Ehemaliger britischer Oberrabbiner Lord Sacks: Jeremy Corbyn ist ein gefährlicher Antisemit

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Der ehemalige britische Oberrabbiner Lord Sacks. Foto United Synagogue via JTA
Der ehemalige britische Oberrabbiner Lord Sacks. Foto United Synagogue via JTA
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Vorsitzender der Labour-Partei „unterstützt Rassisten, Terroristen und Verbreiter von Hass, deren Ziel es ist, Juden zu töten und Israel von der Landkarte zu tilgen“, sagt Sacks und warnt: „Andere werden seinem Beispiel folgen“

 

In einem am Dienstag veröffentlichten Interview bezeichnete der ehemalige Oberrabbiner Grossbritanniens, Lord Jonathan Sacks, den Vorsitzenden der Labour Partei als einen gefährlichen Antisemiten.

In seiner vernichtenden Kritik an dem Oppositionsführer warf Sacks Corbyn vor, er unterstütze „Rassisten, Terroristen und Verbreiter von Hass, deren Ziel es ist, Juden zu töten und Israel von der Landkarte zu tilgen“. Der Vorsitzende der Labour-Partei, so Sacks, bediene sich „der Sprache des klassischen europäischen Vorkriegs-Antisemitismus“.

Corbyn war zunehmend wegen seiner eigenen vermeintlich antisemitischen Haltung angegriffen worden und dafür, dass es ihm nicht gelungen ist, Antisemitismus in der Labour-Partei, der grössten Oppositionspartei Grossbritanniens, auszumerzen.

Grund für Sacks‘ Anklage waren Corbyns Bemerkungen anlässlich einer Rede im Jahr 2013 vor dem Palestinian Return Center in London, in der Corbyn sich folgendermassen über eine Gruppe britischer „Zionisten“ äusserte: „Sie haben eindeutig zwei Probleme. Erstens, sie wollen die Geschichte nicht näher erforschen und zweitens, obwohl sie schon sehr lange in diesem Land leben, vermutlich schon ihr ganzes Leben, verstehen sie noch immer keine englische Ironie.“

In einem Interview mit dem Magazin New Statesman sagte Sacks, der von 1991 bis 2013 die Position des Oberrabbiners innehatte, diese Äusserungen seien die beleidigendsten aus dem Munde eines führenden britischen Politikers in den vergangenen 50 Jahren.

„Die jüngst ans Licht gebrachten Äusserungen Corbyns sind die grösste Beleidigung seitens eines führenden britischen Politikers seit der ‚Ströme von Blut‘-Rede von Enoch Powell im Jahr 1968“, erklärte Sacks. „Sie waren polarisierend, voller Hass und unterminieren ebenso wie Powells Rede die Existenz einer gesamten Gruppe britischer Bürger, indem diese als grundlegend fremd dargestellt werden.“

„Wir können Jeremy Corbyn einzig aufgrund seiner Worte und Taten beurteilen“, so Sacks weiter. „Er unterstützte Rassisten, Terroristen und Verbreiter von Hass, deren Ziel es ist, Juden zu töten und Israel von der Landkarte zu tilgen.“

Indem er Corbyns Bemerkung über „Zionisten“ als einen kaum verhüllten Verweis auf Juden deutete, stellte Sacks fest: „Wenn er impliziert, dass Juden, gleichgültig, wie lange sie schon hier leben, nicht voll und ganz britisch sind, dann bedient er sich der Sprache des klassischen europäischen Vorkriegs-Antisemitismus. Konfrontiert man ihn mit solchen Fakten, für die der Beweis vor unseren Augen liegt, ist seine erste Reaktion zu leugnen, dann weicht er aus und letztlich verschleiert er es. Dies ist primitiv, verlogen und gefährlich.“

Rabbi Sacks warnte: „Er hat die öffentliche Bekundung von Hass legitimiert und andere werden seinem Beispiel folgen.

