Israel 25 Jahre nach den Osloer Abkommen: Warum ist Rabin darauf reingefallen?

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Premierminister Rabin trifft am 30. Oktober 1994 in Casablanca mit dem PLO-Vorsitzenden Yasser Arafat zusammen. Foto Saar Yaacov, GPO.
Premierminister Rabin trifft am 30. Oktober 1994 in Casablanca mit dem PLO-Vorsitzenden Yasser Arafat zusammen. Foto Saar Yaacov, GPO.
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Zwei Jahrzehnte nachdem Golda Meirs Scheitern bei der Suche nach einem gutwilligen arabischen Friedenspartner 1973 zum verheerenden Jom-Kippur-Krieg geführt hatte, provozierte eine andere von der Arbeitspartei geführte Regierung 1993 eine weitaus schlimmere Katastrophe: Zu ihrem Friedenspartner machte sie eine unverbesserliche Terrororganisation, die sich der Zerstörung Israels verschworen hatte. Statt den palästinensisch-israelischen Konflikt zu beenden, schuf der „Osloer Friedensprozess“ zwischen Israel und der PLO eine unausrottbare Terrorentität vor Israels Tür, die seither 1.600 Israelis ermordet und Tausende von Raketen auf israelische Wohngebiete geschossen hat und sich unablässig müht, dem jüdischen Staat sein Recht auf Existenz abzusprechen.

 

von Prof. Efraim Karsh

Wie konnte es dazu kommen? Warum führten zwei von Israels bedeutendsten Altstars der Sicherheits- und Aussenpolitik – Ministerpräsident Jitzhak Rabin und Aussenminister Schimon Peres – das Land in eine Situation, die ein prominenter PLO-Vertreter offen als ein trojanisches Pferd der PLO zum Erreichen ihrer strategischen Ziele bezeichnet hat: „Palästina vom Fluss [Jordan] bis zum Meer“, also ein Palästina anstelle des Staates Israel. [1. Interview mit Faisal Husseini, al-Arabi (Kairo), 24.6.2000.]

Mit verschlossenen Augen

Der PLO-Vorsitzende Jassir Arafat war ein Ewiggestriger, der Gewalt und Chaos zu seinen Markenzeichen gemacht hatte. Anfang der 1970er Jahre hätte er fast Jordanien zerstört. Fünf Jahre später half er mit, den brutalen libanesischen Bürgerkrieg anzuzetteln, einen der blutigsten Konflikte in der modernen Geschichte des Nahen Ostens, der mehr als ein Jahrzehnt wütete und die Leben Hunderttausender unschuldiger Menschen forderte. 1990/91 unterstützte er Saddam Husseins Einmarsch in Kuwait, was die dort lebenden Palästinenser ungeheuer teuer zu stehen kam: Tausende von ihnen wurden in Racheakten ermordet, Hunderttausende wurden nach der Befreiung Kuwaits vertrieben. Zwischen diesen Katastrophen machte Arafat die PLO zu einem Synonym für Gewalt und zu einer der mörderischsten Terrororganisationen der Welt, mit dem alles überragenden Ziel der Zerstörung Israels.

Wie konnte die Regierung Rabin da an eine plötzliche Verwandlung dieses Mannes und seiner Organisation in Agenten des Friedens glauben? In Nordirland hatten die paramilitärischen Gruppen die Waffen niedergelegt, das war die Vorbedingung des Friedensprozesses gewesen. Im Oslo-Prozess sah die israelische Regierung die Bewaffnung Tausender Terroristen (die sich, so hoffte sie, bekehrt hatten) und ihre Beauftragung mit der Aufrechterhaltung von Gesetz und Ordnung in der Westbank und in Gaza als den Schlüssel zu Frieden und Sicherheit. Wo hatte diese unglaubliche Selbsttäuschung ihren Ursprung?

Nirgendwo, scheint es. Dem Oslo-Verhandlungsteam war kein Endziel gesetzt worden, keine Roadmap, der zu folgen war. Es gab keine ernsthaften Diskussionen über die Richtung des Prozesses, die Unterhändler und ihre Vorgesetzten wussten nicht einmal, welche Vision von Frieden der jeweils andere hatte. „Ich erinnere mich an keine einzige tiefschürfende Diskussion innerhalb der Arbeitspartei, dem Kabinett oder dem Verhandlungsteam, in der es über den finalen Status ging“, sagte der damalige stellvertretende Aussenminister Yossi Beilin, Peres’ langjähriger Vertrauter und Hauptarchitekt von Oslo, einmal einem Reporter.

– „Das verstehe ich nicht“, hakte der erstaunte Journalist nach. „1992 wurde die Regierung gewählt. 1993 haben Sie den Oslo-Prozess begonnen. Und doch haben Sie sich zu keinem Zeitpunkt gefragt, wo das alles hinführen wird?“

– „Nein.“

– „Aber störten Sie sich denn nicht daran, wie das Kabinett das Oslo-Abkommen in einer kurzen, oberflächlichen Sitzung abgesegnet hat, fast ohne jede Diskussion?“

– „Es war erstaunlich. Erstaunlich. Seit Dutzenden von Jahren hatte ich mit diesen Leuten geredet, und sie alle hatten sich verbissen gegen meine vielen Vorschläge zu Verhandlungen mit der PLO gewehrt. … Dann, auf einmal, bringt Rabin eine Übereinkunft mit der PLO, und alle sind dafür.“ [2. Yossi Beilin, Interview mit Ari Shavit, Haaretz Wochenmagazin, 7.3.1997.]

