugreifen. Die meisten Muslime tun es dennoch. Schon die Osmanen töteten uns und danach waren sich die regierenden Nationalstaaten der Umstände zwar bewusst, bevorzugten jedoch stets die Moslems. Der Islam hat sich nie geändert.“

Vater Douglas al-Bazi – ein katholischer irakischer Gemeindepfarrer aus Erbil, der immer noch von den Narben gezeichnet ist, die er vor neun Jahren nach einer Folterung davontrug – machte die gleiche Beobachtung:

Ich bin stolz darauf, Iraker zu sein, ich liebe mein Land. Aber mein Land ist nicht stolz darauf, dass ich ein Teil von ihm bin. Was mit meinem Volk [den Christen] geschieht, ist nichts anderes als Völkermord. Ich bitte Euch: Nennt es nicht Konflikt. Es ist Völkermord … Wenn der Islam mitten unter Euch lebt, mag die Situation annehmbar aussehen. Wenn man aber inmitten von Muslimen lebt [als Minderheit], wird alles unmöglich … Wacht auf! Der Krebs lauert vor Eurer Haustür. Sie werden Euch zerstören. Wir, die Christen des Nahen Ostens sind die einzige Gruppe, die das Gesicht des Bösen gesehen hat: Den Islam.

Die irakische Regierung macht sich zum Komplizen bei der Verfolgung – wenn sie nicht sogar aktiv teilnimmt. Wie ein Christ auf die Frage, warum die Christen im Irak sich nicht wegen Schutz an die Regierungsbehörden wenden, erklärte:

„Wenn wir uns an die Behörden wenden wollen, sind wir gezwungen, uns [als Christen] zu identifizieren und wir können nie sicher sein, ob die Leute, die uns bedrohen, nicht dieselben sind, die an den Regierungsstellen sitzen und uns eigentlich beschützen sollten.“

Wenn Christen tatsächlich das Risiko eingehen, sich an die lokalen Behörden zu wenden, werden sie von der Polizei mitunter mit Kommentaren wie: „[Ihr] solltet gar nicht im Irak sein, das hier ist muslimisches Gebiet“ zurechtgewiesen.

Die irakische Regierung ihrerseits hat nur dazu beigetragen, derartige anti-christliche Stimmungen zu schüren. Ende 2015 beispielsweise verabschiedete sie ein Gesetz, nach dem christliche und andere nicht-muslimische Kinder Muslime werden, wenn ihre Väter zum Islam konvertieren oder ihre christlichen Mütter einen Moslem heiraten.

Die staatlich geförderten Lehrpläne stellen die einheimischen Christen als unerwünschte „Ausländer“ dar, obwohl der Irak jahrhundertelang christlich war, bevor er im siebten Jahrhundert von den Moslems erobert wurde. Ein christlicher Politiker vom irakischen Bildungsministerium erklärte:

„In unseren Geschichtsbüchern findet sich so gut wie überhaupt nichts über uns [Christen] und wenn doch, dann ist es völlig falsch. Nirgendwo steht etwas darüber, dass wir schon vor dem Islam hier waren. Die einzigen Christen, die erwähnt werden, sind solche aus dem Westen. Viele Iraker glauben, dass wir von dort hierher gezogen sind. Aus dem Westen. Dass wir nur Gäste in diesem Land sind.“

„Wenn die [christlichen] Kinder [in der Schule] sagen, dass sie an Jesus glauben“, heisst es in einem Bericht, „müssen sie mit Schlägen und Verachtung seitens ihrer Lehrer rechnen“.

Noch bezeichnender ist, dass die irakische Regierung radikale Prediger, deren Lehren mit denen des IS nahezu identisch sind, anstellt und ihnen eine Plattform verschafft. So erläuterte zum Beispiel Grossajatollah Ahmad al-Baghdadi, einer der führenden schiitischen Geistlichen, in einem Fernsehinterview, die Stellung von Nicht-Muslimen, die unter muslimischer Herrschaft leben:

„Wenn es sich bei ihnen um Leute des Buches [Juden und Christen] handelt, verlangen wir von ihnen die jizya (dt.: Dschizya) [Kopfsteuer für Nicht-Muslime] – und wenn sie sich weigern, kämpfen wir gegen sie. Dies gilt für Christen. Sie haben drei Möglichkeiten: entweder konvertieren sie zum Islam oder, wenn sie sich weigern und Christen bleiben wollen, zahlen sie die jizya. Wenn sie sich aber noch immer weigern, bekämpfen wir sie und entführen ihre Frauen und zerstören ihre Kirchen – das ist der Islam! … Das ist das Wort Allahs!“

Wenn man bedenkt, dass Muslime im Irak von frühester Jugend an mit derartiger anti-christlicher Rhetorik indoktriniert werden – beginnend in den Klassenzimmern und dann weiter in den Moscheen – sollte es niemanden wundern, dass sich viele Moslems gegen ihre christlichen Nachbarn stellen, wann immer sich eine Gelegenheit dazu bietet.

In einem Video erzählt zum Beispiel eine traumatisierte christliche Familie aus dem Irak, wie ihre kleinen Kinder ermordet wurden – lebendig verbrannt, „nur weil sie ein Kreuz trugen“. Die Mutter erzählt, dass der „IS“, der ihre Kinder überfiel und ermordete, ihre eigenen muslimischen Nachbarn waren, mit denen sie zusammen gegessen und gelacht hatten und denen sie sogar schulische und medizinische Hilfe hatten zukommen lassen – die sich dann allerdings gegen sie gerichtet hatten.

Auf die Frage, wer genau denn die Christen aus Mossul verjagt hätte, antwortete ein anderer christlicher Flüchtling:

„Wir haben Mossul verlassen, weil der IS in die Stadt kam. Die [sunnitisch-muslimische] Bevölkerung Mossuls begrüsste die Ankunft des IS und jagte die Christen aus der Stadt. Als der IS nach Mossul kam, bejubelten die Menschen sie und jagten die Christen fort … Die Menschen, die den IS begrüssten, die Menschen, die dort mit uns zusammenlebten … Ja, meine Nachbarn. Unsere eigenen Nachbarn und andere Menschen bedrohten uns. Sie sagten: „Geht fort, bevor der IS euch in die Hände bekommt.“ Was soll das heissen? Wohin sollten wir gehen? … Die Christen haben im Irak keine Unterstützung. Wer auch immer behauptet, die Christen dort zu beschützen, ist ein Lügner. Ein Lügner!“

Die Christen im Irak sind vom Aussterben bedroht, weniger wegen des IS, sondern vielmehr weil förmlich jede Stufe der irakischen Gesellschaft unter ihnen weggebrochen ist und dies nach wie vor weiter geht.

„Wenn das kein Völkermord ist“, fragt der chaldäische Erzbischof Habib Nafali am Ende eines kürzlich geführten Interviews, „was ist es dann?“

Raymond Ibrahim ist Distinguished Senior Fellow am Gatestone Institute und Judith Rosen Friedman Fellow am Middle East Forum. Auf Englisch zuerst erschienen bei Gatestone Institute. Übersetzung Audiatur-Online.