„Heute, wo die Erinnerung an den Holocaust immer noch lebendig ist, und wo Juden in ganz Europa ermordet werden, weil sie Juden sind, ist ein Antisemit Vorsitzender der Labour-Partei und der Führer der Opposition Ihrer Majestät. Dies ist der Grund, warum Juden sich von Herrn Corbyn und seinen Unterstützern so bedroht fühlen.“

„Seit mehr als dreieinhalb Jahrhunderten leisten die Juden Grossbritanniens in sämtlichen Aspekten des nationalen Lebens ihren Beitrag“, ergänzte Sacks. „Wir kennen uns besser in unserer Geschichte aus als Herr Corbyn und wir haben gelernt, dass der Hass, der mit den Juden beginnt, nie mit den Juden endet. Herrn Corbyns Zuwendung zum Hass beschmutzt unsere Politik und würdigt das Land herab, das wir lieben.“

Corbyns Äusserungen von 2013, die letzte Woche wieder ans Tageslicht kamen, lösten eine neue Welle der Kritik an Corbyn aus. Dabei kam die Kritik auch von Seiten einiger seiner Genossen aus der Labour-Partei im Parlament. Letzte Woche behauptete Corbyn, er habe das Wort Zionist „im korrekten politischen Sinn [verwendet] und nicht als Euphemismus für jüdische Menschen.“

Sacks äusserte sich wenige Tage, nachdem eine britische NGO gegen Antisemitismus eine Unterschriftenaktion gestartet hatte, die den Rücktritt Corbyns fordert.

Die 2014 gegründete Campaign Against Antisemitism (CAA) forderte beharrlich: „Jeremy Corbyn muss gehen“. Mit der Bemerkung, dass „nur 52 Mitglieder der Labour-Partei [erforderlich sind], um einen Herausforderer vorzuschlagen oder die Mitglieder der Labour-Partei ein Misstrauensvotum stellen oder ihre eigene Partei gründen könnten“, forderte sie die Labour-Abgeordneten zum Handeln auf. „Wir rufen die Fraktion der Labour-Partei dazu auf, tätig zu werden.“

Die Petition, bei der schnell Tausende Unterschriften zustande kamen, wurde am Samstag auf der Internetseite von change.org geposted. Am gleichen Tag reichte eine Initiative der Labour-Partei gegen Antisemitismus offizielle Beschwerde gegen Corbyn wegen dessen „Zionisten“-Rede aus dem Jahr 2013 ein.

Die Unterschriftenaktion der CAA richtete sich gegen „ans Tageslicht gelangte Vorfälle aus Jeremy Corbyns beunruhigender Vergangenheit“.

In den Vorwürfen heisst es, damals „konnte er [Corbyn] seine Meinung ohne Furcht vor näheren Untersuchungen äussern; er gab Israel die Schuld an islamistischen Terroranschlägen; er verteidigte eine empörende antisemitische Wandmalerei; er würdigte einen aus Grossbritannien ausgewiesenen Scheich für dessen Aussage, dass die Juden das Blut von Nicht-Juden trinken; er bezeichnete einen Hamas-Terroristen, dessen Lebenswerk der Ermordung von Juden gewidmet war, als seinen „Bruder“; er hielt eine widerwärtige Veranstaltung am Holocaust-Gedenktag ab, bei welcher Juden vorgeworfen wurde, sie seien die Nachfolger der Nazis; er versuchte, das Wort „Holocaust“ aus der Bezeichnung des Holocaust-Gedenktags entfernen zu lassen; er legte bei einer Gedenkveranstaltung für die Terroristen der Terrororganisation Schwarzer September – die hinter dem Attentat von München standen – einen Kranz nieder und aktuell hören wir euphemistische Bemerkungen von ihm, in denen er Juden darstellt als unbritisch und fremd gegenüber den Sitten und Gebräuchen unseres Landes“.

Zwanzig Stunden nachdem die Petition online gegangen war, waren bereits 5.581 Unterschriften zusammengekommen.