Dieses krasse Versäumnis, den angestrebten Ausgang der ambitioniertesten Friedensbemühungen gegenüber den Palästinensern in Israels Geschichte zu debattieren, hielt Peres nicht davon ab, Oslo seinen Beifall zu geben; nicht nur das Ende des palästinensisch-israelischen Konflikts sah er heraufziehen, sondern die Ankunft eines „neuen Nahen Ostens“, der ein „spiritueller und kultureller Bezugspunkt für die ganze Welt“ sein werde:

„Ein Naher Osten ohne Kriege, ohne Feinde, ohne ballistische Raketen, ohne Atomsprengköpfe. Ein Naher Osten, in dem Menschen, Güter und Dienstleistungen sich frei bewegen können, ohne die Notwendigkeit von Zollkontrollen … Ein Naher Osten, in dem der Lebensstandard keineswegs niedriger sein wird als in den fortgeschrittensten Ländern der Welt, wo keine feindlichen Grenzen Tod, Hunger und Verzweiflung bringen. … Ein Naher Osten, der kein Kriegsschauplatz ist, sondern ein Ort der Kreativität und des Wachstums.“ [3. “The Nobel Peace Prize 1994. Shimon Peres – Nobel Lecture,” Nobleprize.org; Shimon Peres, The New Middle East (Shaftesbury: Element, 1993).]

In Peres’ Sicht waren Arafat und die PLO, indem sie sich dem Oslo-Prozess angeschlossen hatten, Partner in einer grossen historischen Odyssee geworden; und solange diese Partnerschaft intakt blieb, wäre ihr Erfolg garantiert:

„Ich denke, was für einen Friedensprozess wirklich wichtig ist, ist, einen Partner zu schaffen, das ist wichtiger als ein Plan, denn Pläne schaffen keine Partner, doch wenn man einen Partner hat, dann handelt man einen Plan aus. Als ich über den Friedensprozess nachdachte, wusste ich tief in meinem Herzen, dass das grösste Problem wäre, wie man Arafat verwandelt, wie man aus einem, der der meistgehasste Mann in diesem Land ist und viele seltsame Ideen hat, einen Partner macht, mit dem wir uns an einen Tisch setzen können und ihn unseren Leuten akzeptabel machen – vielleicht nicht geliebt, aber zumindest akzeptiert.“ [4. Connie Bruck, “The Wounds of Peace,” The New Yorker, 14.10.1996.]

Was aber, wenn der gewünschte Partner sich nicht an die ihm zugeschriebene Rolle halten will? Was, wenn seine „vielen seltsamen Ideen“ sich als unabänderlich erweisen? Peres’ Antwort: „Wir verschliessen unsere Augen. Wir kritisieren nicht, denn um des Friedens willen müssen wir einen Partner schaffen.“ [5. Shimon Peres, Brief an die Herausgeber Jerusalem Post, 21.5.1996.]

Peres hat sich völlig an dieses Prinzip gehalten, und alles in seinen Kräften stehende getan, um unzählige Verstösse der Palästinenser gegen das Abkommen zu leugnen, herunterzuspielen und weisszuwaschen – dasselbe galt für alle Hinweise auf das fortwährende Streben der PLO nach Israels Zerstörung. „Das Recht auf Rückkehr ist in meinen Augen ein arabischer Traum, der ein Traum bleiben muss“, sagte er noch im September 2001 über den Euphemismus der Palästinenser für Israels Zerstörung durch demografische Unterwanderung, der entscheidend gewesen war, um sowohl das Treffen in Camp David im Juli 2000 zu sprengen als auch den Friedensplan von US-Präsident Clinton etliche Monate später. „Ich dachte damals und ich denke heute, dass man Probleme lösen kann, ohne Träume aufzugeben.“ [6. Maariv (Tel Aviv), 25.9.2001.]

Ähnlich belog sich Peres, als es darum ging, dass die PLO, entgegen dem Oslo-Abkommen, nicht die Artikel in ihrer Charta abschaffen wollte, in der sie sich zur Zerstörung Israels bekennt. Als etwa der Sprecher des Palästinensischen Nationalrats (PNC) – das Quasi-Parlament der PLO – die Änderung der Charta an die Bedingung neuer Zugeständnisse Israels knüpfte, sah Peres einfach darüber hinweg. „Wir haben das Abkommen nicht mit dem PNC-Sprecher unterzeichnet, sondern mit der PLO-Führung, und an ihr liegt es, die Umsetzung sicherzustellen“, argumentierte er – so, als wenn es nicht der PNC gewesen wäre, der die Charta 1964 verabschiedet und 1968 geändert hatte und der das einzige Gremium ist, der die Befugnis hat, die nötigen Änderungen vorzunehmen. Da war es kein Wunder, dass Peres, als Arafat ihm 1996 sagte, die Charta sei geändert worden, dies sofort als „das wichtigste Ereignis im Nahen Osten in hundert Jahren“ lobte, obwohl schnell durchsickerte, dass eine solche Änderung gar nicht stattgefunden hatte. [7. Efraim Karsh, Arafat’s War (New York: Grove Atlantic, 2003), S. 77-83.] Tatsächlich ist die Charta mit ihrer Fülle von Artikeln, die Israels Zerstörung fordern, bis zum heutigen Tag nicht revidiert worden.

Als Arafat im Mai 1994 in Johannesburg bei einem Treffen hinter verschlossenen Türen einem muslimischen Führer sagte, die Osloer Abkommen seien eine vorübergehende Einrichtung, die dazu diene, Israel am Ende in den Untergang zu führen und ihn drängte, einen pan-muslimischen Dschihad gegen Israel anzuzetteln, entschuldigte Peres den Kommentar, indem er sagte, Arafat müsse sich noch an die neue Wirklichkeit anpassen; Beilin wiederum wischte ihn als „alberne Worte“ beiseite.

