Eine Schweizerin bringt Licht ins Leben von israelischen Shoa-Überlebenden

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Aviva Silberman-Teplitz mit einer Shoa-Überlebenden.Foto zVg
Aviva Silberman-Teplitz mit einer Shoa-Überlebenden.Foto zVg
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Über die Höhe des materiellen Raubes an Holocaust-Opfern kann bis heute nur spekuliert werden. Der Raub an den Juden und anderen Opfern begann bei der Habe der Menschen, Immobilien, Wert- und Alltagsgegenstände und ging bis zu den Kleider, Haaren, Brillen und letztendlich den Goldzähnen, die ihnen kurz vor ihrer Ermordung – oder danach – ausgerissen wurden.

 

Die erlittenen Grausamkeiten und die als Folge davon lebenslänglich erlebten psychischen und physischen Beschwerden können weder in Worte formuliert, noch in Zahlen, im Sinne einer Ent-Schädigung, benannt werden. Die Entschädigungsrenten, welche die Holocaust-Überlebenden erhalten, ermöglichen ihnen vor allem im Alter ein Leben über dem Existenzminimum.

Aviva Silberman-Teplitz wurde 1970 in Zürich geboren und verbrachte dort ihre Kindheit und Jugend. Nach der Matura ging sie  nach Israel,  um sich während eines Jahres in jüdischen Studien auf der Michlalah Jerusalem College weiter zu bilden. Danach nahm sie das Jura-Studium an der Universität Bar Ilan in Ramat Gan auf.

Seit über 25 Jahren kümmert sich Silberman darum, dass Holocaust-Überlebende Entschädigungsrenten erhalten, auf welche sie Anspruch haben. 2007 gründete sie den Verein „Aviv für Holocaust Überlebende“.  Silberman-Teplitz ist verheiratet und Mutter von 6 Kindern.

„Aviv for Holocaust Survivors“ hat sich auf die rechtlichen Ansprüche der Holocaust-Überlebenden vom israelischen Finanzministerium, sowie auf die finanziellen Ansprüche von der Deutschen Regierung spezialisiert. Die Betreuung und Beratungen bei Amuta (Verein)  „Aviv„ sind für die Betroffenen unentgeltlich.

Esther Leuchter: Wie kamen Sie erstmals mit dem Thema in Berührung?

Aviva Silberman-Teplitz: In Mitten meines Studiums, im Jahre 1991, gab es einen Studentenstreik. In der Zeit begann ich ehrenamtlich in einem Altersheim in Petach Tikwa zu arbeiten. Beim Vorstellungsgespräch erwähnte ich verschiedene Sprachen –  darunter Deutsch und Jiddisch – die ich beherrsche. Die Leiterin erzählte mir von Bewohnern, die den Holocaust überlebten und seit einiger Zeit Briefe aus Deutschland erhielten. Es handle sich um rechtliche Angelegenheiten, doch weder die Bewohner, noch die Pfleger verstanden den Inhalt der Briefe. So begann ich mich mit dem Thema auseinander zu setzen.

Wie ging es weiter?

Ich übersetzte die Briefe und begann mich in das Thema zu vertiefen. Dabei stellte ich fest, dass weltweit tausende von Menschen keine Entschädigungsleistungen erhielten, weil sie bis zum Jahr 1969, basierend auf das Bundesentschädigungsgesetz (BEG), bei der Deutschen Bundesregierung keinen Antrag dafür eingereicht hatten.

An dieser Stelle sei noch die Claims Conference (Jewish Claims Conference (JCC) – ein Zusammenschluss aus verschiedenen jüdischen Organisationen, erwähnt. Sie vertritt seit ihrer Gründung 1951 die Entschädigungsansprüche jüdischer Opfer des Nationalsozialismus und von Holocaust-Überlebenden. Die Organisation hat ihren Sitz in New York City und unterhält in Frankfurt am Main, Wien und Tel Aviv Repräsentanzen und forderte Deutschland immer wieder dazu auf, Renten auszuzahlen.

Nach der Wiedervereinigung 1990 wurde dann dieser Forderung nachgegeben. So kam es dazu, dass viele Überlebende erst spät Briefe mit der Zusage von Renten erhielten.

Wer bezahlt seither –  die Claims Conference oder Deutschland?

Die Deutsche Regierung  entrichtet Zahlungen an die Claims Conference, welches diese an die Überlebenden, die über die ganze Welt verstreut sind, weiterleitet.

