Der israelische Verteidigungsminister Avigdor Lieberman scheint sich der Argumentation anzuschliessen, mit humanitären Gesten könne man sich ein Stillhalten der Hamas erkaufen. Die in ihrem Werben für humanitäre Gesten von UN-Organisationen vorgelegten Nachweise belegen ironischerweise eher, dass es eigentlich keinen Zusammenhang zwischen solchen Gesten und einem Abbau der Gewalt seitens der Hamas gibt.
von Prof. Hillel Frisch
Politiker, Kommentatoren, Diplomaten, Bürger, internationale Foren, die Knesset, EU-Institutionen und – vor allem – die wichtigsten Medien Israels diskutieren endlos über die vermeintliche humanitäre Notlage im Gazastreifen und die vermeintlichen Vorteile humanitärer Gesten zu deren Linderung.
Selbst der sonst so kompromisslose israelische Verteidigungsminister Avigdor Lieberman scheint das zu glauben. Der Grenzübergang Kerem Shalom soll wieder geöffnet werden, nachdem er als Reaktion auf den Abschuss von fast 200 Raketen durch die Hamas innerhalb von nur zwei Tagen geschlossen worden war. Die Fischfangrechte für Fischer aus dem Gazastreifen werden auf 12 Kilometer ausgedehnt, in der Hoffnung, dass die Hamas den Raketenbeschuss dann einstellt. Die Hamas kann weiterhin Brandballons losschicken und jeden Freitag israelische Soldaten am Sicherheitszaun mit Gewalt herausfordern. Natürlich erklärte der Hamasführer Yahya Sinwar gegenüber den Ägyptern, die diese Vereinbarung ausgehandelt haben, die Hamas könne auf diese Arten des „Widerstands“ unmöglich verzichten.
Die Hoffnung, sich mit humanitären Gesten von der Hamas freikaufen zu können, ist jedoch vergeblich.
Es liegen überwältigende Nachweise vor, dass humanitäre Gesten die von der Hamas orchestrierte Gewalt mitnichten verringern. Ironischerweise finden sich die besten Belege für die Sinnlosigkeit des humanitären Arguments in Zahlen und Grafiken, die von UN-Organisationen und anderen pro-palästinensischen Foren zusammengestellt wurden, welche sich unermüdlich für eben jenes Argument einsetzen.
Es ist eine einfache Rechenaufgabe. Wenn humanitäre Gesten in den vergangenen 11 Jahren tatsächlich zu einer Verminderung der Gewalt geführt hätten, müsste es einen deutlichen Zusammenhang geben zwischen 1) einer grossen Anzahl an LKW voller landwirtschaftlicher Erzeugnisse in den Gazastreifen hinein, 2) einer grossen Anzahl an LKW voller Exporte aus dem Gazastreifen heraus und 3) einer grossen Anzahl an Bewohnern des Gazastreifens, die geschäftlich und zur Gesundheitsversorgung nach Israel und weiter hinaus reisen, einerseits und einer geringen Anzahl von Raketenstarts andererseits. (Raketenstarts stellen die bei weitem wichtigste Kennzahl der Gewalt durch die Hamas dar. Die tödliche und zerstörerische Wirkung von Raketen lässt die Auswirkungen der relativ seltenen Versuche der Hamas, durch Tunnel nach Israel einzudringen sowie die wenigen auf israelische Soldaten abgegebenen Schüsse verblassen.)
Lassen Sie uns mit einer langfristigen Analyse des Zusammenhangs zwischen humanitären Gesten und Gewalt beginnen. Folgt man dem humanitären Argument, müsste es beispielsweise in den ein oder zwei Monaten unmittelbar vor solchen Attacken weniger LKW in den Gazastreifen hinein geben.
Sehen Sie sich die beiden folgenden Grafiken gut an. Die erste zeigt die monatliche Anzahl der in den Gazastreifen einfahrenden LKW , die zweite die Anzahl der Raketenstarts. Es gibt keine Korrelation zwischen diesen beiden. Tatsächlich hat sich die Anzahl der LKW 2010 sogar drastisch erhöht, nachdem Israel angekündigt hatte, die Beschränkungen für eingehende Erzeugnisse erheblich zu lockern (und dieses Versprechen auch einhielt). Die Anzahl an LKW blieb bis November 2012 konstant.
Träfe das Argument zu, dass sich mit humanitären Gesten Ruhe erkaufen lässt, hätte die Anzahl an Raketen 2010 zurückgehen und im Verlauf des Jahres 2012 konstant niedrig bleiben müssen. Das Verhältnis schien 2010 gleich zu bleiben, kehrte sich aber rasch ins Negative um, als die gleiche Anzahl von LKW mit einer immens gestiegenen Zahl von Raketenstarts einherging. Dies führte im Jahr 2012 zur Operation „Pillar of Defense“.