Ebenso wenig ernst nahm Beilin Arafats Beharren auf Jerusalem als Hauptstadt eines zukünftigen palästinensischen Staates. „Die Palästinenser verstehen, dass wir Israels Souveränität über die Stadt nicht aufgeben können. Am Ende werden sie, aus ihrer Sicht, vor einem schwierigen Dilemma stehen, die Forderung nach Souveränität über Jerusalem aufzugeben, so, wie sie auch die Forderung nach einem Rückzug Israels hinter die Grenzen von vor 1967 werden aufgeben müssen.“ Ebenso locker war er beim Thema der Demilitarisierung des zukünftigen palästinensischen Staates: „Ich habe erfahren, dass die zivile palästinensische Führung kein Interesse an einer starken palästinensischen Armee hat, da sie sehr gut weiss, wie das Kräftegleichgewicht zwischen ihrer Armee und der israelischen wäre.“[8. Yossi Beilin, interview, Al Hamishmar (Tel Aviv), 29.9.1993, May 19, 1994; Beilin interview, Haaretz Weekly Magazine, Mar. 7, 1997; see, also, Maariv Weekly Magazine, 15.9.1995]

Dass Beilin seine Versicherungen selbst glaubte, zeigte sich an seiner furchteinflössenden Vorhersage, wonach „der grösste Test des Abkommens nicht in der intellektuellen Sphäre stattfindet, sondern eher ein Test des Blutes sein wird“. Sollte es „innerhalb eines vernünftigen Zeitrahmens“ nach der Gründung der Palästinensischen Autonomiebehörde keinen bedeutsamen Rückgang der Gewalt und des Terrorismus geben, so argumentierte er, dann werde man den Oslo-Prozess für gescheitert halten müssen und Israel habe dann keine andere Wahl, als sich ebenfalls nicht mehr daran gebunden zu fühlen. „Das wird nur ein Mittel der letzten Wahl sein“, sagte er. „Doch wenn wir merken, dass das Mass der Gewalt nicht zurückgeht, werden wir nicht voranschreiten und wahrscheinlich kein Abkommen über den endgültigen Status treffen können. Und sollte es keine andere Wahl geben, wird die IDF an die Plätze zurückkehren, die wir in den nächsten Monaten räumen werden.“ [9. Maariv, 26.11.1993.]

25 Jahre und Tausende von Toten später, nachdem sich der Gazastreifen in eine stark befestigte Terrorentität verwandelt und Israel schreckliche Wellen des Terrorismus erlitten hat wie nie zuvor, gibt es keinen Zweifel an dem abgrundtiefen Scheitern dieses „Tests des Bluts“. Doch statt seine katastrophal falschen Prämissen zu prüfen oder gar sein eigenes Versprechen einzulösen und unter solchen Bedingungen den Prozess zu stoppen, machte Beilin, ebenso wie andere Anhänger des „Friedenslagers“ damit weiter, absichtlich zu ignorieren, wie die Palästinenser weiterhin jäh gegen alle Verpflichtungen des Oslo-Abkommens verstiessen, während er Israel die Schuld an dem festgefahrenen Prozess gab. Dies, obwohl fünf aufeinanderfolgende Ministerpräsidenten sich öffentlich für die Zwei-Staaten-Lösung ausgesprochen hatten: Shimon Peres, Ehud Barak, Ariel Sharon, Ehud Olmert und Benjamin Netanjahu.

Rabins Kehrtwende

Wenn man die Selbsttäuschung von Peres und Beilin teilweise mit ideologischen Motiven erklären (wenn auch nicht billigen) kann, so war Rabins Verhalten ausserhalb jedes bisherigen Rahmens. Anders als Beilin setzte er Friedensarbeit und Verständigung nicht mit Appeasement und Selbstbetrug gleich; anders als Peres hatte er keine Blütenträume von einem „Neuen Nahen Osten“. Vielmehr war er ein Vertreter des „aktivistischen“ Ansatzes, der auf Zeev Jabotinsky und David Ben-Gurion zurückgeht: die Annahme, dass es erst dann Frieden geben wird, wenn die Araber begreifen, dass sie Israel nicht mit Gewalt zerstören können. Und da der ägyptisch-israelische Friedensvertrag von 1979 den grössten und mächtigsten arabischen Staat vom Kriegsschauplatz entfernt hatte, glaubte Rabin,  dass es nun die Priorität Nummer eins sei, die andere grosse Bedrohung von Israels nationaler Sicherheit zu neutralisieren: Syrien. Ein syrisch-israelisches Abkommen, so glaubte er, würde auch einem Frieden mit dem Libanon den Weg ebnen; die Palästinenser hätten dann keine andere Wahl, als sich ihren stärkeren arabischen Verbündeten anzuschliessen.

Erst als er begriff, dass Präsident Hafez Assad dazu selbst dann nicht bereit wäre, wenn Israel sich von fast dem gesamten Golan zurückzöge, wandte sich Rabin den Palästinensern zu. Auch dann noch bevorzugte er, mit den örtlichen Führern in der West Bank und Gaza zu verhandeln (der „Innenseite“, im palästinensischen Sprachgebrauch) statt mit der PLO-Führung in Tunis, die er für unabänderlich extremistisch und korrupt hielt. So tief sass sein Hass auf Arafat, dass er plante, der Unterzeichnungszeremonie des Oslo-Abkommens in Washington fernzubleiben und von US-Aussenminister Warren Christopher persönlich dazu überredet werden musste. Kurz vor der Unterzeichnungszeremonie, als Israelis, Palästinenser und andere Gäste sich im Weissen Haus verteilten, beobachtete Christopher, wie Rabin im Blue Room seine Runden drehte, um es zu vermeiden, Arafat die Hand schütteln zu müssen. „Von allen Händen der Welt war dies nicht die, die ich berühren wollte oder die zu berühren ich mir jemals hätte träumen lassen“, sagte er einer Gruppe jüdischer Führer nach der Zeremonie. [10. Warren Christopher, Chances of a Lifetime: A Memoir (New York: Scribner, 2001), S. 202, 204; Jerusalem Post, 21.11.1993; Arutz 7 (Beit El und Petah Tikva), 18.9.2013.] (Ironischweise war Peres so bestürzt von Rabins Entscheidung, doch zur Unterzeichnungszeremonie zu kommen, die die Schmälerung seiner Verdienste beim Zustandekommen des Abkommen mit sich bringen könnte, dass er seinen Rücktritt erwog). [11. Avi Gil, Nushat Peres: Meyomano shel Shutaf Sod (Modiin: Kinneret, Zmora-Bitan, Dvir, 2018), S. 146-8.]