In der Unterschriftenaktion hiess es weiter, dass Corbyn „über viele Jahre hinweg … versucht [habe] Antisemiten zu verteidigen, zu würdigen, zu unterstützen und zu fördern und in diesem Kontext zeigt sich, dass seine Handlungen im Einklang mit denen eines ideologischen Antisemiten stehen. Wir hatten gehofft, dass die Labour-Partei irgendwann zur Verteidigung der britischen Juden aufstehen würde, indem sie Jeremy Corbyn seines Amtes enthebt oder seinen Rücktritt verlangt, aber die Institutionen der sich einst stolz als antirassistisch bezeichnenden Labour-Partei sind heute korrumpiert und werden nicht tätig werden.“

Am Samstagvormittag gab die internationale Initiative der Labour-Partei gegen Antisemitismus, Labour Against Antisemitism, bekannt, sie habe bei der Partei eine offizielle Beschwerde gegen Corbyn eingereicht, wegen „Antisemitismus und weil er die Partei in Misskredit bringt“.

Am Freitag hatte die Times of London einen Leitartikel veröffentlicht, in dem Corbyn als „eindeutig antisemitisch“ bezeichnet wurde und man folgerte, dass seine Äusserungen ihn „nicht wählbar machen [sollten] als Mitglied, geschweige denn als Vorsitzenden einer demokratischen Partei oder in ein öffentliches Amt.“

Bei der von der Hamas unterstützten Konferenz im Jahr 2013 waren diverse umstrittene Redner dabei, darunter einer, der sich dafür einsetzte, dass der Holocaust-Gedenktag boykottiert werden solle und ein weiterer, der Israel die Schuld an den Attentaten vom 11. September 2001 in New York zuschob.

Eine Reihe von Parteimitgliedern der Labour-Partei sowie jüdische Persönlichkeiten reagierten auf das Wiederauftauchen von Corbyns Rede von 2013, darunter der Herausgeber des Jewish Chronicle, der sagte: „Es ist nahezu unmöglich, darin etwas anderes zu lesen als einen Bezug auf die Juden.“

Corbyn verteidigte seine Äusserungen jedoch, indem er darauf bestand, dass seine Erwähnung von „Zionisten“ kein Euphemismus für das jüdische Volk gewesen sei.

In einer am Freitag von der Tageszeitung The Guardian zitierten Stellungnahme sagte Corbyn, er sei „vorsichtiger [geworden] was die Verwendung des Begriffs ‚Zionist‘ angeht, denn ein ehemals selbsterklärender politischer Begriff wird von Antisemiten zunehmend als Code für Juden vereinnahmt.“

Der Vorfall ist nur der jüngste in einer Reihe von Enthüllungen, die detaillierten Einblick in Corbyns Antipathie gegenüber dem jüdischen Staat geben und die grösser werdende Kluft zwischen der britischen Linken und der jüdischen Gemeinde des Landes betonen.

Die Vorwürfe, es gebe antijüdische Vorurteile innerhalb der Labour-Partei, haben zugenommen seit Corbyn, ein langjähriger Kritiker Israels, 2015 zum Parteivorsitzenden gewählt wurde. Jüdische Vereinigungen im Vereinigten Königreich werfen ihm vor, er habe versagt, als es darum ging, Parteimitglieder auszuschliessen, die öffentlich antisemitische Ansichten äussern.

Der Disput kochte vor Kurzem über, nachdem die Partei im letzten Monat vorgeschlagen hatte, eine Antisemitismus-Definition festzulegen, welche sich von der der Internationalen Allianz für Holocaust-Gedenken (IHRA) unterscheidet – ein Schritt, der bei den jüdischen Gruppen und dem Oberrabbiner des Landes grossen Ärger hervorrief.

In den vergangenen Monaten tauchten Fotos und Videos von Corbyn und anderen offiziellen Labour-Vertretern auf, die sie bei antisemitischen und bösartigen antiisraelischen Äusserungen zeigen.

Vor zwei Wochen kam Filmmaterial zum Vorschein, auf dem Corbyn Israel beschuldigt, bei einer Kundgebung im Jahr 2014 Völkermord an Palästinensern begangen zu haben – währenddessen weht eine Fahne der Hamas im Hintergrund. Vor seiner Wahl zum Vorsitzenden der Labour-Partei vor zwei Jahren bezeichnete Corbyn die Terrororganisation als „Freunde“, eine Aussage, von der er seither zurückrudert.