Die Ergebnisse zwischen der Aktion „Pillar of Defense“ und der Operation „Protective Edge“ sind noch aussagekräftiger. Die Anzahl an LKW stieg. Wieder einmal hätte dann laut dem humanitären Argument die Zahl der Raketenstarts sinken müssen – wie man jedoch deutlich erkennen kann, stiegen diese im ersten Halbjahr 2014 erheblich an und führten zum bisher tödlichsten und längsten Ausbruch des Konflikts. Die Hamas scheint sich nicht im mindesten von humanitären Gesten beeindrucken zu lassen.
Und die Ereignisse der vergangenen vier Jahre stützen die Annahme ebenfalls nicht. Es stimmt zwar, dass in diesem Zeitraum die Anzahl an Raketen grösstenteils niedrig blieb, während die Anzahl der LKW stieg. Wie lässt sich aber erklären, dass 2015, zu Beginn dieses Zeitraums, so wenig Raketenstarts stattfanden, obwohl sich die Anzahl der LKW gegenüber dem vorangegangenen Jahr verringert hatte?
Und das Argument greift noch weniger, wenn man sieht, dass die Hamas, als die Zahl der einfahrenden LKW in den ersten Monaten 2018 am höchsten war, entschied, die Gewalt zu eskalieren, indem sie 1) Ende März den „Marsch der Rückkehr“ in Gang setzte, was jeden Freitag zu gewalttätigen Ausschreitungen am Sicherheitszaun führte, 2) vermehrt Schusswaffenangriffe durchführte und 3) im April gewaltige Wellen von Raketenangriffen startete. Wie kann das sein? Wie Tabelle 3 zeigt, fuhren in diesen Monaten mehr LKW in den Gazastreifen, als in den relativ ruhigen Jahren 2015 und 2016.
Die Erlaubnis von Ausreisen von Bewohnern des Gazastreifens über den Grenzübergang Erez weist ebenfalls keinen Zusammenhang zwischen humanitären Gesten und der Wahrung von Ruhe auf. Die Anzahl der Bewohner des Gazastreifens, denen man das Passieren des Grenzübergangs Erez erlaubte, hatte gerade dann einen Höhepunkt erreicht, als die Hamas beschloss, Ende März die Gegend mit dem „Marsch der Rückkehr“ aufzumischen. Und die Hamas führte mit dem Abschuss von Raketen eine weitere Eskalation herbei, während Israel die Anzahl der Ausreisen über Erez erhöhte (siehe Tabelle 4).
Ebenso wenig gilt das Argument für den Export von Waren. Obwohl es einen geringfügigen Rückgang in der Anzahl an LKW gab, die im März 2018 aus Gaza herausfuhren, war die Anzahl doch erheblich grösser als in den „friedlichen“ vier letzten Monaten des Jahres 2017.
Die Moral der Geschichte ist, dass Gewalt von politischen Akteuren aus politischen und geostrategischen Gründen erzeugt wird, nicht aus humanitären oder wirtschaftlichen Gründen.
Die Hamas hatte erstens darauf spekuliert, dass Israel viele seiner „Iron Dome“-Raketenabwehrsysteme nach Norden verlagert hatte, wodurch der Süden des Landes angreifbarer wurde und zweitens, dass Israel von einer heftigen Reaktion abgehalten werden würde, um den Fokus auf den Iran – und insbesondere auf das Ölembargo, das die USA im November über das Land verhängen wollen – aufrechtzuerhalten.
Es war ein schlauer Schachzug. Die Hamas erreichte damit die Wiederherstellung des Status Quo, der vor dem Marsch der Rückkehr und der Erduldung der Gewalt der Hamas durch Israel im März bestanden hatte – einer Gewalt, die vorrangig ein Abkommen über Gefangene sichern soll, durch das Hunderte Palästinenser im Austausch gegen die Freilassung zweier israelischer Bürger und die Übergabe der sterblichen Überreste zweier weiterer Israelis freikommen werden.
Wird kein Fortschritt im Hinblick auf eine Freilassung von Gefangenen zu den Bedingungen der Hamas erzielt, wird die Gewalt vermutlich weitergehen, ganz gleich, wie sehr sich der wirtschaftliche Wohlstand der Einwohner von Gaza verbessert.
Prof. Hillel Frisch ist Professor für politische Studien und Nahost-Studien an der Bar-Ilan-Universität sowie leitender wissenschaftlicher Mitarbeiter am Begin-Sadat Center for Strategic Studies.