Rabins Favorisieren der „Innenseite“ der Führung hatte eine Menge Sinn. Anders als die Mitglieder der Auslands-PLO (die „Aussenseite“), die den extremistischen Traum an eine Rückkehr in ihre Wohnungen von 1948 hochhielten und Israel zerstören wollten, liessen sich die Bewohner der West Bank und Gazas eher für friedliche Koexistenz gewinnen, die es ihnen erlauben würde, ihr Leben weiterzuleben und den erstaunlichen Wirtschaftsboom fortzusetzen, der unter israelischer Kontrolle eingesetzt hatte. So waren die West Bank und Gaza etwa in den 1970er Jahren die am viertstärksten wachsende Volkswirtschaft der Welt – noch vor „Wunderländern“ wie Singapur, Hong Kong und Südkorea, was die sozioökonomischen Bedingungen dort viel besser machte als in den meisten arabischen Nachbarländern.

Und während die PLO-Diaspora keinen direkten Kontakt zu Israelis hatte (oder zu irgendeinem anderen demokratischen System), hatte Israels jahrelange Herrschaft den Palästinensern im „Innern“ eine viel realistischere und weniger extreme Perspektive gegeben: daher rührte ihre Sichtweise, wonach Israel demokratischer sei als die grossen westlichen Länder [12. “Results of Public Opinion Poll No. 25,” Center for Policy Analysis on Palestine, Washington, D.C., 26-28.12.1996, S. 14.]; daher rührte ihre überwältigende Unterstützung für die Abschaffung jener Artikel in der PLO-Charta, die die Zerstörung Israels forderten und ihre Ablehnung von Terroranschlägen [13. “Palestinian Public Opinion. about the Peace Process, 1993-1999,” Center for Policy Analysis on Palestine, Washington, D.C., 1999; “New Beginning,” U.S. News & World Report, 13.9.1993.]; und daher rührte ihre Gleichgültigkeit gegenüber der dornigsten Angelegenheit des palästinensisch-israelischen Streits, die im Plan der PLO zur Zerstörung Israels eine so grosse Rolle spielt: dem „Recht auf Rückkehr“. Noch im März 1999, zwei Monate vor dem Ende der offiziellen Oslo-Deadline zum Abschluss der Regelungen des endgültigen Status, hielten mehr als 85 Prozent der Befragten in den Palästinensischen Autonomiegebieten die Flüchtlingsfrage nicht für das grösste Problem des palästinensischen Volkes. [14. “Public Opinion Poll No. 31 – Part I: On Palestinian Attitudes towards Politics,” Jerusalem Media and Communications Center, März 1999, S. 3.]

Rabins fehlendes Vertrauen in Oslo war auch ein Resultat seines Misstrauens gegen Peres, gegen den er seit Mitte der 1970er-Jahre eine tiefe persönliche Abneigung hegte, und gegen Beilin, den er abschätzig „Peres’ Pudel“ nannte. Laut Rabins damaligem aussenpolitischen Berater Jacques Neria genehmigte Rabin die Oslo-Gespräche als einen Trick, um Peres mit etwas beschäftigt zu halten, das er für eine Totgeburt hielt, während er mit Assad verhandelte. [15. Jacques Neria, lecture, BESA Center for Strategic Studies, Bar-Ilan University, Ramat Gan, Apr. 2017; vgl. auch: Yossi Beilin: Lagaat Bashalom (Tel Aviv: Yediot Ahronot, 1997), S. 153.] Sollte es tatsächlich so gewesen sein, dann hätte Rabin die Geschicklichkeit seines Erzfeindes auf katastrophale Weise unterschätzt. Zu dem Zeitpunkt, als er seine Blicke auf das Palästinenserthema richtete, hatten Peres und Beilin Oslo zum wichtigsten Verhandlungskanal gemacht und offenbar mit der PLO in Tunis kollaboriert, um die Washingtoner Gespräche zu torpedieren und die „Innenseite“ der PLO aussen vor zu lassen.

In letzter Minute versuchte Rabin am 7. Juni 1993, seinen Aussenminister an die Leine zu nehmen. Er wies Peres an, die Oslo-Gespräche bis auf weiteres zu stoppen und sandte seinen Vertrauten Efraim Sneh nach London, wo dieser versuchen sollte, ein besseres Abkommen mit der PLO zu erreichen. „In der derzeitigen Situation stellen die sogenannten ‚Oslo-Kontakte’ eine Gefahr für den Fortbestand der Friedensverhandlungen dar“, schrieb er an Peres:

„Sie geben den Tunis-Leuten eine Gelegenheit, die Washingtoner Gespräche zu umgehen und schwächen die gemässigten Elemente: die Mitglieder der palästinensischen Delegation aus der West Bank und Gaza. Die Tunis-Leute sind das extreme Element unter den Palästinensern, die am Friedensprozess interessiert sind; sie halten die moderateren Elemente davon ab, bei ihren Verhandlungen mit uns Fortschritte zu machen. … Die Tunis-Leute wollen jede Chance auf echte Verhandlungen in Washington torpedieren und uns zwingen, nur mit ihnen zu verhandeln, was die Friedensschritte und Verhandlungen mit Syrien, dem Libanon und Jordanien gefährden wird.“ [16. Gil, Nushat Peres., S. 129f.]