Auf einem der kürzlich aufgetauchten Fotos ist Corbyn als Gastgeber eines Gremiums zu sehen, bei dem er 2012 ranghohe Hamas-Vertreter begrüsst, darunter auch Mitglieder, die verurteilt wurden, weil sie Israelis bei Terroranschlägen ermordet hatten.

Anfang August hatte die Daily Mail Fotos von Corbyn veröffentlicht, die ihn 2014 bei der Niederlegung eines Kranzes am Grabe der palästinensischen Terroristen zeigen, die 1972 bei den Olympischen Spielen in München elf israelische Athleten ermordet hatten.

Jeremy Corbyn (dritter von links) während der Kranzniederlegung in Tunesien im Oktober 2014. Foto Facebook-Seite der palästinensischen Botschaft in Tunesien.

Anfänglich behauptete Corbyn, er habe an der Zeremonie auf dem Friedhof der Märtyrer von Palästina in Tunesien teilgenommen, um der 47 Palästinenser zu gedenken, die dort bei einem israelischen Bombenangriff im Jahr 1985 umgekommen waren. Von der Zeitschrift wiederhergestellte Fotos aus einem palästinensischen Botschaftsarchiv zeigten Corbyn jedoch, wie er einen Kranz vor einer Gedenktafel für Angehörige der Terrorgruppe Schwarzer September in Händen hält.

„Tatsächlich wurde von einigen, die an der Konferenz teilnahmen, ein Kranz für einige der 1992 in Paris getöteten Personen niedergelegt“, räumte Corbyn später ein und fügte hinzu, auch wenn er bei der Zeremonie anwesend gewesen sei, glaube er nicht „dass ich tatsächlich darin involviert war“.

Vergangene Woche äusserte sich der Herausgeber der Times of Israel, David Horovitz, detailliert zu Corbyns Jahren als Aktivist im Rahmen einer Labour-Bewegung, die sich zum Ziel gesetzt hatte, den „Zionismus auszurotten“ und Israel durch einen säkularen palästinensischen Staat zu ersetzen und bezeichnete Corbyn als „einen Antisemiten und Rassisten“. Horovitz schrieb, wenn die Labour-Partei den Antisemitismus ausmerzen wolle, müsse sie Corbyn hinauswerfen.

Ich seiner Rede von 2013 sprach Corbyn über die Bedeutung der Geschichte und wie wichtig es für die Menschen sei, die Ursprünge des Konflikts zwischen den Israelis und den Palästinensern zu verstehen.

Dann rühmte er eine Rede von Manuel Hassassian, die er kurz zuvor bei einem Treffen im Parlament gehört hatte und in welcher der palästinensische Botschafter in Grossbritannien eine „unglaublich kraftvolle“ Darstellung der Geschichte Palästinas abgegeben hatte.

Anschliessend fügte Corbyn hinzu: „Dies wurde von den – dankenswerterweise leisen – Zionisten, die sich bei dieser Gelegenheit im Publikum befanden, pflichtschuldig aufgenommen. Anschliessend traten sie an ihn heran und beschimpften ihn für das, was er gesagt hatte.

„Sie haben eindeutig zwei Probleme. Erstens, sie wollen die Geschichte nicht näher erforschen und zweitens, obwohl sie schon sehr lange in diesem Land leben, vermutlich schon ihr ganzes Leben, verstehen sie noch immer keine englische Ironie. Manuel versteht englische Ironie und er macht sehr effektiven Nutzen davon. Daher denke ich, sie brauchten zwei Lektionen und vielleicht können wir ihnen dabei helfen.“

In einer am Freitag veröffentlichten Stellungnahme sagte Corbyn: „Ich habe den palästinensischen Botschafter angesichts von etwas verteidigt, was ich für absichtliche Fehlinterpretationen von Menschen hielt, für die Englisch Muttersprache ist, während sie das für den Botschafter nicht ist.“

Auf Englisch zuerst erschienen bei The Times of Israel.