Die vergebliche Suche nach Sinn hinter antisemitischen Verbrechen

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Bei einem Attentat in einer Synagoge in Pittsburgh im US-Bundesstaat Pennsylvania am 27. Oktober 2018 erschoss ein Einzeltäter elf Menschen und verletzte sechs. Foto Screenshot Youtube
Bei einem Attentat in einer Synagoge in Pittsburgh im US-Bundesstaat Pennsylvania am 27. Oktober 2018 erschoss ein Einzeltäter elf Menschen und verletzte sechs. Foto Screenshot Youtube
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Die Motivation, die den Todesschützen von Pittsburgh zu seiner Tat antrieb, war Judenhass. Bemühungen, seine Gräueltat politisch korrekten Theorien zuzuschreiben, funktionieren hier nicht.

 

von Jonathan S. Tobin

Wenn etwas Schreckliches geschieht, verlangen wir Erklärungen. Entsetzliche und irrationale Ereignisse bringen Verschwörungstheorien hervor, da es Teil der menschlichen Natur ist, selbst dann Sinn in der Welt sehen zu wollen, wenn die Welt keinen Sinn ergibt.

Dies gilt umso mehr, wenn sich eine Gräueltat ereignet, wie der Anschlag auf die Tree of Life *Or L’Simcha Synagoge in Pittsburgh. Das blutige Massaker in einem Gebetshaus am Sabbat ist die Art von Tat, die gleichsam definitionsgemäss, jeder Erklärung trotzt. Welcher Mensch im Vollbesitz seiner geistigen Kräfte würde ihm vollkommen fremde Menschen beim Gebet ermorden wollen? Welchem möglichen Ziel könnte durch ein derartiges Vergiessen von unschuldigem Blut gedient sein?

Unsere einzige Sorge sollte es sein, die Familien der Ermordeten zu trösten, ein ehrendes Andenken an die Opfer zu wahren und eine von Schmerz zerrissene Gemeinschaft zu heilen. Und dennoch ist es ein beinahe instinktiver Impuls, Erklärungen zu suchen, die das Unfassbare in einen Kontext bringen, den wir leichter akzeptieren können. Dies ermöglicht uns, die Wahrheit zu verdrängen, dass wir in einer Welt leben, in der uns irrationale Vorurteile jederzeit und überall und auf eine Weise treffen können, die uns bis ins Mark erschüttert. Wenn der wahre Übeltäter ein vertrautes Ziel unseres Zorns ist – und nicht der uralte Judenhass oder die gestörte Raserei eines Extremisten – dann hilft uns dies, unsere Wut und Trauer in eine Richtung zu kanalisieren, die scheinbar produktiver ist, selbst wenn sie alles andere als das ist.

Es überrascht daher kaum, dass das Massaker in einer Synagoge in einem ruhigen, grünen Wohnviertel Reaktionen hervorrief, die mehr als alles andere ein beredtes Zeugnis für die krankmachenden Spaltungen innerhalb unserer Gesellschaft sind.

Für manche ist der einzig wahrhaft Schuldige in diesem Fall US-Präsident Donald Trump. Insbesondere seine Demagogie über illegale Einwanderer wird als grünes Licht für einen Anschlag auf eine Synagoge und eine Gemeinschaft betrachtet, die Asylsuchende im Allgemeinen unterstützt, wie z. B. jene, die in einer „Karawane“ aus Honduras kommen und die von Trump als eine sich nähernde Gefahr bezeichnet wurden.

Dies wiederum führte einige, wie den ehemaligen republikanischen Redakteur Franklin Foer dazu, in der The Atlantic zu beteuern, dass der einzige Weg, um nach Pittsburgh die Sicherheit der Juden zu gewährleisten, darin bestehe, alle Juden, die Trump unterstützen, auszugrenzen, da sie, wie er es ausdrückte, „ihre Gemeinschaft in Gefahr gebracht haben“.

Ins gleiche Horn stiess auch die Journalistin Julia Ioffe, die behauptete, die Schuld für Pittsburgh träfe jene in der pro-israelischen Community, die Trumps Entscheidung zur Verlegung der US-Botschaft von Tel Aviv nach Jerusalem unterstützt hatten. In einem Twitterbeitrag von geradezu unglaublicher geistiger Beschränktheit scherzte sie: „Ich hoffe, die Verlegung der Botschaft dorthin, wo Sie nicht leben, war es wert.“ Kurz darauf war sie auf CNN zu sehen, wie sie noch mehr Giftpfeile in diese Richtung abschoss.

Beim Forward hatte der Autor Peter Beinart eine allgemeinere Verurteilung für alle Juden übrig, die beim Thema illegale Einwanderung mit Trump übereinstimmen. Laut ihm betrügen der „Trumpismus“ – oder zumindest der Teil der Regierungspolitik, welche die Durchsetzung bestehender Einwanderungsgesetze betrifft oder Sorge hinsichtlich der Verbreitung des Islam ausdrückt – und alle Juden, die derartige berechtigte Sorgen teilen, „die jüdische Ethik und das jüdische Leben“.

Während man allerdings Trump für die Verrohung unserer politischen Kultur verantwortlich machen kann – und seine Aussagen zum Thema Immigration häufig ungenau und aufhetzerisch sind – ist die leichtfertige Behauptung der Präsident sei ein Antisemit oder die Verleumdung seine Unterstützer seien Wegbereiter und Verbündete des angeklagten Robert Bowers, in zweierlei Hinsicht falsch.