Noch am 2. August 1993 sagte Rabin Peres, dass er lieber den syrischen als den palästinensischen Weg beschreiten möchte. „Wir haben den Palästinensern viele Zugeständnisse gebracht, und es hat nichts gebracht“, sagte er. „Arafats Besuch in Gaza ist höchst problematisch.“ [17. ebd., S. 134f.] Erst zu diesem Zeitpunkt erfuhr er von US-Aussenminister Christopher von Assads Maximalforderungen, die Verhandlungen unmöglich machten. Als Snehs Versuche, Israels Verhandlungsposition zu verbessern (etwa, die Anerkennung der PLO an die Bedingung zu knüpfen, dass es sechs Monate lang keine Terroranschläge gibt), scheiterten, wurden die Oslo-Gespräche rasch wiederaufgenommen und gipfelten am 13. September in der Unterzeichnungszeremonie im Weissen Haus. Sneh schrieb in seinen Memoiren:

„Auf diese Weise gelang es den Palästinensern, die israelische Regierung über einen Kanal zu erreichen, der mehr Vertrauen hatte, weniger vorsichtig war, stärker darauf erpicht, ein Abkommen zu erzielen und besser in der Lage, Konzessionen zu machen.“ [18. Efraim Sneh, Nivut Beshetah Mesukan (Tel Aviv: Yediot Ahronot, 2002), S. 22-3.]

Warum Rabin entschied, seine kluge Herangehensweise gegenüber dem palästinensischen Problem zugunsten eines Abkommens aufzugeben, das er für eine „nationale Katastrophe“ hielt [19. Jacques Neria: „Rabin was a hawk – there would have been no agreement had he known Arafat’s true intentions,” YouTube, 8.1.2017.], das von Kollegen ausgehandelt worden war, denen er misstraute, und das ihn untrennbar an einen Partner band, den er aus tiefstem Herzen hasste, bleibt rätselhaft.

Er mag angenommen haben, dass unter den gegebenen Umständen Oslo der einzige Weg sei, sein 1992 gegebenes Wahlversprechen einzulösen, innerhalb von neun Monaten nach Amtsantritt eine Vereinbarung mit den Palästinensern zu erreichen. Vielleicht hatte er auch erkannt, dass er angesichts der grossen Unterstützung in seiner Partei für die Gespräche mit der Führung in Tunis und Peres’ grossem Einfluss auf die meisten Gremien der Arbeitspartei diese nicht dafür gewinnen konnte, der „Innenseite“ den Vorzug zu geben. Es wurde argumentiert, dass Rabin einen Aufstand der Partei und seine Abwahl riskiert hätte, hätte er sich Peres und seinen Anhängern bei der Frage, mit welchen Palästinensern verhandelt werden soll, entgegengestellt. [20. Adam Raz, “Hazitot Mitnagshot: Haanatomia ‘Hamuzara’ shel Hakhraat Oslo shel Rabin”, in: Israelim, Herbst 2012, S. 126-28.] Wie Beilin es ausdrückte, war die „Oslo-Geschichte die Geschichte eines Mannes, der gegen seinen Willen darin hineingezogen wurde. Er wollte die ganze Sache nicht; er hatte kein Interesse. Widerwillig gab er immer wieder seine Zustimmung, um seine Beziehung zu Peres nicht zu zerstören.“ [21. Gil, Nushat Peres, S. 115f.]

Vor allem anderen gründete Rabins Bereitschaft, Oslo zuzustimmen, in seiner Überzeugung, dass dieser Prozess rückgängig zu machen wäre. Kurz vor der Unterzeichnungszeremonie sagte er in einer Sitzung:

„Ein Abkommen mit den Palästinensern ist umkehrbar. Ein Abkommen mit Syrien ist unumkehrbar. Sollten die Palästinenser Ärger anzetteln, werden wir [in ihr Territorium] zurückkehren. Das ist unser Hinterhof. Geben wir jedoch die Golanhöhen an Syrien zurück, müssten wir einen ausgewachsenen Krieg führen [sollte Damaskus das Abkommen brechen].“ [22. Jacques Neria zitiert nach Israel Rosenblatt, “Moreshet Rabin – Zo Shelo Rotsim Shetakiru,” News1, 10.12.2016; vgl. auch Neria, Bein Rabin Le’Arafat: Yoman Medini 1993-1994 (Jerusalem: Jerusalem Center for Public Affairs, 2016), S. 29, 88.]

Wie bei seiner ursprünglichen Entscheidung, die Oslo-Gespräche zu autorisieren, unterlag Rabin auch hier einer katastrophalen Fehleinschätzung. Statt Israels Aussenpolitik nach seiner eigenen Vision zu lenken, wie er es in der Wahlnacht erklärt hatte, fand er sich selbst auf einem rutschigen Abhang wieder und schlitterte in einen Prozess hinein, den er lieber vermieden hätte. Er gab seinem Unbehagen immer wieder Ausdruck, ergriff aber keine Massnahmen, um das Abrutschen zu stoppen. Stattdessen erfand er die seltsamsten Ausreden, um sein Verhalten zu rechtfertigen, darunter die widersprüchliche These der Einhaltung durch Nichteinhaltung: Statt von den Palästinensern Vertragstreue zu verlangen oder gar Arafat öffentlich für die Nichteinhaltung des Abkommens zu rügen, solle Israel die Position Arafats durch Zurücknahme der eigenen Position stärken (etwa, indem es eine grosse Zahl inhaftierter Terroristen freilässt und ehemalige Bewohner der West Bank, die 1967 geflohen waren, zurückkehren lässt). Als Ende Oktober und Anfang November 1993 drei Israelis bei Terroranschlägen ermordet wurden, einer von ihnen von Arafats Fatah, erklärte Rabin, dass er die PLO-Führung nicht dafür verantwortlich mache, Terroranschläge palästinensischer „Oppositions“-Gruppen zu verhindern. Im folgenden Monat kündigte er an, die IDF werde Terroranschläge aus dem Gazastreifen und Jericho unterbinden, um dann angesichts palästinensischer Proteste einen Rückzieher zu machen. Einige Monate später ging er mit seinen Konzessionen noch beträchtlich weiter und sagte vor der Knesset, Terrorismus sei ein „natürliches Ergebnis“ der Osloer Verträge. Gleichermassen entschuldigte er den Aufruf der PLO an die arabischen Staaten, den Wirtschaftsboykott gegen Israel aufrechtzuerhalten, als einen „Verhandlungstrick“. [23. Haolam Ha’ze (Tel Aviv), 13.10. 1993; Al Hamishmar, 16.11. 1993; Jerusalem Post, 18.5.1994; Zeev Binyamin Begin, “Yasser Arafat’s Lackey,” Jerusalem Post, 28.10.1993; Zeev Binyamin Begin, “Revealing Mistakes,” Jerusalem Post, 26.12.1993; Zeev Binyamin Begin, Sipur Atsuv (Tel Aviv: Yediot Ahronot, 2000), S.77.]