Der Artikel 2 des Einigungsvertrags vom 3. Oktober 1990  beschreibt diese Verpflichtung detailliert. Im Jahr 2001 begann ich Holocaust-Überlebende über ihre Rechte aufzuklären und musste bald feststellen, dass ich zu wenige Betroffene erreichen konnte. So gründete ich 2007 eine Organisation, um mein gesammeltes Wissen möglichst vielen Opfern zur Verfügung zu stellen. Zu dritt begannen wir systematisch zu arbeiten, indem wir Rentenformulare aufsetzten und den Betroffenen zeigten, wie sie diese auszufüllen hatten. Wir gründeten eine Hotline und hielten Vorträge vor Sozialarbeitern und Überlebenden und boten gleichzeitig direkte Hilfe an.

Welche Shoa-Opfer haben Anrecht auf Renten?

Das ist die Frage aller Fragen. Im Laufe der Jahrzehnte fand eine Entwicklung statt.

Die Bundesregierung zahlte gemäss dem Bundesentschädigungsgesetz jenen Überlebenden, die bis Ende 1969 einen Antrag stellten, eine Rente aus. Wer nach 1969 einen Antrag einreichte, ging leer aus.

Um eine Rente zu erhalten, mussten viele Kriterien erfüllt sein. Man musste die deutsche Sprache beherrschen und mit der deutschen Kultur vertraut sein, so wie eine hochgradige Behinderung nachweisen können. Die Untersuchungen der Holocaust-Überlebenden wurden durch von der Bundesregierung gestellte Ärzte vorgenommen. Nur deren Aussagen und Diagnosen wurden berücksichtigt. Oftmals wurden die Anträge abgelehnt, weil die geforderten Kriterien nicht erfüllt waren. Dann versuchten Anwälte zu vermitteln, was meistens aussichtslos war.

Wie lief das Prozedere in Israel ab? 

Es gibt eine Rente, die ausschliesslich in Israel und für in Israel wohnhafte Holocaust-Überlebende ausbezahlt wird.

1952 zahlte Deutschland, im Einvernehmen mit Ben Gurion, Israel eine einmalige Summe von 3 Milliarden Deutsche Mark aus und wurde so der finanziellen Verantwortung entbunden.

Bis zum heutigen Tag zahlt Israel diese Rente noch an etwa 80’000 Betroffenen aus.

Was ist neu, seit Sie den Verein gegründet haben?

Da die Betroffenen die Gesetze nicht kannten, wussten sie nicht, welche Rechte und worauf sie Anspruch hatten. Es gab verschiedene Organisationen, die sich mit Entschädigungsleistungen befassten, doch wenn die falsche Organisation kontaktiert wurde und dem Antragsteller gesagt wurde, eine solche Rente existiere nicht –  obwohl eine andere Organisation diese anbot –  kamen die Überlebenden nicht zu den ihnen zustehenden Beiträgen. Die Organisationen waren untereinander nicht koordiniert.

Das wurde von uns geändert. Die Überlebenden sollten bei uns, an einer einzigen Anlaufstelle, alle Informationen über ihre Rechte erhalten.

Das setzt ein grosses, umfangreiches Wissen voraus.

Das habe ich mir während Jahren aufgebaut.

Wie sah das konkret aus?

Zunächst begann ich Vorträge zu halten und Sozialarbeiter zu unterrichten. Es ging darum Informationen, wie, wer welche Renten ausbezahlte, weiter zu geben und sie einer breiten Öffentlichkeit zugänglich zu machen. Im Jahr 2013 setzten wir uns beim israelischen Finanzministerium für neue Rechte ein. (Mehr dazu, weiter unten)

Wann haben Sie Verein „Aviv für Holocaust-Überlebende“ gegründet?

Die Gründung meiner Amutah fand im Jahre 2007 statt.

Wir erstellten eine Internetseite mit allen uns verfügbaren Informationen. Gleichzeitig kreierten wir in wochenlanger Arbeit neue Formulare für das Einreichen von Rentenansprüchen.

Es ging immer darum, den Überlebenden das zukommen zu lassen, was ihnen zusteht.

Ich gebe Ihnen hier einige Zahlen zum Verein:

  • es gibt 16 Zentren über ganz Israel verteilt, die kostenlose professionelle Hilfe anbieten
  • ein Anrufzentrum beantwortet pro Jahr etwa 11’000 Anrufe
  • 8’000 ausgebildete Freiwillige und Professionelle unterstützen die Überlebenden und stehen ihnen bis zum Erhalten ihrer Rente bei
  • 60’000 Überlebenden wurde durch Aviv bereits geholfen
  • „Aviv“ dient auch als beratendes Organ für die Regierung
  • „Aviv“ informiert über Internetseiten, Handouts, Newsletter und Medien

Heute erhalten tausende von Menschen, die ursprünglich nicht als berechtigt anerkannt wurden –  wie z.B. Flüchtlinge, Ghettoinsassen, Arrestierte, Untergetauchte (ab 1992) aufgrund unseres und Yair Lapids Engagement, eine Rente.