Der erste und offensichtlichste Grund ist, dass Bowers ein Trump-Kritiker ist, insbesondere wegen dessen Sympathie für die Juden, der Tatsache, dass viele Juden zentrale Regierungspositionen bekleiden, sowie seiner Unterstützung für Israel, welche die seiner unmittelbaren Amtsvorgänger bei weitem übersteigt. Er betrachtet Trump als einen Verbündeten der Juden – nicht als jemanden, der ihn dazu ermutigt hatte, einen Anschlag auf sie zu verüben.

Der zweite Grund ist, dass der Versuch, Pittsburgh in das Narrativ vom „Widerstand“ zu zwängen, bei dem Trump als jemand betrachtet wird, der eine Welle der Verfolgung von Juden und anderen Minderheiten in Amerika auslöst, die Natur des Antisemitismus missversteht, den Bowers unterstützt hat.

Wenngleich die Hebrew Immigrant Aid Society und eine Synagoge, deren Mitglieder bestrebt waren, Einwanderern und Asylsuchenden zu helfen, für Bowers möglicherweise ausreichend waren, um seinen Anschlag zu rechtfertigen, ist dies keine bessere Erklärung für seine Wut als jede andere Entschuldigung, die Antisemiten im Laufe der Jahrhunderte anführten.

Auch wenn es immer Menschen gab, die den Juden die Schuld für den gegen sie gerichteten Hass geben wollten – eine Tendenz, die sich bis heute bei denen fortsetzt, die der Ansicht sind, dass die Unterstützung Israels eine rote Fahne ist, die zu Angriffen einlädt – geht es beim Antisemitismus immer um die Antisemiten, nicht um die Juden. Wie die Wissenschaftlerin Ruth Wisse schrieb, ist es die erfolgreichste Ideologie des 20. Jahrhunderts – ein Virus, das sich vom Faschismus über den Nazismus und Kommunismus bis hin zum Islamismus gewandelt hat. Die Fortführung dieses Trends im 21. Jahrhundert hat nichts mit Trump zu tun, aber umso mehr mit der Tatsache, dass die Juden nach wie vor ein bequemer Sündenbock für Extremisten jeglicher politischer und religiöser Couleur sind.

Es gibt viel zu beklagen in unserer aktuellen politischen Kultur, bei der die Stämme der wahren Gläubigen an beiden Enden des politischen Spektrums regieren und bei der keine Seite bereit ist, zuzugeben, auf welche Art und Weise sie ihre politischen Gegner delegitimieren wollten. Was in Pittsburgh geschehen ist, ist jedoch der Ausdruck eines tieferen Übels – eines Übels, das derzeit keine politischen Heilmittel hat.

Eine Welt, in der wir die Schuld für Pittsburgh nicht einfach bequem auf einen politischen Feind schieben können, den viele Juden verachten, ist weniger beängstigend als die komplexe Wahrheit. Trump ist nicht nur ein Freund der Juden und Israels sondern gleichzeitig auch das Symptom eines destruktiven politischen Trends, der dazu beigetragen hat, die Fesseln der Gemeinschaft zu lösen und uns so immer weiter auseinander treibt. Und dennoch ist er nicht verantwortlich für die Taten eines verwirrten Extremisten.

Wenn wir anerkennen, dass Trump trotz seiner Fehler weder ein Antisemit, noch der Grund für die hiesige antisemitische Gewalt ist – oder an jedem anderen Ort der Welt, in der eine wachsende Flut von Judenhass weiter zunimmt – dann sind wir gezwungen, der gleichen frustrierenden Wahrheit über dieses Virus ins Gesicht zu sehen, mit der schon unzählige Generationen vor uns zu kämpfen hatten. Man kann leicht erkennen, warum es irgendwie tröstlich ist, die Tat in einen politischen Kontext zu bringen, aber alle, die dies in einer vergeblichen Suche nach dem Sinn hinter antisemitischen Hassverbrechen tun, tun damit weder den Juden noch der Sache der Zivilisation einen Gefallen.

Jonathan S. Tobin ist Chefredakteur der Nachrichtenagentur JNS. Auf Englisch zuerst erschienen bei Jewish News Syndicate. Übersetzung Audiatur-Online.

1 Kommentar

  1. In einer Flut von mehr als tendenziösen Artikeln und noch schlimmeren hasserfüllten Kommentaren in einem Großteil unserer europäischen Medienlandschaft – die sich sonst mit Vorliebe für das Gewissen der Welt hält – ist dieser Artikel von J.S. Tobin wohltuend sachlich, geradezu ein Leuchtturm der Aufklärung.

    Ja, es stimmt, Trump mag häufig ein unangenehmer Zeitgenosse sein, aber er ist nicht für das Attentat in Pittsburgh verantwortlich. Er ist auch nicht zuständig für alle Übel dieser Welt. Allen diesen Zuschreibungen ist eigen, dass inzwischen immer mehr Leute glauben, ohne auch nur den Anschein einer Begründung vorzubringen, in ihrem Schwarz-Weiß-Denken Trump alles zuschieben zu dürfen, was ihnen gerade einfällt.

    Eine differenzierte Sichtweise scheint immer weniger für notwendig erachtet zu werden. Dieser fatale Automatismus, der sich am Beispiel Trump besonders gut zeigt, ist keine gute Entwicklung. Vor allem ist er ein weiteres Armutszeugnis einer großen Zahl von Medien und Menschen, die die Schuld immer bei anderen suchen, nie aber sich selbst kritisch reflektieren oder gar einen Blick in die eigenen Abgründe werfen.

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