Zwar verurteilte Rabin gelegentlich Arafat, die Palästinensische Autonomiebehörde und die PLO dafür, dass sie den Terrorismus nicht bekämpften und Vertragsverpflichtungen nicht einhielten, vor allem, was die Änderung der Palästinensischen Charta betrifft [24. Vgl. etwa Al Hamishmar, 11.8. und 1.9.1994; Jerusalem Post, 14.10.1994.]; doch diese Warnungen hatten keinen spürbaren Einfluss auf die palästinensische Führung, vor allem deshalb nicht, weil auf sie keinerlei bedeutende Sanktionen folgten. So ignorierte Arafat beispielsweise nicht nur Rabins Forderung, seine oben erwähnte Johannesburger Hetzrede zurückzunehmen, sondern wiederholte sie kurze Zeit später sogar. [25. Jerusalem Post, 1.6.1994] Als Arafat im August 1994 den vonseiten Farouq Qaddoumis, dem „ewigen Aussenminister“ der PLO, ergangenen Aufruf zur Zerstörung Israels nicht verurteilte, drohte Rabin, die ersten Vereinbarungen zur Machtübertragung an zivile palästinensische Behörden in der West Bank und im Gazastreifen nicht zu unterschreiben – nur um dann einen Rückzieher zu machen und sie doch zum vereinbarten Termin im selben Monat zu unterzeichnen. Auch die Interimsvereinbarung, die der Palästinensischen Autonomiebehörde zur Regierung über 95 Prozent der Bevölkerung der West Bank machte (die Kontrolle über Gaza wurde ihr im Frühjahr 1994 übertragen) wurde unterzeichnet, obgleich die PLO sich weigerte, ihre Charta zu ändern oder etwas gegen den Terrorismus zu unternehmen.

Am 20. Oktober 1994, eine Woche nachdem er Arafat auf die bislang schärfste Art gerügt hatte – nach einem Selbstmordanschlag, bei dem in einem Bus in Tel Aviv 21 Menschen ermordet worden waren –, erklärte Rabin, dass es ein Fehler wäre, die PA für den grassierenden Terrorismus verantwortlich zu machen. Bei einer Pressekonferenz mit Arafat am 19. Januar 1995 ging er noch weiter und sagte, dass er keine wasserdichten Garantien erwarte, was den Stopp der Anschläge aus von der PA kontrollierten Gebieten betreffe. [26. Ebd., 20.10. 1994; Haaretz, 20.1.1995]

Als drei Tage später beim Selbstmordanschlag von Beit Lid 19 Israelis ermordet wurden – und Arafat das Massaker öffentlich lobte – untersagte Rabin kurzzeitig die Einreise von Palästinensern aus den Gebieten nach Israel und warnte, „wir werden nicht vorwärts kommen, solange wir nicht sicher sein können, dass die persönlicher Sicherheit [von Israelis] gewährleistet ist.“[27. Haaretz, Jan. 24, 29, 1995; Maariv, Jan. 24, 27, 1995; The Jerusalem Post, Mar. 5, 1995. ]

Doch trotz all seiner Verzweiflung konnte er es nicht über sich bringen, mit Arafat zu brechen. Als der israelische Präsident Ezer Weizmann, selbst ein führender Befürworter israelisch-palästinensischer Versöhnung, nach dem Beit-Lid-Massaker dazu aufrief, den Oslo-Prozess zu stoppen, reagierte Rabin Berichten zufolge „wütend“, obwohl einige seiner Minister den Vorschlag unterstützten und sogar Uri Savir, der Chefunterhändler in Oslo, warnte: „Um den nächsten Schritt einen Erfolg werden zu lassen, brauchen wir einen grundlegenden Wandel.“ [28. Maariv, 191. 1995, 23.3. 1995; “Can Peace Survive?” Time, 6.2.1995]

Dies war nicht das erste Mal, dass Rabin die Idee, Arafats Macht einzuschränken, ablehnte. 1994 hatte er die Forderung der beiden wichtigsten Politiker der „Innenseite“, Faisal Husseini und Hanan Ashrawi, abgelehnt, mitzuhelfen, eine demokratische Herrschaft in den Gebieten zu errichten, die an die Stelle der korrupten und repressiven Herrschaft von Arafat und seinen Gefolgsleuten treten sollte. Die Idee lautete, Parlamentswahlen abzuhalten, in deren Zuge die stärkste Partei eine Regierung bilden solle. Das kam für Arafat natürlich überhaupt nicht in Frage; er bestand auf Präsidentschaftswahlen, bei denen sein Sieg von vornherein feststand. Rabin gehorchte und lehnte den Vorschlag ab. [29. Haaretz, 10.5.2002.]