Das deutsche Gesetz blieb allerdings unverändert, es wurde nicht erweitert. Deutschland anerkennt weder Verschlimmerungen, noch Folgeerkrankungen. Es ist fast unmöglich, aufgrund von deutlich sichtbaren Spätfolgen höhere Renten zu erhalten.

99% aller Eingaben der an Folgekrankheiten Leidenden, werden von der Bundesregierung, auf Basis des BEG,  abgewiesen.

Im Jahre 2014 gab es nochmals eine entscheidende Veränderung. Yair Lapid , kontaktierte uns als neuer Finanzminister, um zu erfahren, wie Holocaust-Überlebenden im Alter ein einfacheres Leben zu ermöglichen sei.

Er setzte nochmals 1 Milliarde Schekel für diejenigen frei, die bis dahin noch nicht als Opfer anerkannt worden waren, denn es gab immer noch Überlebende, die bei Einschätzung zwischen Stuhl und Bank fielen.

Das Geld wurde unter anderem für medizinische Pflege von Spätfolgeerkrankungen eingesetzt.

Im selben Jahr trat das Thema nochmals bewusster in Erscheinung. Es wurde ein Alltagsthema, das sich nicht nur auf den Jom Haschoah (Holocaust-Gedenktag) beschränkte.

Nun erhielten auch ehemalige jüdische Zwangsarbeiter Gelder -ebenso deren Kinder, die ihre Eltern begleiten und unterstützen mussten.

Gab es in Deutschland irgendwelche Zusatzrenten?

Im Jahre 2002 wurde das Ghettorentengesetz eingeführt.

(Anmerkung von E. Leuchter: Zu Beginn wurden jedoch 96% der Antragsteller, mangels Beweisen, abgelehnt. Dank dem unermüdlichen Einsatz des Sozialrichters Jan-Robert von Renesse erhielten mehr und mehr ehemalige Ghettoarbeiter ihre Renten. Mittlerweile wurde der Beitrag noch erweitert, indem Kinder, deren Eltern als Ghettohäftlinge arbeiteten, auch eine Rente erhalten. Von Renesses Einsatz kostete ihn seine Karriere, er wurde aber auch mit verschiedenen Auszeichnungen belohnt.)

Ist Ihre Amuta eher vermittelnd oder begleitend tätig?

Sowohl, als auch. Wir übernehmen die ganze Arbeit, bis zum Erhalt der Rente der Betroffenen.

Es gibt Projekte, bei welchen wir unsere unterstützende Begleitung von Anfang bis zum Ende anbieten. Unsere Anwälte sind übers ganze Land verteilt. Sie kümmern sich darum, dass alle Papiere eingereicht werden.

Weil auch dieser Service für die Überlebenden unentgeltlich ist, sind wir auf Spenden angewiesen.

Bei einem unserer Projekte mit JDC (Joint Eschel), boten wir während 3 Jahren, von 2014-2017, 5000 Überlebenden intensive persönliche Begleitung an. Der finanzielle Aufwand betrug 3,6 Mio. Schekel. Durch dieses Projekt konnte den Überlebenden insgesamt 156 Mio. Schekel ausbezahlt werden.

Müssen die Überlebenden Beweise vorbringen?

Wenn die betroffenen Personen eine Claim (Anrecht) einreichen und schildern, was sie durchgemacht haben, dann wird ihnen in der Regel geglaubt, ohne dass sie Beweise vorbringen müssen.

Gibt es Antragsteller mit einer tätowierten Nummer auf dem Arm, die keine Rente erhielten?

Ja, die gibt es. Es sind Überlebende, welche die Rente früher nicht annehmen wollten, dann aber später von ihren Kindern dazu überredet wurden, weil sie das Geld benötigten und weil es ihnen zustand.

Können Sie von einem besonderen Erlebnis erzählen?

Eines Tage rief mich ein Herr an, dem eine Zahnbehandlung von 50000 Schekel bevorstand. Doch die Kosten solcher Behandlungen werden nur übernommen, wenn die Zahnschädigung nachweislich etwas mit dem Holocaust zu tun hat.

Ich fragte ihn nach Altersbeschwerden aufgrund einer Schädigung vom Krieg, wie z.B. Osteoporose, die nachweislich mit dem Erlittenen zu tun hat und nach psychischen Beschwerden.

Es zeigten sich beim Klienten 2 Folgeerkrankungen, für welche wir einen Anspruchsantrag einreichten. Am Ende wurde ihm eine höhere Rente ausbezahlt, mit welcher er die Zahnbehandlung begleichen konnte.

Vielen Dank für das Gespräch.

http://www.avivshoa.co.il/