Stattdessen hielt er sich weiter an Arafat, den er in einer seltsamen Verrenkung der Logik  sowohl für einen stillschweigenden Unterstützer des Terrorismus als auch für einen Friedensstifter hielt. Obwohl er zugab, dass Arafat keine ernsthaften Anstrengungen unternahm, den Terrorismus zu bekämpfen oder Gesetz und Ordnung in Gaza herzustellen, beharrte er trotzdem darauf, dass „es keinen anderen Partner gibt, der bereit ist, Frieden zu schliessen … Wir müssen uns an unsere Verpflichtungen halten, vorausgesetzt, Arafat dämmt den Terrorismus ein, der aus den Gebieten unter seiner Kontrolle kommt“. [30. Haaretz 17.4.1995]

Das Problem war, dass Arafat natürlich nicht versuchte, Frieden herzustellen oder den Terrorismus einzudämmen. Der Chef der Aufklärungsabteilung des Militärgeheimdienstes warnte, dass die PA jeglichen verbleibenden Anreiz verlieren würde, den Terrorismus zu bekämpfen, sobald sich die israelische Armee aus der West Bank zurückgezogen hätte. Diese Prognose wurde von einem hochrangigen Polizeioffizier aus Gaza gestützt, der enthüllte, dass die von der PA vorgenommenen Massenverhaftungen „eine grosse Show“ für das israelische und amerikanische Publikum waren und die meisten Verhafteten kurze Zeit später wieder auf freien Fuss gesetzt wurden. [31. Maariv Wochenmagazin, 134.1995; Maariv, 7.6.1995; Jerusalem Post, 14.4.1995.]

Selbst Generalleutnant Amnon Shahak, Chef des IDF-Generalstabs und Rabins Vertrauter, der für den Ministerpräsidenten heikle politische und diplomatische Missionen unternommen hatte, warnte den auswärtigen Ausschuss der Knesset am 23. August 1995: „Wenn die PA nicht entschieden gegen den palästinensischen Terrorismus vorgeht, wird alles scheitern, was wir derzeit unternehmen.“ Zwei Wochen später, als die Unterzeichnung des Interimabkommens zwischen Israel und der PA bevorstand, sagte der Chef der Aufklärungsabteilung des Militärgeheimdienstes, dass die PA ihre Anti-Terror-Massnahmen immer nur dann intensiviere, wenn sie israelische Vergeltung fürchte. „Arafat“, fügte er undiplomatisch hinzu, „bedeutet Frieden ein Scheiss“. [32. Maariv., 23.8. und 13.9.1995]

Bill Clinton Yitzhak Rabin Yasser Arafat at the White House 1993 09 13
Yitzhak Rabin, Bill Clinton und Arafat während der Osloer Abkommen am 13. September 1993. Foto PD

Die Meinungen seiner höchsten Berater in den Wind schlagend unterzeichnete Rabin am 28. September 1995 das Interimsabkommen. Als amerikanische Juden die Weisheit dieses Schritts in Frage stellten, tobte er gegenüber der israelischen Presse: „Man sollte mit ihnen nicht seine Zeit verschwenden. Sie sind Pariah-Juden. Die jüdische Geschichte wird über sie richten.“ [33. Jerusalem Post, 6.10.1995.] Dieser Wutausbruch zeigte aber wohl eher Rabins geheime Zweifel als seine unerschrockene Überzeugung. Bald darauf sagte er dem Friedensnobelpreisträger Elie Wiesel im Vertrauen: „Anfangs dachte ich, dass Arafat die Lösung wäre. Nun bin ich überzeugt, dass er das Problem ist.“ [34. Haaretz, 2.8. 2002.]

Rabins wirkliches „Friedenserbe“

In den Jahrzehnten, die auf Rabins Ermordung am 1. November 1995 folgten, wurde mit seinem Namen ein grosses „Friedenserbe“ assoziiert, in der öffentlichen Wahrnehmung wurde er vom „Mister Sicherheit“, als der er vor Oslo bekannt war, zu einem unermüdlichen „Peacenik“, der in seinem unablässigen Streben nach Verständigung keine Kosten und Mühen gescheut hatte. Wäre er nicht ermordet worden, so hört man immer wieder Leute sagen, hätte der Friedensprozess entscheidende Fortschritte gemacht. [35. Eitan Haber, Interview mit Channel 7 News (Isr.), 13.1.2009; “Derech Rabin – Pinat Hashalom (Interview mit Itamar Rabinovich),” Yediot Ahronot Wochenmagazin, 1.10.2015.]

Die Wirklichkeit sah anders aus. Rabin war nie ein Blumenkind, sondern ein gestählter Sicherheitsmann, der Frieden eher durch die Brille der Sicherheit sah als umgekehrt. Den Oslo-Prozess begrüsste er nicht aus einem brennenden Wunsch nach Frieden heraus, sondern er wurde von seinem Erzfeind hineinmanövriert und hoffte dann, dass der Prozess irgendwie helfen würde, Israels Sicherheit zu verbessern, obwohl er keine Idee hatte, wo er hinführen würde oder sollte. [36. Interview mit Beilin, Haaretz Wochenmagazin, 7.3.1997; vgl. auch sein interview mit Ofer Aderet, Haaretz, 23.10.2016.]

Wäre es nach Rabin gegangen, hätte er Oslo ganz vermieden, zugunsten einer israelisch-syrischen Vereinbarung oder eines Abkommens mit den PLO-Führern in der West Bank und in Gaza. Nicht nur, dass er den Prozess nicht im Entferntesten im Lichte des Idealismus sah, der ihm posthum fälschlich zugeschrieben wurde; je weiter er den Weg ging, desto grösser wurde seine Abneigung gegen den „Friedens“-Partner – und desto geringer seine Neigung zu Zugeständnissen. Wiederholt beteuerte er gegenüber Untergebenen und Vertrauten (darunter Henry Kissinger und Tel Avivs Bürgermeister und ehemaliger Waffenkamerad Shlomo Lahat sowie der Chef des Militärgeheimdienstes, Moshe Yaalon), dass er die Osloer Abkommen nie unterzeichnet hätte, hätte er Arafats wahre Absichten gekannt und sprach von seiner Absicht, den Prozess nach den Wahlen von 1996 zu überprüfen, wenn nicht gar aufzugeben. [37. “Dalia Rabin: My Father Might Have Stopped Oslo,” Independent Media Review Analysis (IMRA), 13.10.2010; Raz, “Hazitot Mitnagshot.”]

Es ist zweifelhaft, ob Rabin dies wirklich getan hätte, wenn er überhaupt wiedergewählt worden wäre, was unwahrscheinlich schien (zum Zeitpunkt seiner Ermordung lag er in den meisten Umfragen hinter Netanjahu zurück, in einigen mit bis zu 13 Prozentpunkten). [38. Vgl. etwa Jewish Telegraphic Agency (JTA), 25.3.1995; Anshel Pfeffer, “Would It All Be Different If Yitzhak Rabin Had Lived?” Haaretz, 27.10.2015] Selbst für Netanjahu erwies sich das als unmöglich. Es ist jedoch klar, dass Rabins Idee des finalen Status, wie er sie am 5. Oktober 1995 in Umrissen vor der Knesset darlegte, viel restriktiver war als die seiner Nachfolger, Netanjahu inbegriffen.

Die Zwei-Staaten-Lösung lehnte er völlig ab und sprach stattdessen von einer „Entität, die weniger ist als ein Staat, und autonom die unter ihrer Kontrolle lebenden Palästinenser regiert“, innerhalb engerer Grenzen als den Linien von vor Juni 1967. Das Jordantal „im weitesten Sinne des Wortes“ sollte Israels Sicherheitsgrenze darstellen, und ein vereintes Jerusalem „zu dem Maale Adumin und Givat Zeev gehören“, sollte unter Israels Souveränität bleiben. [39. 376. Sitzung der 13. Knesset 5.10.1995.]

Conclusio

Es ist eine Ironie der Geschichte, dass es Benjamin Netajahu – von Anfang an ein vehementer Gegner des Oslo-Prozesses – war, der öffentlich Israels Unterstützung für die Gründung eines palästinensischen Staates erklärte, sowohl in seiner Bar-Ilan-Rede im Juni 2009 als auch in seiner Rede vor dem US-Kongress im Mai 2011. [40. “Address by PM Netanyahu at Bar-Ilan University,” Israelisches Außenministerium, Jerusalem, 14.6.2009; “Speech by PM Netanyahu to a Joint Meeting of the U.S. Congress,” Israelisches Außenministerium 24.5.2011.] Damit ging er nicht nur weiter als Rabin, sondern auch über die von Peres favorisierte Version von Frieden hinaus. Denn anders als viele meinen, war für Peres die Gründung eines palästinensischen Staates keine automatische oder sogar wünschenswerte Folge des Oslo-Prozesses. Stattdessen hielt er sich an das von der Arbeitspartei ersonnene Konzept einer jordanisch-palästinensischen Konföderation, das er versuchte, Rabin, Arafat, König Hussein, Präsident Bill Clinton, Ägyptens Hosni Mubarak und dem marokkanischen König Hassan II. schmackhaft zu machen, um nur einige zu nennen. [41. Gil, Nushat Peres, S. 186-94.]

Es war also Beilin, der seine beiden Vorgesetzten geschickt auf einen Pfad brachte, den zu beschreiten sie nicht vorgehabt hatten – und das, obwohl Beilin von der mangelnden Vertrauenswürdigkeit des „Friedens“-Partners wusste. Einmal sagte er:

„Ich habe mir nie Illusionen über Arafat gemacht. Ich habe ihn nie für einen wichtigen Führer der Welt gehalten. Ich denke, er hat zahlreiche Dummheiten gemacht. Er hätte vor Jahren viel für sein Volk erreichen können, und seine Biografie enthält fast jeden möglichen Fehler. … Doch da ich nur Arafat habe, muss ich trotz all der Dummheiten, die er sagt, mit ihm verhandeln.“ [42. Maariv Wochenmagazin, 15.9.1995; siehe auch Interview mit, Al Hamishmar, 19.5.1994.]

Der Oslo-Prozess ist somit der einzige Fall in der Geschichte der Diplomatie, bei dem eine Partei eines Friedensvertrags von vornherein nichts dagegen hatte, dass die andere ihn bricht. Natürlich gab es viele Fälle, in denen eine oder beide der Parteien böswillig handelten. Das Münchener Abkommen von September 1938 ist ein Paradebeispiel, von Hitler als ein trojanisches Pferd zur Zerstörung der Tschechoslowakei konzipiert, eine Strategie, die Arafat 55 Jahre später im Oslo-Prozess nachahmte. Doch während die kleine Tschechoslowakei angesichts ihrer militärischen Unterlegenheit und des Verrats der internationalen Gemeinschaft wenig dagegen unternehmen konnte, war es in Oslo die stärkere Partei, die es der viel schwächeren erlaubte, das Abkommen ungestraft zu brechen – mit verheerenden Folgen, die beide Seiten noch jahrzehntelang heimsuchen sollten.

Efraim Karsh ist Redakteur des Middle East Quarterly und Direktor des Begin-Sadat Center for Strategic Studies an der Bar-Ilan-Universität und emeritierter Professor King’s College London. Auf Englisch zuerst erschienen bei The Middle East Forum